Themen / Lebensweisen / Pluralismus / Tagungsprotokoll: Wege zu einer neuen Psychiatrie

Die gegen­wär­tige Lage der Versorgung psychisch Kranker und Behinderter nach der Enquete

05. Dezember 1980

Casper Kulenkampff

aus: Wege zu einer neuen Psychiatrie, Protokolle einer Tagung. HU-Schriften 9, München 1980, Seiten 12 – 13

Kulenkampff schloß sich der Feststellung Dörners an, daß Psychiatrie bei uns durch die geschichtlichen Hintergründe mit einer großen Hypothek belastet ist.

Hinzu kommt auch die Tatsache, daß das System, die Systematik, sehr fest und steril in Beton eingegossen, aus dem 19. Jahrhundert stammt mit einem Konzept, das unsere Urgroßväter damals vielleicht mit guten Gründen ersonnen haben, daß aber in unserer Situation nicht mehr passend ist. Bis Ende der sechziger Jahre gab es Veranstaltungen über Psychiatrie gar nicht, weil sich niemand dafür interessierte, und was sich damals in den psychiatrischen Kliniken, in dieser völlig abgeschlossenen Situation, insbesondere auch in der Notzeit nach dem Krieg abspielte, ist nun in der Tat mit dem, was wir heute zu debattieren haben, kaum noch vergleichbar. Eine Beurteilung der gegenwärtigen Lage ist schwierig, weil die Situation sehr komplex ist und wir uns in einer sehr konfliktreichen Übergangsphase befinden. Zwei wichtige Kriterien sind die zunehmende Aktualität des Themas „Psychiatrie“ in der Öffentlichkeit und die Tatsache, daß auch im politischen Raum dieses Thema in letzter Zeit nicht mehr einfach zu den Akten gelegt worden ist. Die Sensibilität dafür, wie man in diesem Lande mit psychisch Kranken und Behinderten umzugehen habe, scheint ständig zuzunehmen. Die Kritik, die nach wie vor im Mittelpunkt steht, richtet sich gegen die sogenannten Großkrankenhäuser, gegen das System der überkommenen Anstaltspsychiatrie. Eine erste Reform-Phase hat es in diesem Bereich gegeben, von etwa 1973/74 bis heute, indem die Bettenkapazitäten dieser Häuser stark reduziert wurden.

Hinzu kommt eine stärkere Hinwendung zum medizinischen Aspekt, allerdings sehr variabel und vermischt mit sozio-therapeutischen, sozial-psychiatrischen und gemeinde-psychiatrischen Konzepten. Dies führte jedoch dazu, daß innerhalb der Psychiatrie erneut Randgruppen gebildet wurden. Geistig Behinderte, seelisch Behinderte und Alterskranke wurden in den komplementären Bereich, den Heimsektor überwiesen, wo sie eine neue Art von Hospitalismus erleiden. Die personelle Besetzung in den Kliniken wurde von den Trägern erheblich verbessert, so daß man sagen kann, daß sich insgesamt eine positive Tendenz anzeigt. Dennoch besteht eine Menge von Mißständen und Defiziten, hervorgerufen vor allem durch eine immer noch zu große Anzahl von Patienten in den Kliniken, aber auch durch hierarchische Zustände. Der humane Standard dieser Häuser ist nach wie vor unzureichend, ebenso die Qualität der therapeutischen Konzepte.

Für einen bestimmten Anteil von psychisch kranken Patienten wird es immer eine Einrichtung geben müssen, die Krankenhauscharakter hat. Schon jetzt ist es so, daß über 90 % der Kranken nach einer angemessenen Frist wieder entlassen werden können. Unter den Bedingungen eines gut funktionierenden ambulanten, rehabilativen und komplementären Dienstes im Sinne einer engen Verzahnung dieser Einrichtung auf Gemeindeebene müßte sich der gegenwärtige Zustand noch verbessern lassen. Psychiatrische Einrichtungen müssen so konzipiert sein, daß sie überschaubar bleiben, daß der individuelle Kontakt zum Kranken und damit ein therapeutisches Klima gewährleistet ist, daß sozio-therapeutische, psychologische, pädagogische und medizinische Elemente in einem ausgewogenen Verhältnis zueinender stehen und daß eine gemeindeorientierte Arbeit, insbesondere durch ambulante Dienste möglich ist. Die Enquete-Kommission hat in ihrem Schlußbericht die Priorität nicht auf das Krankenhaus sondern auf den alternativen Dienst gelegt.

In einer 2. Phase der Reform, die jetzt ansteht, gilt es Alternativen wie Wohngemeinschaften, Wohnheime, Übergangsheime u.s.w., zu schaffen. Nur so läßt sich mit dem Problem „Großkrankenhaus“ fertig werden. Es ist zu begrüßen, daß die Bundesregierung in dieser Phase, also jetzt nach 6 – 7 Jahren sich endlich entschlossen hat, immerhin insgesamt 1/2 Milliarde Mark, verteilt über 4 – 5 Jahre auszugeben, um diesen Sektor zu fördern, um in Modellgebieten, verteilt in Bundesländern den Aufbau der alternativen Dienste zu fördern, um auszuprobieren, zu experimentieren und herauszufinden, was sich bewährt, wie es kostenmäßig zu bewältigen ist und was dann für das ganze Bundesgebiet systematisch übernommen werden kann. Die Langfristigkeit der Programme, die Dauer der Umsetzung und Realisierung löst vielfach Unmut aus. Die Ungeduld, die sich hier und überall zeigt, ist heilsam; wir müssen aber den Atem haben, um in dieser Sache auch langfristig zurecht zu kommen.

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