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Wurzeln rechter Gewalt aus der Mitte der Gesell­schaft: Analysen und Konse­quenzen

01. Juni 2001

Die Ausgangslage: sozialer Hass und Gewalt in der Bundesrepublik

 
Mitteilung Nr. 174, S. 35-39

Die gegen Fremde und andere Minderheiten gerichtete Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland ist keineswegs Ausfluss eines geschlossenen politisch organisatorischen Gebildes. Anders als am Ende der 20er Jahre fehlen auch eine führende Partei und eine anerkannte Führungsfigur. Indessen bedarf es offensichtlich für die fast tägliche Gewalt und die soziale Unwirtlichkeit gegen Fremde und Schwache solcher Strukturen nicht. Diese vollzieht sich ohne ausdrückliche Anleitung von Rädelsführern und Agitatoren. Sie wird statt dessen genährt aus einer weit verbreiteten und tief sitzenden Mentalität, deren Ursprung auf die Mitte, weniger auf die Ränder der Gesellschaft verweist. Diese Mentalität ist dabei keineswegs nur Ausdruck einer Gemengelage aus individuellen und kollektiven Lebens- und Versagensängsten, sowie realer ökonomischer und sozialer Benachteiligungen und wachsenden Bildungsdefiziten. Sie findet sich nämlich auch bei den „Winnern“ dieser Gesellschaft, den Erfolgreichen und den Frontleuten der Gesellschaft, weil sie zu schnell oder zu unverdient gewonnen haben und deshalb von der „Angst vor dem Absturz“ befallen sind.

In Kauf genommene Ermunterung und „verständnisbereite“ Ablehnung – so lassen sich manche auch offizielle und politisch korrekte Reaktionen auf fremdenfeindliche Handlungen aus allen Altersstufen und sozialen Schichten lesen. Die meistens von jungen Menschen ausgeübten tätlichen Übergriffe auf Fremde und Schwache verleiten deshalb leicht zu einer bequemen und entlastenden Suche nach einem Sündenbock – statt zu einem selbstkritischen Blick auf die tieferen sozialen und kulturellen Ursachen einer erhöhten Gewaltbereitschaft. Wenn deshalb zuverlässige Studien von einem Anteil rechtsextremer Positionen von etwa 10 Prozent der Bevölkerung sprechen, ist das nur die Spitze eines Eisbergs, dessen größter Teil mühsam unter Wasser gehalten wird. Vor diesem Hintergrund werden die in den vergangenen zehn Jahren ca. 100 solcher auf soziale Minderheiten zielender Gewalt zum Opfer gefallenen Menschen nicht die letzten gewesen sein, die die gesellschaftliche „Modernisierung“ gefordert hat. Mit Entsetzen nimmt die Humanistische Union zur Kenntnis, dass auch jüdische Mitbürger und deren Einrichtungen erneut und vermehrt zum bevorzugten Ziel solcher Ausschreitungen und Gewalt werden. Wieder werden Gräber geschändet, Synagogen beschmiert und angegriffen, jüdische Menschen beleidigt und bedroht. In der Geschichte der 1961 gegründeten Humanistischen Union haben jüdische Persönlichkeiten stets eine herausragende Rolle gespielt. Walter Fabian und Hans Robinson haben die HU mit gegründet und sie über viele Jahre als Vorsitzende geprägt. Unser Gründungs- und Vorstandsmitglied Fritz Bauer hatte als hessischer Generalstaats-anwalt maßgeblichen Anteil am Zustandekommen des Auschwitz-Prozesses. Die HU sieht es als ihre besondere Verpflichtung an, Antisemitismus und Neofaschismus in all ihren Spielarten entschlossen zu bekämpfen.

Die Ursachen rechter Einstel­lungen

So vielschichtig die Ursachen für das Entstehen, die Stärke und die Gefährlichkeit der fremdenfeindlichen und gegen Minderheiten gerichteten Mentalität in der Gesellschaft auf den ersten Blick auch sein mögen, so verschiedenartig auch ihre Manifestationen und Erscheinungsformen: Es gibt eine gesellschaftliche Grundtendenz, auf deren Habenseite wir Fortschritt, Innovation und Kreativität verbuchen, die aber auch die gerne unterschlagene Kehr- und Sollseite sozialer Destruktivität und Untugend kennt. Wettbewerb und Konkurrenz haben längst die ihnen eigene Domäne der Ökonomie verlassen und Einzug in nahezu alle Bereiche und Institutionen menschlichen Handelns und sozialer Beziehungen gehalten. Eine solche Gesellschaft prämiert ihre Gewinner und verachtet ihre Verlierer, wie es die „Gesetze des Marktes“ ja auch verlangen – entsprechend einem Prinzip, das bekanntlich Charles Darwin für die Evolutionsgeschichte der Natur entdeckt und das schon alsbald im Sozialdarwinismus mit seiner Maxime des „survival of the fittest“ eine Übertragung auch auf die Menschen und ihr Zusammenleben gefunden hat. Dies ist der Nährboden für eine Mentalität und individuelle „Ökonomie“, die im Anderen prinzipiell den Konkurrenten und Mitbewerber, d.h. den Bedroher des eigenen Vorteils und der eigenen Gewinnchance sieht. In solchen Gesellschaften fährt man besser mit einer gehörigen Portion Misstrauen, mit der Fähigkeit zur Aggression sowie der Bereitschaft zu Hass, wie es schon mancher unserer bewunderten Spitzensportler bezeugt hat.

Eine solche Situation und Mentalität geht oft einher mit einer tiefen persönlichen Verunsicherung vieler Menschen angesichts ständig neuer Umbrüche und Herausforderungen und einer permanenten Angst vor Niederlage und Verlust. Die berechtigte Sorge vor sozialem Absturz durch brutaler werdende Konkurrenz um Arbeitsplatz und Existenzgrundlage als Folge von Globalisierung nimmt vielen Menschen ihren gesicherten sozialen Standort sowie ihr psychisches Selbstbewusstsein.

Die daraus resultierenden Reaktionen und Konsequenzen sind außerordentlich schwer einzuschätzen. Ein Vergleich mit der Situation in der Weimarer Zeit und dem damaligen Zusammenbruch der Wirtschaft verbietet sich zwar nicht deshalb schon, weil die heutigen sozialen Sicherungssysteme intakter und auf höherem Niveau funktionieren als damals. Die Parallelität von heute und den zwanziger Jahren scheitert jedoch folgenreicher und nachhaltiger zum einen an der zunehmenden Individualisierung und Fragmentierung der Gesellschaft und sie scheitert zum anderen an dem damit zusammen hängenden Bedeutungsverlust und Niedergang von Politik und Staat. So sehr deshalb die beschriebene Situation von Angst, Versagen und Verlust eine latente Aggressionsbereitschaft schürt, die nach Abfuhr drängt, so wenig lässt sich diese zu politisch organisierter Gewalt bündeln. Wie schon Karl Marx wusste, wiederholt sich Geschichte nicht, es sei denn als Farce, wie sich auch an allen bislang gescheiterten Versuchen zur nachhaltigen Wiederbelebung faschistischer und neo-nazistischer Parteien ablesen lässt. Das bedeutet jedoch nicht den Rückgang oder das Verschwinden von Gewalt. Es bedeutet vielmehr, dass die Gewalt diffuser, privater, unberechenbarer, dezentraler, situativer, unbeherrschbarer: anarchischer wird. Sie folgt im Übrigen den allgemeinen sozialen und psychologischen Gesetzmäßigkeiten.       (a) Auch die Gewalt sucht sich ihre Ziele nach ihren Gewinnchancen aus: Minderheiten, Fremde, minder Berechtigte, Illegale, Asyl Suchende: solche, die sich aus dem konkreten sozialen oder lokalen Kontext ergeben, oder solche, die die „kulturelle“ Überlieferung und historische Tradition bereit stellt, wie sich immer wieder an den antisemitischen Ausbrüchen ablesen lässt.                                      (b) Gewalt weiß sich weiter zu verstärken und aufzurüsten. Sie macht sich auf die Suche nach Verbündeten und besorgt die Pflege von Feindbildern. Diese vermitteln der – zumeist männlich dominierten – Gruppe eine kollektive und individuelle Stärke, über die der Einzelne nicht verfügt.Die Spirale von Frustration, Cliquenbildung und Gewalt wird noch gefährlicher, wenn diese Gruppen regional das öffentliche Leben dominieren. Mancherorts herrscht in den sog. „national befreiten Zonen“ das Faustrecht gegen Minderheiten. Sogar Menschen, die sich dieser Hegemonie widersetzen werden belästigt oder sogar bedroht und geschlagen. Migranten meiden zunehmend diese Regionen. Eine – indessen weit überschätzte – Ursache für die Konjunktur gewaltbestimmter und gegen soziale Minderheiten gerichteter Ausgrenzung sind auch die fehlenden demokratischen Teilhabemöglichkeiten junger Menschen im näheren sozialen Umfeld wie Schule und Familie, aber auch an gesamtgesellschaftlichen Entscheidungen. Kinder und Jugendliche müssen in ihren Familien weiterhin körperliche und seelische Gewalt erleben. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Toleranz können nicht erzieherisch vermittelt werden, vielmehr muss der Inhalt dieser Begriffe bereits im Kindes- und Jugendalter praktisch erlebt werden können.

Die Verant­wor­tung der Politik

Die Weigerung aller bisherigen Bundesregierungen, Einwanderung zur Kenntnis zu nehmen, hat zur massenhaften Erzeugung minderberechtigter Bürger und „innerstaatlicher Feinde“ geführt. Den Einwanderern sogar der dritten Generation wurde die Einbürgerung unzumutbar erschwert. Flüchtlinge waren als „Wirtschaftsasylanten“ persona non grata.

Abgespeist mit unzureichenden Aufenthaltsberechtigungen und lieblos zusammengeworfenen Fresspaketen wurden gerade die Asylbewerber zur Zielscheibe von Ausgrenzung und Verdächtigung. Auch die neue Bundesregierung hat hieran nichts geändert, eine Abschaffung des menschenunwürdigen Asylbewerberleistungsgesetzes ist weiterhin nicht vorgesehen.Die Kampagne zur Beschneidung des Asylrechts begann Anfang der 90er Jahre mit der gezielten Förderung von Ängsten vor Minderheiten. Angesichts der Kriegssituation auf dem Balkan war die Zahl der Flüchtlinge stark angestiegen. Der damalige, heute selbst krimineller Machenschaften bezichtigter Innenminister, aber auch die Spitzen der CDU/CSU und der SPD schürten– und schüren bis heute – vorhandene Ängste vor Kriminalität und Überfremdung, um sie dann politisch zu nutzen. So entstand ein gesellschaftliches Klima der Ausgrenzung und Stigmatisierung, in dem sich soziale Ressentiments in fremdenfeindliche und gegen Minderheiten gerichtete Gewalt entluden. Letztlich änderte in einer Zeit von Brandanschlägen auf Asylbewerberheime und auf andere von ausländischen Menschen bewohnte Unterkünfte eine große Koalition aus CDU, FDP und SPD Art. 16 GG und schaffte damit das Asylrecht faktisch ab. Diese fatale Grundgesetzänderung war somit Genugtuung für diejenigen, die Anschläge gegen ausländische Menschen verübt oder schweigend toleriert haben.Nach der Abschaffung des Asylrechts folgte dann die Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes, das Asylbewerber unverhohlen den Status von Menschen zweiter Klasse zuweist. Begründet wurde der Erlass dieses Gesetzes mit einer Art „Abstandsgebot“, um Deutschland für Migrantinnen und Migranten vergleichsweise unattraktiv zu machen: eine eklatante Verletzung des moralischen Gebots, den Menschen nicht als Mittel zum Zweck zu benutzen. Daher ist es ein nicht entschuldbares rechtspolitisches Versäumnis, dass auch die neue Bundesregierung bisher keine Initiative zur Abschaffung dieses Gesetzes unternommen hat.

Zur rechtlichen Minderung ihres gesellschaftlichen Status (kein Wahlrecht, keine eigene Bestimmung des Aufenthaltsortes, kein Recht, durch Arbeit sich selbst zu ernähren, etc.) gesellen sich vielfache andere soziale Benachteiligungen und Diskrimierung – Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt. Diese lassen sich in einer auf Vertragsfreiheit basierenden Gesellschaft nur schwer konterkarieren, selbst durch ein Antidiskriminierungsgesetz nicht.

Unter Bedingungen der Beraubung sowohl politischer Rechte als auch sozialer und ökonomischer Teilhabe bleibt gesellschaftliche Integration ein fast schon zynisches Versprechen und ein wohlfeiles Programm, mit dem sich seine Adressaten ins Unrecht setzen, aber nicht an die Gesellschaft binden lassen. Dass der Zunahme der staatlichen Repression auf deutscher Seite auf der Seite der Einwanderer ein Anwachsen reaktionärer bzw. fundamentalistischer Integrationsgegner folgte, kann deshalb nur wenig verwundern. Wer Barrieren dauerhaft überwinden will, darf nicht Asylbewerber mit den Mitteln des Sozial- und Strafrechts aus dem Land fernhalten und entfernen wollen und mit verdachtsunabhängigen Kontrollen aus-ländisch wirkenden Menschen generell Misstrauen entgegenbringen.

Wege zur Eindämmung rechter Gewalt

Die Humanistische Union warnt davor, die Wirksamkeit isolierter Einzelmaßnahmen zu überschätzen. Es gibt kein alleiniges Allheil-mittel gegen rechte Gesinnung und rechte Gewalt. Nur eine Vielzahl sorgsam aufeinander abgestimmter Vorgehensweisen weist den Weg zu einer effektiven Bekämpfung fremdenfeindlicher und sozial-darwinistischer Gewalt und der sie nährenden gesellschaftlichen Mentalität.

Notwendig und überfällig ist der Schutz gefährdeter Personen und Gruppen sowie die praktische Hilfe für die Opfer von Übergriffen. Unabdingbar ist die massive Unterstützung zivilgesellschaftlicher Strukturen, die dem alltäglichen Faschismus aus der Mitte der Gesellschaft entgegenwirken. Unentbehrlich ist gewiss eine entschiedene Reaktion der Sicherheitsbehörden auf manifeste Gewalt.

In der letzten Zeit haben in mehreren Städten jenseits der alten Kampflinien Demonstrationen eines breiten Bündnisses zum Schutz der Adressaten fremdenfeindlicher Gewalt stattgefunden. Diesem „Aufstand der Anständigen“ wünschte man bei aller Unterschiedlichkeit der handelnden Personen und ihres Tuns eine gemeinsame Grundhaltung bei der Abwehr fremden- und menschenfeindlicher Mentalität und Gewalt. Daran mangelt es jedoch bei manchen dieser Bündnisse.

Wenn genau diejenigen Politiker, die vor einigen Monaten noch erklärten, das Boot sei voll und 97% der Asylbewerber seien Asylbe-trüger jetzt zu mehr Toleranz aufrufen, so steht die Glaubwürdigkeit auf dem Spiel. Gleiches gilt für Plakate auf Bahnhöfen, die zu Respekt gegenüber allen Menschen aufrufen, wenn diese vom Bundesgrenz-schutz unterzeichnet sind, genau derjenigen Organisation, die maßgeblich Abschiebungen durchführt und ausländische Bahnhofs-besucher allein wegen der Hautfarbe mit verdachtsunabhängigen Kontrollen konfrontiert. Abträglich für die Glaubwürdigkeit solcher Aktionsbündnisse sind auch rein ökonomische Argumente gegen fremdenfeindliche Gewalt, sei es nun die Sorge um die Außenhandelsbilanz, die Attraktivität des Standorts Deutschland für ausländische Fachkräfte oder die aus politischem Munde stammende Unterscheidung von Nutzen stiftenden und Kosten verursachenden Fremden. Demokratie und Toleranz sind unteilbare Werte, die eine ökonomische Rechtfertigung weder benötigen noch vertragen.

Ein deutliches Bekenntnis der Menschen vor Ort zu Demokratie und Menschenrechten ist unerlässlich. Demokratischen Initiativen fehlt für ihre Arbeit oft Geld und auch die politische Unterstützung vor Ort. Hier stehen die staatlichen Stellen in der Pflicht und der Verantwortung gegenüber der Demokratie und den Gruppen, für die sie einstehen. Aber nicht nur, wenn in einer Gemeinde Rechtsextreme Jugendclubs übernehmen oder Ausländer schikanieren, sind alle Demokraten des Ortes aufgefordert, dies gemeinsam und mit Hilfe der Staatsgewalt zu verhindern, vielmehr gehört hierher auch die Unterstützung des zivilen Ungehorsams gegen Abschiebungen.Das Wichtigste allerdings bleibt die Veränderung der gesellschaftlichen Mentalität hin zur Offenheit gegenüber allem Fremden, zur Erkenntnis, dass andere Menschen und Kulturen bereichernd sind, sowie zur Wiederentdeckung der selbstverständlichen Solidarität mit und Unterstützung für alle Schwachen, Ausgegrenzten und Minderheiten. Und wie die Politik maßgeblich mitverantwortlich war für die Entstehung der Fremdenfeindlichkeit in der Mitte unserer Gesellschaft, so muss sie auch in die Pflicht genommen werden für die Rückkehr zu menschlichem Zusammenleben. Erforderlich ist nicht der Aufstand der Anständigen, sondern der Anstand der Zuständigen (in der politischen Elite).

Beendigung der Diskri­mi­nie­rung von Minder­heiten

Fremdenfeindliche und sozialdarwinistische Gewalt richtet sich vor allem gegen Menschen, die Minderheiten angehören. Dies können Rußlanddeutsche, sexuelle Minderheiten, Behinderte oder Juden sein. In erster Linie sind aber Menschen ausländischer Herkunft Opfer von Gewalt. Daher ist deren Rechtsstellung konsequent zu verbessern, rechtlichen Ausgrenzungen und Benachteiligungen ist entgegenzuwirken. Die völlig verstümmelte Reform des Staatsbürgerschaftsrechts hat gezeigt, dass auch die neue Regierung dieses Ziel nicht energisch verfolgt. Doch auch über das Staatsbürgerschaftsrecht hinaus müssen Diskriminierungen beseitigt werden, hierzu gehört das Arbeitsverbot für Flüchtlinge und vieles andere mehr. Notwendige rechtliche Bestimmungen wie ein Anti-Diskriminierungsgesetz und die Teilhabe an Wahlen sind überfällig, aber allein nicht ausreichend. Dies zeigt ein Blick in das europäische Ausland, beispielsweise nach Frankreich. Gleichberechtigte Mitbürger können sich aber besser zur Wehr setzen als lediglich geduldete Bittsteller. Stärkerer politischer Einfluss und bessere rechtliche Abwehrmöglichkeiten erschweren die Missachtung von Minderheiten. Für einen durchgreifenden Erfolg ausschlaggebend ist aber eine gesellschaftlich getragene Änderung der Haltung gegenüber dem Fremden. Die Humanistische Union begrüßt die Einrichtung einer Einwanderungskommission unter Leitung von Rita Süßmuth. Eine gut nach außen kommunizierte Politik für Minderheiten kann Symbolkraft für die Bevölkerung haben und zu einem Einstellungswandel führen. Hierzu ist es erforderlich, dem zweifelnden Teil der Bevölkerung zu verdeutlichen, dass die Vorbehalte unbegründet sind, und die Sicherung des erreichten Wohlstands nur durch eine gesteuerte Immigration erreicht werden kann.

Rechtsradikalen Haltungen in der gesellschaftlichen Mitte ist noch viel schwerer beizukommen als Gewalttaten Einzelner. Der Angst um den Arbeitsplatz und den Platz in der Gesellschaft kann nur mit einer erfolgreichen Arbeitsmarkt- und Arbeitsförderungspolitik begegnet werden. Verbitterung entsteht aber auch durch das Gefühl von Macht- und Einflusslosigkeit im gesellschaftlichen Entscheidungs-prozess. Diesem verbreiteten Eindruck eigener Bedeutungslosigkeit kann nur durch eine gesellschaftspolitische Offensive für mehr Teilhabe begegnet werden. Mehr Demokratie durch direkte Mitverantwortung führt nicht zu mehr Ausländerfeindlichkeit. Die Erfahrungen, zuletzt in der Schweiz, zeigen das genaue Gegenteil.

Recht­staat­lich­keit bei der Straf­ver­fol­gung beachten

Es darf bei den gewaltbereiten Mitgliedern der Gesellschaft nicht der Eindruck aufkommen, als würden sich Staat und Gesellschaft mit „national befreiten Zonen“ und ähnlichen Jagdrevieren auf Mitmenschen abfinden. Wichtig ist aber auch, dass sich staatliche Maßnahmen streng an die geltende Rechtsordnung halten. Es wäre fatal, würden sich die Fehler der 70er Jahre mit umgekehrten politischen Vorzeichen wiederholen. Wir brauchen insbesondere keine Verschärfung des Jugendgerichtsgesetzes (JGG). Insgesamt bieten die bestehenden Gesetze den erforderlichen Spielraum, um angemessen mit fremdenfeindlicher und gegen Minderheiten gerichteter Gewalt umzugehen. Erhöhte Sensibilität für die Probleme ist sinnvoller als die ritualisierten und seit Jahren ständig wiederholten Forderungen nach Gesetzesverschärfungen.

Internet

Rechtsextreme bedienen sich zunehmend der Möglichkeiten des Internets, um ihr Gedankengut zu verbreiten. Daraus resultieren vermehrt Forderungen nach verstärkter staatlicher Kontrolle des Internets. Das Internet ist jedoch auch eine wichtige Institution der Meinungsfreiheit in einer Zeit kommerziell homogenisierter Medien. Deshalb warnt die Humanistische Union vor dem Versuch stärkerer Einflussnahme auf das Internet nicht nur durch staatliche Maßnahmen, sondern auch durch die noch gefährlicheren Privat-initiativen, bestimmten Homepages das Handwerk zu legen. Zudem ist nach Auffassung der HU jede Zensurkampagne eine Ablenkungs-kampagne von den tatsächlichen Problemen. Viel problematischer als die rechten Inhalte selbst ist die Frage, wieso sich Menschen hier-durch angesprochen fühlen anstatt die Dummheit dieser Homepages zu erkennen. Hier ist politische Bildung gefragt, nicht aber Zensur.

Das Versamm­lungs­recht bleibt unantastbar

Das Versammlungsrecht des Art. 8 GG ist durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als Bürgerrecht besonders geschützt. Das Gesetz über den befriedeten Bereich um das Reichstagsgebäude herum kann nur die Arbeit des Parlaments schützen. Die Beschränkungen des Demonstrationsrechts innerhalb dieses Bereichs sind ausschließlich auf die Arbeit des Parlaments abgestimmt. Jede Erweiterung dieses Bereichs verfehlt diesen Gesetzeszweck.Falsch wäre auch, ein wie auch immer bestimmtes „nationales Interesse“ zur Rechtsgrundlage für Verbote von Demonstrationen zu machen. Ein solcher Begriff ist rechtlich völlig unbestimmt und beliebig. Auch andere Erfindungen aus dem Arsenal unbestimmter Rechtsbegriffe schädigen die Verfassung und helfen in der politischen Auseinandersetzung nicht weiter. Maßstab für die Rechtmäßigkeit oder Verbotswürdigkeit kann allein in den Grund-rechten betroffener Dritter liegen. Ein Abstellen auf allgemeine politische Erwägungen würde den durch Art. 1 GG festgelegten Vorrang der Grundrechte für jedes staatliche Handeln gefährden. Von daher ist jede einzelne Beschränkung der Versammlungsfreiheit an besonders strenge Voraussetzungen gebunden. Keinesfalls kann der Gesetzgeber bestimmte Orte zu demonstrationsfreien Zonen erklären.

Ein NPD-Verbot ist der falsche Weg

Ziel des Kampfes gegen rechtsextreme Einstellungen und Gewalt muss eine Stärkung des Rechtsstaates und der Demokratie sein – nicht der Abbau von beidem. Man löst ein Problem nicht, indem man es verbietet. Einstellungen und Meinungen verschwinden dadurch nicht.

Die Humanistische Union teilt die in allen Parteien geäußerten Bedenken gegen eine Konzentration auf die Verbotsdebatte. Ein Verbotsverfahren weckt unrealistische Erwartungen an den Erfolg repressiver Maßnahmen. Ein über Jahre dauerndes Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gibt der NPD eine öffentliche Bühne, für ihre Ziele zu werben. Ein Scheitern des Verbotsantrags hätte eine verheerende Wirkung. Würde die Partei tatsächlich verboten, stünden andere Parteien und Organisationen bereit, die „heimatlosen“ Mitglieder aufzunehmen. Die Folge wäre eine Stärkung von DVU und Republikanern. Was aufgrund der Aufspaltung der Gruppen weitgehend verhindert werden konnte, könnte dann schnell zur Realität werden: der flächendeckende Einzug Rechtsradikaler in die deutschen Parlamente. Zudem ist die Beschlussfassung des Bundestages zum Verbotsantrag fragwürdig. Es wurde abgestimmt, ohne dass die Abstimmenden Kenntnis vom vollen Inhalt der Erkenntnisse des Verfassungsschutzes über die NPD erhielten – wie aber eine Abstimmung möglich sein soll ohne die Basis des Verbotsantrages zu kennen, erscheint fragwürdig.

Zivil­ge­sell­schaft­liche Sofort­maß­nahmen gegen rechte Jugend­ge­walt
Neuori­en­tie­rung der Jugend­a­r­beit

Bei der Gestaltung der Jugendarbeit kommt es nicht allein auf die Zahl der Einrichtungen an, sondern auf die Qualität ihrer Arbeit. Es ist nicht zu übersehen, dass es auch an Orten mit einer guten Ausstattung zu gewaltsamen Übergriffen kommt. Insbesondere die „akzeptierende Jugendarbeit“ ist hier in die Kritik geraten. Die gut gemeinte Absicht, Angebote für rechte Jugendliche zu machen, um ihnen so die Demokratie zu vermitteln, ist leider allzu oft gescheitert. Jugendeinrichtungen wurden von gewaltbereiten Jugendlichen übernommen und Andersdenkenden wurde der Zugang verwehrt. Der ursprüngliche Ansatz hat nicht nur im Einzelfall das Gegenteil bewirkt. Es kann nicht angehen, dass in öffentlichen Einrichtungen fremdenfeindliche, rassistische und Gewalt verherrlichende Musik oder Schriften ungestört verbreitet und die Reichskriegsflagge oder sogar hakenkreuzähnliche Symbole gezeigt werden.

Dringend nötig ist vielmehr die Stärkung einer durchaus vorhandenen demokratischen Jugendkultur. Jugendliche dürfen nicht aus einem Gruppenzwang heraus ins rechtsextreme Milieu gehen, um Anschluss zu finden. Bei der Schaffung und Erhaltung demokratischer Freiräume sind alle Initiativen mit solcher Zielsetzung zu berücksichtigen. Nicht nur die staatlichen Träger, sondern insbesondere auch die Selbstorganisation demokratischer Jugend-licher, verschiedener freier Träger bis hin zur gewaltfreien Antifa sind in die Planungen einzubeziehen. Dies beinhaltet u.a. eine Neuorgani-sation der Projektförderung auf der Ebene der Länder und Kommunen von Langzeitprojekten hin zu kurzfristigeren Aktionen und Programmen. Vielfach werden demokratische Jugendprojekte von den Kommunen an den Rand der Stadt oder in Gewerbegebiete verbannt. Dort sind sie anfälliger für Angriffe gewaltbereiter Rechter und sie verfehlen ihre Wirkung, weil sie im öffentlichen Leben keine wahrnehmbare Rolle spielen. Demokratische Einrichtungen, seien es afrikanische oder vietnamesische Kulturvereine mit ihren Programmen sowie Jugendeinrichtungen mit demokratischen Charakter gehören in die Innenstädte.

Schule und Ausbildung

Jugendliche verbringen einen Großteil ihrer Zeit in der Schule oder der Ausbildungsstelle, für sie sind dies wichtige Lebensmittelpunkte. Daher müssen Demokratie und Toleranz gerade an diesen Orten für Jugendliche spürbar und erlebbar sein – Demokratie darf nicht an den Schul- bzw. Werkstoren enden. Zudem haben sich die für Schulpolitik Verantwortlichen gegen alle neoliberalen Strömungen zu widersetzen, die verstärkte Auslese, Elitenbildung und Orientierung der Bildungsinhalte an den Belangen der Wirtschaft fordern, Bildung muss der Entfaltung des einzelnen Menschen dienen. Die Aus- und Fortbildung der Lehrerinnen und Lehrer soll sich intensiv um eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit fremdenfeindlichen und gewaltbereiten Schülern kümmern. Auch in den Schulen selbst muss die Möglichkeit zur Entwicklung einer Gegenkultur eröffnet werden. Das gilt insbesondere dort, wo Fremdenfeindlichkeit und Hass auf Minderheiten den Ton angeben.

Beim Umgang mit fremdenfeindlicher und gegen soziale Minderheiten gerichteter Gewalt sowie der sie schürenden Mentalität werden schulische und kommunale Stellen trotz verstärkter Bemühungen allein die Arbeit nicht leisten können. Mobile Beratungsteams, die aus geschulten Experten bestehen, können betroffene Gemeinden, Schulen, Jugendeinrichtungen, Polizei oder andere Stellen qualifiziert beraten und in ihren Aktivitäten unterstützen und direkt mit den Jugendlichen in Kontakt treten. Beispielhaft ist das mobile Beratungsteam in Brandenburg.

Humanistische Union, Bundesvorstand

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