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„Der Zensor geht um“ oder „In welcher Zeit leben wir?“

01. März 2000

Zu neuen skandalösen Zensurfällen auf dem Gebiet der Moral und Sexualität in Deutschland und was Kurt Tucholsky dazu meint

Mitteilung Nr. 169, S. 16

Der Zensor geht um heißt ein Artikel Kurt Tucholskys aus dem Jahr 1920 über die Beschlagnahme von Büchern mit unzüchtigen Bildern, der folgendermaßen schließt: In welcher Zeit leben wir? Wir leben in einer Zeit, wo dem stramm emporgereckten Philister erlaubt ist, einer Nation Kandare anzulegen. Wehrt euch!
Heute werden – und zwar von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften – nicht nur Bücher und Filme unzüchtigen Inhalts zensiert, sondern Schriften mit wissenschaftlichen Texten und harmlosen Fotos, die aber die Oberzensurräte (Tucholsky) in Bonn für jugendgefährdend halten. So fanden sie im Dezember 1998 die Zeitschrift KOINOS (Nr.17/1998) für indizierungswert, nicht etwa weil dort pornographische Bilder oder Texte verbreitet würden, sondern weil u.a. eine Untersuchung präsentiert wurde, in der Studenten, die sexuelle Erfahrungen als Kind mit Erwachsenen hatten, diese öfter als positiv (38%–68%), neutral (8%–32%) als negativ (8%–45%) bewerteten. Die Bundesprüfstelle zweifelt diese wissenschaftliche Studie keineswegs an, hält aber ihre Zitierung für verdammens- und verbietenswert, fürchtend, daß solche Zitate Kinder und Jugendliche in ihrem sozialethischen Reifungsprozeß negativ beeinflussen können. Denn: Der Inhalt ist offenbar geeignet, Kinder und Jugendliche sozialethisch zu desorientieren.
Mit derselben Begründung wurde im Dezember 1999 das Heft 12/1999 der Zeitschrift VOGUE indiziert; dort waren harmlose Mädchen-Fotos gezeigt worden, die nichts mit Pornographie zu tun haben, und auch nach Ansicht der Bundesprüfstelle selbst nicht sexuell stimulierend oder aufreizend sind. Trotzdem wurden die Bilder und damit das ganze Heft zensiert, und zwar mit der Begründung, die abgebildeten Kinder würden hier zu Anschauungsobjekten degradiert.– Es kommt noch schlimmer: Darin, behaupten diese moralischen Fetischisten (Tucholsky) dreist (Tucholsky: dreiste Anmaßung vermuffter Bürgerkreise!), liegt eine eklatante Verletzung der Menschenwürde und damit der vom Grundgesetz errichteten Wertordnung insgesamt.
Wes Geistes Kind sind Leute, die sich so unverblümt mit den unglaublichsten Ansichten hervorwagen (Tucholsky)? Man stelle sich vor, schrieb Tucholsky vor 70 Jahren, wie die Literatur eines Landes aussähe, wenn man sie vorher der Zensur: diesem Gremium von Beamtenanmaßung, protestantischem Muff, katholischer Propaganda und allgemeiner Ängstlichkeit (…) überantwortete. Das Gremium der Vogue-Indizierung bestand aus drei Leuten: einer leitenden Regierungsdirektorin, einer Schriftstellerin (Thea Graumann) und einem kirchlichen Vertreter. Und diese zeigen allein schon in ihrer Ausdrucksweise, wes Ungeistes Kind (Tucholsky) sie sind: Während von der abgebildeten schlafenden Anna gesagt wird, daß sie Unschuld und Unberührtheit vermittelt, heißt es von der gepuderten Anna, bei ihr werde Berührtheit demonstriert, und auch beim nächsten Foto wird behauptet: Anna erzielt mit der Pose der Hand auf der Brust ebenfalls die Suggestion der Berührung. Anna berührt sich selbst, wird von niemand anderem berührt; trotzdem spricht die Bundesprüfstelle von Zuweisung einer Opferrolle, vom Eindruck der geschlechtlichen Verfügbarkeit der Kinderkörper, von der Reduktion auf das Geschlechtliche. – Eine Phantasie haben die Leute! Und sie machen diese und ihre zufällig vorhandenen geistigen Anschauungen zum Maß aller Dinge (Tucholsky).
Beantragt wurde die Indizierung vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Diese befürchtet, so heißt es im Antrag, Kindern könnte durch den Anblick der Bilder der Eindruck vermittelt werden, daß es doch nicht so schlimm sei, sich vor Erwachsenen auszuziehen. (Dabei zeigt jedes der Fotos nur ein Kind ohne weitere Person, also auch keinen Erwachsenen!)
Und die Bundesprüfstelle befürchtet, solche Fotos könnten Sexualstraftäter ihren Opfern zeigen und so gezielt auf die Tat einstellen. Dann aber müßten alle Abbildungen von nicht vollständig bekleideten Kindern verboten werden einschließlich kindlicher Engelsdarstellungen oder Bilder und Statuen des nackten Jesus- und Johnanneskindes und mit der Schauobjekt-„Begründung“ jedwede Darstellung von Kindern! Was für eine Körperfeindliche Atmosphäre wird dabei erzeugt! Vor 80 Jahren warnte Kurt Tucholsky schon davor, eine gute Erziehung durch Bevormundung und Verbot zu ersetzen. Der Presseerklärung des Arbeitskreises Sexualstrafrecht der HUMANISTISCHEN UNION zu der VOGUE–Indizierung ist beizupflichten:
Peinlich sind die Hinweise auf die „Sexualerziehung“ und „Erziehung zur eigenverantwortlichen Persönlichkeit“. Denn gerade durch eine solche Zensur-Praxis wird ein Klima gefördert, das einen selbstverständlichen und natürlichen Umgang mit dem eigenen Körper und der eigenen Person verhindert. Kurt Tucholsky würde sich drastischer ausdrücken und von einer ganz verstaubten, verlogenen und zutiefst unehrlichen Zensur sprechen, von einer lächerlichen Bevormundung, von verblüffender Intoleranz, von Prüderie, die in Fanatismus mündet: Falsch ist das, kleinbürgerlich und dumm. So erzieht man kein Volk! Und: Wenn das so weitergeht, haben wir in vier Wochen eine obrigkeitsstaatliche Bevormundung, die sich in gar nichts von Metternichts Zensur unterscheiden wird.
Nun: wir sind auf dem besten Wege dahin: Da entdeckte neulich ein bayrischer Verkehrspolizist bei einer Fahrscheinkontrolle ein Foto, das er für pornographisch hält. Daraufhin wurde von der Staatsanwaltschaft Traunstein ein Ermittlungsverfahren gegen den Fahrer eingeleitet und vom Amtsgericht Mühldorf a. Inn die Durchsuchung der Wohnung mit Nebenräumen und den Fahrzeugen nach folgenden Gegenständen angeordnet: 1. kinderpornographische Schriften, 2. EDV-Anlage, die zur Speicherung von kinderpornographischen Schriften dienen kann. Im Beschluß des Amtsrichters Ott vom 3. November 1999 heißt es dazu unter Gründe: Aufgrund der bisherigen Ermittlungen besteht der Verdacht, daß der Beschuldigte im Besitz kinderpornographischer Schriften ist. Bei einer Fahrzeugkontrolle wurde bei dem Beschuldigten eindeutig kinderpornographisches Material sichergestellt. Dieses „eindeutig kinderpornographische Material“ bestand in einem Foto aus einem Aufklärungsbuch (Günter Amendt: Das Sex Buch), das Jugendliche in jeder anständigen Schulbibliothek ausleihen können und das sowohl von Pro Familia (in Herzflattern – Buchtips für Jugendliche, 1999) als auch von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Sexualpädagogische Materialien, 1995) empfohlen wird.
Nochmal Kurt Tucholsky mit seinem 1922 veröffentlichten Gedicht Schaufenstermoral:

Wir haben im Land eine Polizei,
die hat weiter nichts zu tun,
als nachzuschnuppern, wie was wohl sei
unter Seide und unter Kattun.
Sie konfisziert, damit nichts entschlüpft,
Gummi-Zeug, Tizian und Film.
Der Brunner pfeift, und der Richter hüpft –
ganz wie unter Kaiser Wilm.
Vor dem Schaufenster steht ein einsamer Mann,
ein moralischer Fetischist.
Die ganze Erotik geht ihn nichts an,
weil er Selbstversorger ist.
Und er sieht da Zigarettenetuis
mit Busen und sonst noch was
und kitschigen Damen im Paradies…
Und der Mann hat Sehnsucht und keinen Kies –
und daher ärgert ihn das.
Und er meldets.
Und aus den Gebüschen bricht
Staatsanwalt, Akademie,
Polizeipräsidium und Amtsgericht-:
alles von wegens Etui.
In Berlin brechen nächtlich hundert Mann ein,
und der Wucher ist völlig immun.
Aber darum bekümmert sich kein Schwein …
O Herr! Vergib den Behörden dein!
Denn sie wissen nicht was sie tun-!
Amen

Nachweis der Zitate von Kurt Tucholsky:
1) Gesammelte Werke in 10 Bänden; Reinbek 1975:
 Laster und Liebe (1913; Bd. I, S. 135ff.)
 Zensurdebatte (1918; Bd. I, S. 306)
 Der Zensor geht um (1920; Bd. II, S. 444ff.)
 Schaufenstermoral (1922; Bd. III, S. 169ff.)
 Rundfunkzensur (1928; Bd. VI, S. 104ff.)
 Die UFA sucht Dichter (1930; Bd. VIII, S. 293 ff.)
 Freier Funk! Freier Film! (1932;Bd.X, S. 70ff.)
2) Deutsches Tempo; Reinbek 1990:
 Kunst und Zensur (1911; S. 19ff.)
 Kino-Zensur (1920; S. 221ff.)
 Schmutz bzw. Schund bzw. Geldverknappung (1910; S.759ff.)

Johannes Glötzner

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