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Der Wegfall der Beobachtung verfas­sungs­wid­riger Bestre­bungen, der Spiona­ge­ab­wehr sowie der Mitwirkung bei Sicher­heits­über­prü­fungen ist möglich.

06. Dezember 1991

Till Müller – Heidelberg

aus: Weg mit dem „Verfassungsschutz“ – der (un)heimlichen Staatsgewalt. Enzyklika für Bürgerfreiheit, HU-Schriften 17, München 1991, Seite 10 – 14

  1. Hauptaufgabe des „Verfassungsschutzes“ ist nach den insoweit einheitlichen Gesetzen des Bundes und der Länder

    „die Sammlung und Auswertung von Informationen, insbesondere von sach- und personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen über
    1.Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand und die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziele haben „, § 3 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG.

    a) Wozu muß eine staatliche Behörde derartige verfassungswidrige Bestrebungen beobachten und überwachen und Nachrichten über sie sammeln? Das Denken, Meinen und Sagen welchen Inhalts auch immer gehört in einer freiheitlich demokratischen Verfassung zum guten Recht eines jeden Bürgers und auch jeder Gruppierung. Der Staat hat hier weder etwas zu beobachten noch zu registrieren oder kontrollieren. Die Meinungsfreiheit ist das Lebenselexier der Demokratie. Man darf auch die Meinung vertreten, das Grundgesetz sollte ab-geschafft werden. Die geistige Auseinandersetzung auch über derartig radikale Thesen gehört zum Grundbestand unserer Verfassung und schadet niemandem, zu allerletzt der Verfassung oder dem Staat. Es ist schlicht überflüssig, Gruppierungen, die derartiges in Hinterzimmern diskutieren, mit nachrichtendienstlichen Mitteln zu beobachten, die Sammlungen auszuwerten und in Verfassungsschutzberichten mit der Wirkung von Verrufserklärungen zu veröffentlichen.

    b)
    Geht eine Gruppierung mit möglicherweise gegen die Verfassung gerichteten Vorstellungen in die Öffentlichkeit, um Anhänger zu gewinnen, um Meinungsmacht zu erringen – so braucht man ebenfalls keinen im Geheimen mit nachrichtendienstlichen Mitteln operierenden Verfassungsschutz. Jeder sieht und hört ja die vertretenen Auffassungen, die Bürger, die Medien, die Politiker. Eine Beobachtung durch einen nachrichtendienstlichen Spitzeldienst ist nicht erforderlich, zumal der Verfassungsschutz 80% bis 90% seiner sogenannten Erkenntnisse aus offenen Quellen gewinnt. Im übrigen dürfte und könnte ein Verfassungsschutz derartiges auch nicht verhindern, es ist nicht seine Aufgabe. Der öffentliche Meinungskampf braucht weder vom Verfassungsschutz beobachtet zu werden noch darf er es. Sollte diese Gruppierung im öffentlichen Meinungskampf zur Mehrheit werden, so ist dies zum einen nach den Grundsätzen der Demokratie hinzunehmen, zum zweiten von keiner Behörde zu verhindern, sondern nur von den demokratisch bewußten und engagierten Bürgern, die eine solche Mehrheit nicht zustandekommen lassen. Es wäre abenteuerlich zu glauben, eine Verfassungsschutzbehörde könnte politische Entwicklungen verhindern. Selbst etwa auf Berichte des Verfassungsschutzes gestützte Verbotsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nach Artikel 21 Abs. 2 Grundgesetz sind nicht in der Lage, unsere freiheitliche demokratische Grundordnung zu schützen; nach dem Verbot der KPD und der SRP durch das Bundesverfassungsgericht haben sich sofort Nachfolgeorganisationen gebildet.
    DKP und NPD sind nicht vom Verfassungsschutz zur Bedeutungslosigkeit reduziert worden, sondern durch demokratische Wahlentscheidungen der Bürge-rinnen und Bürger; und dasselbe scheint sich mittlerweile auch bereits bei den Republikanern anzudeuten.

    c) Wird eine solche radikale oder extremistische Gruppierung schließlich zur verfassungswidrigen Bestrebung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, d.h. wenn sie Gewalt anwendet und aktiv kämpferisch tätig wird, so begibt sie sich in den Bereich des Strafrechts hinein und ist folglich Objekt der Strafverfolgungsbehörden.
    Die Notwendigkeit für Einschaltung eines nachrichtendienstlich arbeitenden Geheimdienstes ist in keinem dieser Stadien ersichtlich. Verrufserklärungen des Verfassungsschutzes sind entbehrlich, schädlich und einer Demokratie unwürdig. Soweit eine Beobachtung oder Analyse politischer Entwicklungen wünschenswert erscheint, sind hierfür die Medien, Meinungsumfragen und die Wissenschaft besser geeignet und ausreichend.

  2. Vom 27. September 1950 (Erlaß des 1. BverfSchG) bis zum 7. August 1972 (Novelle zum BVerfSchG) war diese Beobachtung verfassungswidriger Bestrebungen nicht die Haupt-, sondern die einzige Aufgabe des „Verfassungsschutzes“. Erst durch die genannte Novelle wurden die weiteren heute vorhandenen gesetzlichen Aufgaben des „Verfassungsschutzes“ beschlossen. Ausgerechnet in den zwei Jahrzehnten des heißen/kalten Krieges ist die Bundesrepublik also ohne die weiteren Aufgaben des „Verfassungsschutzes“ ausgekommen, ohne daß sie ersichtlich daraus einen Nachteil erlitten hätte. Erst mit Wegfall des Feindbildes in den 70er Jahren wurde die Ausdehnung der Aufgaben des „Verfassungsschutzes“ angeblich nötig. Wenn also die damals einzige und heutige Hauptaufgabe der Beobachtung angeblich verfassungswidriger Bestrebungen überflüssig ist, und unser Staat in seinen schwierigsten beiden Jahrzehnten ohne weitere Aufgaben des „Verfassungsschutzes“ auskam, dann muß folglich auch heute eine ersatzlose Abschaffung des „Verfassungsschutzes“ ohne Nachteile für den Staat – und insbesondere für den Schutz der Verfassung – möglich sein.
  3. Nichtsdestoweniger soll auch hinsichtlich der weiteren gesetzlichen Aufgaben des „Verfassungsschutzes“ untersucht werden, welche Konsequenz eine Abschaffung hätte.

    a) Nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 u. 3 BVerfSchG zählt zu den Aufgaben auch die Sammlung und Auswertung von Auskünften, Nachrichten und sonstigen Unterlagen über
    „sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten im Geltungsbereich dieses Gesetzes für eine fremde Macht“ sowie über „Bestrebungen im Geltungsbereich dieses Gesetzes, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden.“

    Auch hier handelt es sich um Straftaten, deren Ermittlung und Verfolgung in den Bereich der Strafverfolgungsorgane gehört, so daß ein nachrichtendienstlicher Verfassungsschutz nicht erforderlich ist.
    Darüber hinaus darf in Zweifel gestellt werden, inwieweit überhaupt eine staatliche Spionageabwehrbehörde erforderlich ist. Soweit die Wirtschaftsspionage betroffen ist, gibt es etwa die Straftatbestände der § § 12 und 17 UWG und damit die Kompetenz der Strafverfolgungsorgane. Darüber hinaus und außerhalb dieser gesetzlichen Bestimmungen ist kaum nachvollziehbar, weshalb die Ausspionierung von Nixdorf durch Siemens die staatliche Spionageabwehr nicht interessiert und nichts angeht, wohl aber die Ausspionierung von Nixdorf durch das DDR-Kombinat Robotron. Der Schutz geschäftlicher und betrieblicher Geheimnisse ist Aufgabe der Unternehmen selbst, nicht aber einer staatlichen Spionageabwehr.
    Und im Bereich militärischer Geheimnisse muß zumindest ein Nachdenken darüber erlaubt sein, ob ausländische Spionage unseren Staat wirklich gefährdet. Basiert nicht unser Verteidigungskonzept (bisher) auf der Abschreckung und ist die Abschreckung nicht viel wirksamer, wenn der – immer als Angreifer vorgestellte – ausländische Staat weiß, was im Kriegsfall auf ihn zukommt? Ohnehin gewinnt man den Eindruck, daß Spionage und Spionageabwehrorganisationen aller Staaten und Bündnisse sich im wesentlichen nur jeweils mit der gegnerischen Organisation und deren Abwehr beschäftigen, d.h. daß die gesamte Spionage und Spionageabwehr nur um ihrer selbst vorhanden ist und ihr Wegfall kaum einen Schaden zur Folge hätte.

    Schlußendlich ist die Effektivität der Spionageabwehr auch heute schon so gering, daß selbst ihr totaler Wegfall keine nennenswerten Einbußen an Sicherheit mit sich bringen würde. 1988 wurden 21 Personen wegen Spionage verurteilt. 1987 hatte die Bundesanwaltschaft 390 derartige Ermittlungsverfahren eingeleitet (hierbei wird unterstellt ein Zeitraum von einem Jahr zwischen Einleitung des Verfahrens und Erlaß eines Urteils). Somit errechnet sich die geringe Erfolgsquote von 5,4 %. Berücksichtigt man noch, daß nach Aussage des Justizministeriums Agenten sich „häufig“ selbst stellen, daß also die geringe Erfolgsquote obendrein nur zu einem Teil auf die eigenen Aufklärungsbemühungen der Strafverfolgungs- und der Verfassungsschutzbehörden zurückzuführen ist, so ist umso weniger zu erkennen, warum der Verfassungsschutz in diesem Bereich tätig sein müßte.

    b) Nach § 3 Abs. 2 BVerfSchG wirkt der Verfassungsschutz mit bei der Personenüberprüfung für sicherheitsempfindliche Positionen sowie bei technischen Sicherheitsmaßnahmen.
    Auch für diese Aufgaben ist nicht ersichtlich, wozu ein im Geheimen arbeiten-der Nachrichtendienst für deren Erfüllung erforderlich wäre – er war es im übrigen auch bis zum 7. August 1972 nicht. Jede Behörde kann sich wie auch jedes Unternehmen bei der Einstellung oder Beförderung von Mitarbeitern selbst schützen (soweit erforderlich), kann die betreffende Person befragen und den Sachverhalt ermitteln – allerdings in Kenntnis der betroffenen Person. Eine Beratung im Bereich von technischen Sicherheitsmaßnahmen gehört zum Aufgabenbereich der Polizei und wird auch heute bereits durch die Landeskriminalämter und das Bundeskriminalamt sichergestellt.
    Natürlich können hierdurch Risiken nicht ausgeschlossen und Pannen nicht vermieden werden – das ist bei dem Einsatz des Verfassungsschutzes für diese Aufgaben aber nicht anders. Ein freiheitlicher demokratischer Rechtsstaat lebt besser – und letztendlich auch sicherer mit der Inkaufnahme der Risiken seines freiheitlichen Systems als ein auf absolute Sicherheit bedachtes Staatswesen. Sicherheit um jeden Preis bringt die höchste Unsicherheit. Auch hier ist eine Notwendigkeit für die Existenz dieser Ämter nicht ersichtlich.

    c) Schließlich zählt nach einigen Landesverfassungsschutzgesetzen zu den Aufgaben des, „Verfassungsschutzes“ auch seine Mitwirkung bei der Einstellung von Bewerbern für den öffentlichen Dienst, eingeführt durch den sog. Extremistenbeschluß der Ministerpräsidenten und des Bundeskanzlers von 1972. Zum einen ging es bis zu diesem Zeitpunkt offensichtlich auch ohne diese Aufgabenerfüllung des Verfassungsschutzes. Zum zweiten hat noch niemand behauptet, daß Länder, die eine derartige Aufgabe des Verfassungsschutzes eingeführt haben, ein staatstreueres Beamtentum hätten als die anderen Länder oder der Bund, wo es eine solche Aufgabe nicht gibt. Schließlich wäre der Schaden für unsere Verfassung, wenn einige „verfassungsfeindlich“ ausgerichtete Beamte sich unerkannt in das Millionenheer des öffentlichen Dienstes einschmuggeln könnten, wohl weniger groß als der Schaden, der dadurch entstanden ist, daß durch die Mitwirkung des Verfassungsschutzes bei der Einstellung in den öffentlichen Dienst und die damit verbundene – zumindest vermutete – „Schnüffelei“ zahllose Bürger versuchen, nicht durch abweichendes Verhalten aufzufallen, weil sie damit rechnen, „daß etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird und (ihnen) dadurch Risiken entstehen“. Diese Praxis hat folglich – besonders, aber nicht nur, in weiten Kreisen der Jugendlichen – zu Duckmäusertum geführt und dies wiederrum nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Volkszählungsurteil das Gemeinwohl beeinträchtigt (NJW 1984, 422). Wir wollen nicht durch den Verfassungsschutz „geschützt werden“ vor ehemaligen SED-Mitgliedern als Beamte im Post- und Bahndienst, in Schulen, in der Straßenbauverwaltung wie wir bisher vor DKP-Mitgliedern in solchen Funktionen „geschützt“ wurden.

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