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Diskus­si­ons­thesen der DGVT zur Psychiatrie Reform

20. Dezember 1980

Dirk Zimmer

aus: Wege zu einer neuen Psychiatrie, Protokolle einer Tagung. HU-Schriften 9, München 1980, Seite 36 – 40

Angesichts der Entwicklung der Diskussion um die Enquete zur Lage der Psychiatrie, der Planungsstudie der Bundesregierung, dem vorgelegten Entwurf zum Psychotherapeutengesetz und der Bundestagsdebatte über die Psychiatrie Enquete ist bei der DGVT der Eindruck entstanden, dass das Bewusstsein nicht überall vorzufinden ist.

Zwar ist positiv zu vermerken, dass in der letzten Zeit die strenge Trennung von ambulanter und stationärer Versorgung gelockert wurde, und es ist begrüßenswert, dass die Bundesregierung Millionen für die Forschung im Bereich Therapie/Rehabilitation zur Verfügung stellen will. Dies ist jedoch kein hinreichender Grund dafür, dass begründbare, weiterreichende Reformen und mutige Schritte vermieden und auf die lange Bank geschoben werden.

Aus ethischen, gesellschaftspolitischen und ökonomischen Gründen ist das vorzufindende Versorgungssystem untragbar geworden. Große Geldmengen werden für ein wenig effektives System ausgegeben:

  1. Therapeutische Hilfen werden viel zu spät angeboten (kuratives Prinzip, kaum „Krisenintervention und Prävention).
  2. Immer noch wird zuviel in stationäre Einrichtungen investiert, anstatt öffentlich ambulante Dienste aufzubauen. Die Bettenzahl wird nicht schnell genug gesenkt.
  3. Stationäre Einrichtungen haben oft immer noch antitherapeutischen Charakter, architektonische Lösungen scheinen leichter als ein Umdenken zu neuen therapeutischen Konzepten.
  4. Die ambulante Versorgung wird weiterhin weitgehend auf der Basis des frei niedergelassenen Nervenarztes in der Einzelpraxis konzipiert (später auch Psychologen?).
  5. Für die vorzufindenden psychischen und sozialen Probleme erweisen sich oft medizinische und viele traditionelle Therapien als ineffektiv. Dennoch werden oft medizinische anstelle von psychologischen und sozitherapeutischen Maßnahmen erheblich mehr gefördert.
  6. Kosmetische Korrekturen wie der Entwurf zum Psychotherapeuten Gesetz oder der neu vorgelegte Entwurf eines Ersatzkassenvertrages verhindern weitreichende Neukonzeptionen.

Stichpunkte für eine Perspektive:

1. Zur strukturellen Entwicklung:

  1. Grundsätzlich fordert die DGVT Umverteilung der Gelder, um einen massiven Abbau der stationären Versorgung zugunsten eines massiven Ausbaues der öffentlich ambulanten Versorgung zu bewirken.
  2. Die öffentlich ambulanten Dienste sollen sich an sozialpsychiatrischen Konzepten orientieren, d.h. gemeindenah, gestaffelt und integriert sein, multiprofessionell arbeiten, frühzeitig intervenieren (d.h. auch Krisenintervention durchführen und präventive Aufgaben übernehmen), vorrangig Kurzzeit Therapien anwenden (u.a. vermehrt Verfahren aus der breiten Palette der Verhaltenstherapie), v.a. Hilfe zur Selbsthilfe geben und Selbsthilfepotentiale fördern, mobil sein und Angebote aufgrund der Bedürfnisse der Region planen.

Um diesen Zielen näher zu kommen, sind andere als die heute sichtbaren

2. planerische Aktivitäten

vonnöten. Zur Entwicklung eines Gesamtkonzeptes und zur längerfristigen Planung und Evaluation empfehlen wir die Einrichtung einer politischen Kommission des Bundes (ähnlich
dem NIMH = National Institute for Mental Health in den USA).

Die Planungen sollten

  1. eine gründliche Bedarfserhebung für Standardversorgungsgebiete anregen (hierzu will die Bundesregierung Modellgelder zur Verfügung stellen. Dabei sollte man vom traditionellen Denken in „Betteneinheiten wegkommen und die schwerpunktmäßige Verschiebung in Richtung auf stärkere Förderung öffentlich ambulanter Einrichtungen im Auge behalten.
  2. Vor allem im Bundesministerium für Arbeit und Soziales müssen neuere Konzepte zur Finanzierung alternativer und präventiver Angebote weitergedacht werden (Mischfinanzierung, Pauschalbezahlungen, Angestelltenstatus für Therapeuten).
  3. Auf Bundes und Länderebene müssen die gesetzlichen Grundlagen für eine dezentralisierte öffentliche Planung und Kontrolle geschaffen werden. Psychosoziale Ausschüsse, die aus psychosozialen Arbeitsgemeinschaften erwachsen könnten, sollen die notwendigerweise permanenten Anpassungsprozesse der Versorgungsangebote überwachen und kontrollieren.
  4. Die freie Einzelpraxis darf nicht als Grundmodell der ambulanten Versorgung angesehen werden.
    ·In die Bedarfsplanung müssen die Bedürfnisse der Betroffenen eingehen, eine reine Expertenplanung scheint problematisch.
  5. Notwendige berufsrechtliche Lösungen für die heilkundliche Tätigkeit unterschiedlicher Berufe müssen im Rahmen eines Gesamtkonzeptes vom Bund geschaffen werden, die Anpassung des § 368 der RVO ist nötig.

Neben diesen gesundheitspolitischen Perspektiven sieht die DGVT auch die Notwendigkeit zu einer

3. Änderung der therapeutischen Arbeit:

Generell scheint ein Umdenken notwendig, weg von einer biologisch-medizinischen, aber auch einer individualistisch-redaktionistischen Sichtweise zu einer stärker sozialwissenschaftlichen Orientierung hin.

  1. Es sollte ein stärkerer Druck zur Evaluation therapeutischer Verfahren und Institutionen entstehen, damit sich fortschrittliche und effektive Modelle besser durchsetzen können.
  2. Stärkere Lösung der Therapie (ob stationär oder ambulant) von den Institutionen, stärkere therapeutische Aktivitäten in den Familien zu Hause, am Arbeitsplatz und in der Schule. Hierbei können präventive Maßnahmen innerhalb der Lebensfelder besser geplant werden.
  3. Stärkere Einbeziehung von Laientherapeuten und Bezugspersonen.
  4. Starke Betonung des Teamgedankens: Multidisziplinär besetzte Teams mit Spezialisten unterschiedlicher Herkunft arbeiten ungleich effektiver und können bessere gegenseitige Supervision sichern.
  5. Stärkere Betonung der Vorsorge und frühzeitige Hilfe (Krisenintervention. Vorsicht jedoch vor Psychiatrisierung der Gesellschaft.
  6. Daher starke Unterstützung von Selbsthilfeaktivitäten, Betonung der Hilfe zur Selbsthilfe (wie z.b. in der Verhaltenstherapie angestrebt.
  7. Soweit noch stationär gearbeitet wird, soll der Klinikalltag als Lernmöglichkeit zum Erwerb der notwendigen Kompetenzen für eine bald mögliche Wiedereingliederung konzipiert werden. Restriktive Gestaltung ist, soweit möglich, zu verhindern.
  8. Die Patientenrechte müssen neu durchdacht werden. Analog zu Regelungen in den USA ist an die Einrichtung von Patientenanwälten, evtl. Ombudsmännern zu denken, um vor der Behandlung die Einwilligung des Klienten aufgrund von Informationen zu sichern. Der Druck auf Kliniken, multidisziplinäre Angebote sowie Therapien unterschiedlicher Ausrichtung anzubieten, die wissenschaftlich untersucht wurden und effektiv und unbedenklich erscheinen.
  9. Intensivere Ausbildung der verschiedenen Berufsgruppen in therapeutischen Verfahren und gemeinsame Erarbeitung von Basiskompetenzen scheint dringend nötig.

Die DGVT hofft, dass nicht nur Fachleute, sondern zunehmend die Betroffenen selbst, aber auch ihre Interessenvertreter, nämlich v.a. die Gewerkschaften und Krankenkassen sowie die Politiker das Bewusstsein der Dringlichkeit eines Umdenkens bekommen. Im Moment ist dieses Problembewusstsein sicherlich noch nicht genügend verbreitet.

Neben der Öffentlichkeitsarbeit jedoch hoffen wir auf die Ausstrahlung pragmatischer Reformen, die auch innerhalb des vorgegebenen rechtlichen Rahmens voll ausgeschöpft werden sollten (z.b. Einrichtung von Ambulanzen an Krankenhäusern. Wir hoffen weiterhin, dass positive Beispiele aus dem Ausland (z.b. Italien oder USA) dazu beitragen, die notwendigen Entwicklungen auch bei uns in Gang zu bringen.

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