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System­be­dingte Übergriffe von Verfas­sungs­schutz­be­hörden schädigen die Verfassung

04. Dezember 1991

Till Müller – Heidelberg

aus: Weg mit dem „Verfassungsschutz“ – der (un)heimlichen Staatsgewalt. Enzyklika für Bürgerfreiheit, HU-Schriften 17, München 1991, Seite 7 – 9

  1. Es gibt keinen anderen Bereich staatlichen Handelns, der derartig viele politische und rechtliche Skandale produziert – eine nie abreißende Kette – wie der Verfassungsschutz und die anderen Nachrichtendienste. Wer sich die Frage stellt, warum dies so ist, kommt schnell zu dem Ergebnis: Diese Skandale sind systemimmanent – und folglich auch nicht zu verhindern, es sei denn durch die Abschaffung des Systems/ des „Verfassungsschutzes“ selbst.
    Der gewaltenteilende Rechtsstaat basiert seit Montesquieu auf der Aufteilung und Kontrolle von Staatsgewalt. Die aufgeteilten Staatsgewalten hemmen und kontrollieren sich gegenseitig im Interesse der Freiheitsräume des Bürgers und werden durch den Bürger kontrolliert. Dies setzt öffentliches staatliches Handeln voraus. Nachrichtendienste jedoch agieren per definitionen im Geheimen. Was geheim ist, läßt sich nicht kontrollieren und wuchert. Es entsteht

„Die (un)heimliche Staatsgewalt“
(Memorandum der HUMANISTISCHEN UNION 1981)

Kontrolle basiert darauf, daß der Kontrolleur weiß, was er zu kontrollieren hat, daß er etwas erfährt. Genau das jedoch wird durch Geheimhaltung gerade ausgeschlossen. Die Installation einer im Geheimen arbeitenden und auf Geheimhaltung ausgerichteten Behörde führt deshalb zwangsläufig zur Überschreitung von Aufgaben und Kompetenzen – zu politischen und rechtlichen Skandalen.
Die Geheimdienstskandale der Bundesrepublik Deutschland sind bekannt. Traube-Affäre und Celler Loch („Der Staat bombt mit“) sind geflügelte Worte geworden. Die Rechtswidrigkeit der Telefonabhörung des Schriftstellers Wall-raff durch den Verfassungsschutz wurde gerichtlich festgestellt. Die jährlichen Berichte der Datenschutzbeauftragten von Bund und Ländern weisen jedesmal wieder neu (und vergeblich) auf die gesetzwidrigen Praktiken der Sicherheitsbehörden hin, wenn sie auch nur die Spitze des Eisbergs aufdecken können. Seit April 1990 verhandelte das Landgericht Berlin zum vierten Mal (nachdem die vorhergehenden drei Urteile jeweils vom Bundesgerichtshof aufgehoben worden sind) über den Mordfall Schmücker vom 5. Juni 1974, dessen Aufklärung bisher nicht gelang, weil der Verfassungsschutz, eine staatliche Behörde (!), die Tat-Waffe verschwinden ließ und die gerichtliche Aufklärung nach Kräften verhinderte. Im Februar 1991 wurde dieser vierte Prozeß ohne eine erneute Verurteilung der Beschuldigten eingestellt, da das Gericht angesichts der systematischen Steuerung alle bisherigen 3 Gerichtsverfahren durch das Berliner Landesamt für „Verfassungsschutz“ keine Chance mehr zur Tataufklärung sah.
Die bekannt gewordenen Berichte über die CIA in den USA sind nicht besser, wenn man auch nur an den von ihr organisierten und mit Drogengeldern finanzierten Waffenhandel mit dem Iran des Ayatollah Khomeni denkt oder an Aktionen bis hin zu Mordanschlägen. Allein zwei aufeinanderfolgende Ausgaben des SPIEGEL (9/1990 und 10/1990) berichten über umfangreiche gesetzwidrige Bespitzelungsaktionen der staatlichen Sicherheitsdienste in der Schweiz und in Osterreich sowie über zumindest im Umfang bedenkliche Aktivitäten des Bundesnachrichtendienstes in einer Hamburger Villa. Die Allgegenwärtigkeit und die Methoden (rechtswidrige Verhaftung, anonyme Briefe, Produktion von Gerüchten usw.) des Staatssicherheitsdienstes in der DDR sind spätestens Anfang des Jahres 1990 offenkundig und dokumentiert worden.
Die Übergriffe und Skandale von im Geheimen arbeitenden Nachrichtendiensten sind also weder typisch deutsch noch ledigliche Pannen etwa nicht optimal geführter bundesrepublikanischer Sicherheitsdienste, sondern systemimmanent und damit unvermeidlich. Auch die Einführung parlamentarischer Kontrollgremien im Bund und in den Ländern sowie die Verfahrensregelungen des G 10-Gesetzes haben daran nichts ändern können. (Laut SPIEGEL 10/1990 haben die BND-Postüberwachungsaktivitäten in der Hamburger Villa nach Auskunft des zuständigen Staatsministers selbstverständlich der parlamentarischen Kontrolle unterlegen. Das Parlamentsmitglied des dafür zuständigen G-10-Ausschusses in Bonn jedoch: „Davon ist mir nichts bekannt.“)

  1. Die von Skandalen wegen Gesetzesübertretungen permanent begleitete staatliche Tätigkeit der Nachrichtendienste untergräbt das Vertrauen der Bürger in die Rechtsstaatlichkeit und damit, in die Wirksamkeit der Verfassung. Darüber hinaus wird wegen ihrer Heimlichkeit die Staatgewalt zu einer unheimlichen, weckt (berechtigte) Befürchtungen beim Bürger und schädigt sein Vertrauen in den Staat. Wenn ausgerechnet die mit dem Schutz der Verfassung beauftragte Behörde durch gesetzwidriges Handeln gegen eben diese Verfassung verstößt – wie soll dann der Bürger glauben können, daß seine Verfassung wirksam geschützt wird, wie soll er sich selbst im Schutz seiner Verfassung sicher fühlen? Der Zweck der Verfassungsschutzbehörden, dem Schutz der Verfassung zu dienen, wird in sein Gegenteil verkehrt.
    Besonders eklatant wird dies bei der Erfüllung der Hauptaufgabe des „Verfassungsschutzes“, nämlich bei der Sammlung und Auswertung von Auskünften, Nachrichten und sonstigen Unterlagen über verfassungswidrige Bestrebungen ( § 3 Abs. 1 Ziffer 1 BVerfSchG), wenn unter Berufung auf diese Aufgabe etwa Volkszählungskritiker wie z.B. der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein, die Partei der Grünen oder die HUMANISTISCHE UNION beobachtet und registriert und Berichte über sie angefertigt werden (VG Hannover, 10 VG A 260/87) oder einzelne Volkszählungsgegner in der Terroristendatei APIS des BKA sich wiederfinden oder wenn 270 Handwerker ohne ihr Wissen vom Verfassungsschutz überprüft werden, weil sie handwerkliche Arbeiten im baden-württembergischen Innenministerium ausführen (Bericht der Datenschutzbeauftragten in Baden-Württemberg, Frau Ruth Leuze, für 1989). Und eine gar nicht wieder gut zu machende Schädigung der Verfassung und des Vertrauens der Bürger in sie ist eingetreten durch die Überprüfung von Bewerbern und Mitarbeitern im öffentlichen Dienst durch den „Verfassungsschutz“. Um in dem Millionenheer der öffentlich Bediensteten einige wenige Mitarbeiter zu finden, die angeblich verfassungsfeindliche Tendenzen haben, und um unseren Staat hiervor zu schützen, wurden hunderttausende oder gar Millionen anderer Bürger überprüft und – um nur ja nicht aufzufallen und die eigenen Einstellungschancen zu verringern – eingeschüchtert. Denn:

„Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffenden Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden … (Nicht grundgesetzmäßig wäre eine Gesellschafts- und Rechtsordnung), in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß. Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen
jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. Wer damit rechnet, daß etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird und daß ihm dadurch Risiken entstehen, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte (Artikel 8, 9 GG) verzichten. Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist“.
(Volkszählungsurteil, BVerfGE 65, 1, 41 ff.)

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