Themen / Lebensweisen / Pluralismus / Tagungsprotokoll: Wege zu einer neuen Psychiatrie

Einleitung

02. Dezember 1980

Elisabeth Kilali

aus: Wege zu einer neuen Psychiatrie, Protokolle einer Tagung. HU-Schriften 9, München 1980, Seiten 2-7

Das Interesse, das unserer Tagung zur Psychiatriereform entgegengebracht wurde, war überraschend groß. Unsere Freude darüber wurde getrübt durch die Notwendigkeit, viele engagierte Bewerber abweisen zu müssen. Ein noch größerer Rahmen hätte jedoch die Möglichkeiten einer Arbeitstagung, in der durch Gespräch und Diskussion Meinungsbildungsprozesse angestrebt wurden und konkrete Arbeitsergebnisse erbracht werden sollten, bei weitem gesprengt.

Wir hoffen, daß wir dieses, in vielen Teilen der Bevölkerung erwachende Interesse an einer Reform der Psychiatrie als erste Anzeichen einer allgemeinen Hinwendung zur Humanität werten dürfen, als Ausdruck einer neuen Solidarität mit Benachteiligten und Leidenden und einer Sensibilität, die – wie Habermas es einmal ausdrückte – „auch die Verletzungen des fremden Schicksals registriert“.

Aber auch die zunehmende persönliche Betroffenheit mag eine Rolle spielen, denn die Arroganz derer, die sich für völlig normal und absolut gesund halten, scheint anmaßend angesichts hochkomplizierter zivilisatorischer Lebensbedingungen, die allzu oft menschliche Natur mißachten, menschliche Anpassungsfähigkeit überstrapazieren und kaum jemanden unbeschadet lassen. In einer gesellschaftlichen Ordnung, die auf dem Wettbewerbsgedanken basiert, statt der zwischenmenschlichen Kooperation die Vereinzelung des Individuums provoziert, in der nicht Phantasie und Kreativität, sondern Funktionstüchtigkeit und Robustheit dominieren, werden – möglicherweise unverrückbare – anthropologische Grundkomponenten ignoriert zugunsten völlig einseitiger Belastungen. Eine Zunahme psychischer Erkrankungen ist die unausweichliche Folge; der Zustand von Lädiertheit zeigt allenfalls graduelle Unterschiede. Nur scheinbar hat sich das strenge normative Gefüge, das normal und anormal, gesund und krank definiert, in letzter Zeit gelockert. So mag es z.B. eine etwas größere Toleranzbreite in bestimmten Bereichen abweichenden Sexualverhaltens geben, die Anforderung an die Anpassungsfähigkeit und Funktionstüchtigkeit des Einzelnen ist unerbittlicher denn je. War früher ein Gestörter oder Behinderter insbesondere in ländlichen Gegenden noch integrierter Bestandteil seiner Gemeinde und Familie, so fällt er heute bereits durch den Raster der Vorstellung von Vollwertigkeit und Nützlichkeit und gerät damit in ein Selektionsverfahren, das in unserer Gesellschaft durchgängiges Prinzip ist. Speziell der psychisch Kranke, behaftet mit dem Odium des Versagers, unverstanden und daher unberechenbar und unheimlich in seinen Äußerungen und Reaktionen, löst Unsicherheit und Angst aus und wird daher in ein Ghetto verbannt, dessen Nähe zum Strafvollzug unverkennbar ist, in psychiatrische Großkliniken, die in ihrer Abgeschiedenheit vielfach jene Mechanismen von Machtausübung und menschlicher Entmündigung und Entwürdigung erhalten konnten, die sich in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen entweder nicht mehr oder in weit subtilerer Form abspielen. Psychiatrische Großkliniken sind Anachronismen aus einer Zeit, als sich Herrschaftsansprüche über Menschen noch unmittelbar aus der Vorstellung über deren vorgebliche Unfähigkeit zur Selbstbestimmung herleiteten.

Als 1975 die Ergebnisse der Enquete-Kommission vorgelegt wurden, die unverblümt von „elenden und menschenunwürdigen“ Lebensumständen sprachen, hätte man erwarten müssen, daß sich ein wahrer Erdrutsch ereignet, daß ein fieberhafter Eifer einsetzen würde, solche Schandflecke innerhalb eines sozialen Rechtsstaates zu beseitigen. Statt dessen geschah zunächst gar nichts, denn schließlich handelt es sich um ein Minoritätenproblem, das generationenlang gern aus dem öffentlichen Bewußtsein verdrängt wurde, so daß ein besonderes Engagement in dieser Richtung kaum eine Honorierung durch die Bevölkerung in Form von Zuwachs an Wählerstimmen garantieren würde. Hinzu kommt eine hierzulande allgemein verbreitete Rigidität gegenüber grundlegenden Reformen, eine Schwerfälligkeit im Umdenken und eine fundamentale Angst vor allem, was experimentellen Charakter hat. Auf mutige Versuche im Ausland weiß man nur zu antworten, daß diese natürlich auf unsere Verhältnisse nicht zu übertragen seien, selbst wenn die gesellschaftspolitischen, historischen und ökonomischen Bedingungen eines Landes durchaus vergleichbar oder sogar ungünstiger als die unsrigen sind. Mit großer Genugtuung werden Fehlschläge registriert als Beleg dafür, daß „es so natürlich nicht geht“. Dabei haben wir, da wir im Bereich der Psychiatriereform im internationalen Vergleich ohnehin hinterherhinken, die einzigartige Chance, aus den Erfahrungen anderer zu lernen, d.h. wir können grundlegende Reformen wagen, ohne dabei bereits gemachte Fehler zu reproduzieren. Konkret bedeutet dies: Auflösung der psychiatrischen Großkliniken bei gleichzeitigem Ausbau alternativer Einrichtungen, denn niemand kann wollen, daß Hilfsbedürftige sich selbst überlassen und damit der Verwahrlösung ausgesetzt werden oder daß psychisch Kranke einfach in jenes Milieu zurückgeworfen werden, das ihre Krankheit verursacht hat.

Das Erstaunliche ist, daß alle guten reformerischen Gedanken längst ausgesprochen sind, daß es nicht an Vorschlägen, Konzepten und Forderungen fehlt. Was aber verhindert deren Realisation? – Da ist zunächst ein großes Informationsdefizit in der Bevölkerung und von daher kein Verständnis für Integrationsbemühungen. Aber da sind auch etliche konservative Klinikdirektoren, die ihre Großkliniken verwalten wie streng hierarchisch geordnete Imperien, für die es eine Prestigeangelegenheit ist, über wie viele Patienten, sprich „Betten“, sie residieren. Da ist auch insgesamt die erdrückende Mehrheit konservativer Mediziner, mit ausgeprägtem Rollenbewußtsein und naturwissenschaftlich verengter Sicht vom Menschen, die selbst die Ursachen psychischer Erkrankung überwiegend im Physiologischen ansiedeln möchte und der psychosozialen Komponente kaum Beachtung schenkt. Da sind Behörden, die davon ausgehen, daß es kostensparender ist, bestehende Einrichtungen zu renovieren und daß man Altbewährtes nicht gleich total zerschlagen müsse, zumal fast jede psychiatrische Großklinik erst kürzlich mit einem neu angebauten Renomiertrakt ausgestattet wurde. – Als es im bildungspolitischen Sektor geboten schien, im umgekehrten Sinne die Zwergschulen, die sich als Sackgasse erwiesen hatten, der Zentralisierung in Mittelpunktschulen zu opfern, waren Kultusministerien und Gemeinden bereit, eine völlig neue Kursrichtung einzuschlagen. Eine ähnliche Flexibilität und Handlungsbereitschaft lassen Gesundheits- und Sozialbehörden bisher vermissen. Schließlich sind auch die Parlamentarier in Bund und Ländern aufgerufen, längst überfällige Gesetzesänderungen in Angriff zu nehmen, was freilich eine sehr gründliche Auseinandersetzung mit einem höchst schwierigen und bisher nicht ausreichend populären Sujet voraussetzt.

Was veranlaßt nun eine Bürgerrechtsorganisation wie die HUMANISTISCHE UNION sich für eine Reform der Psychiatrie zu engagieren? Wir sind der Auffassung, daß sich an den sozialen Brennpunkten wie z.B. der Psychiatrie mit besonderer Deutlichkeit zeigt, wie es mit den Rechten des Bürgers in einem Lande bestellt ist. Der Grad der Humanität einer Gesellschaft läßt sich vor allem daran messen, wie sie mit ihren normativen Abweichlern jeglicher Art verfährt. Wir sehen in der herkömmlichen Praxis der Abschiebung und Verwahrung psychisch Kranker einen Verstoß gegen das Recht auf Menschenwürde, gegen das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, gegen das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Grundgesetz, Art. 1 und 2).

Die Tagung in Mainz diente uns dazu, einen Überblick über die bestehende Situation, umfassende Einsichten in notwendige Reformen und Argumentationshilfen von fachlich kompetenter Seite zu gewinnen. Wir möchten durch öffentliche Veranstaltungen und Publikationen zu Multiplikatoren werden und politisch Einfluß nehmen, wo immer uns dies möglich ist. Gewiß haben Expertentagungen dieser Art auch einen entscheidenden Nachteil. Man spricht § b e r und f § r einen Personenkreis, statt ihm die Möglichkeit zu geben, sich selber zu artikulieren. So waren denn auch in Mainz die eigentlich Betroffenen, die Patienten, mit nur zwei Vertretern gegenüber 14 Experten deutlich unterrepräsentiert. Was uns bewogen hat, an dieser eher konventionellen Form einer Arbeitstagung festzuhalten, war keineswegs die Vorstellung, psychisch Kranke seien grundsätzlich nicht in der Lage, die bestehende Situation objektiv darzustellen und ihre Bedürfnisse angemessen mitzuteilen, sondern eine Konzession an unsere Adressaten. Was wiegen in der Öffentlichkeit, was bedeuten bei Politikern und Behörden die – wenngleich noch so zutreffenden – Aussagen psychisch Kranker gegenüber den Aussagen einer Anzahl namhafter Fachleute? Dennoch ist nicht zu leugnen, daß wir uns damit weitgehend im üblichen Fahrwasser der Fremdbestimmung und des Ausschlusses psychisch Kranker aus dem öffentlichen Leben bewegen, dem allgemeinen Bewußtsein nur insoweit voraus, daß wir bereit sind, uns dies einzugestehen.

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