Themen / Lebensweisen / Pluralismus / Tagungsprotokoll: Wege zu einer neuen Psychiatrie

Erfahrungen aus der italie­ni­schen Psycha­trie-Re­form

10. Dezember 1980

Lorenzo Toresini, Triest

aus: Wege zu einer neuen Psychiatrie, Protokolle einer Tagung. HU-Schriften 9, München 1980, Seite 19 – 22

Toresini wer als Psychiater von Anfang an bei der Reform der italienischen Psychiatrie beteiligt und hat an der Auflösung psychiatrischer Kliniken mitgewirkt. Bei einem Kongress in Arezzo sprach Kaplan, USA, vom italienischen Wunder, was weniger ein Ausdruck des Lobes war, sondern in einer eher pessimistischen Weise zu verstehen ist, d.h. dass die Möglichkeit der Verwirklichung einer solchen Reform dermaßen gering ist, dass man es als Wunder bezeichnen müsste, wenn sie wirklich gelänge.

Die Frage der Psychiatrie-Reform lässt sich nicht auf die mechanische Anwendung eines Gesetzes reduzieren. Das Gesetz selbst stellt vielmehr den Ausgangspunkt einer Bewegung dar. Am Anfang waren es die Verwalter der Ausgliederung, die als einzige Möglichkeit der Überwindung ihrer Isolation. die wissenschaftlichen Debatten beendeten und die Schrecken der Praxis
an die Öffentlichkeit brachten. Sie entfachten eine öffentliche Diskussion und erhielten erste Zustimmung. Zum bestimmenden Faktor wurde die Verpflichtung zum praktischen Handeln. Die Bewegung suchte die Verbindung mit offiziellen Kräften der politischen Linken, insbesondere der KPI als ein Element der Stützung und praktischen Hilfe.

In der theoretischen Konzeption kam man zu der Überzeugung, dass man nicht abwarten muss, bis sich die sozioökonomischen Verhältnisse eines Landes verändert haben. Man fand es notwendig, direkt von der Praxis auszugehen, um die Kritik der alltäglichen Lebensbedingungen innerhalb des Systems voranzutreiben. Als einmal erkannt war, dass der Mechanismus der Gettoisierung und Psychiatrisierung der Nichtangepassten durchbrochen werden muss, blieb nur noch, die guten Vorsätze in die Tat umzusetzen.
Die Psychiatrie war und ist ein wissenschaftliches Problem, auch dann, wenn wir provisorisch vom Begriff „Krankheit“ absehen, weil wir von größeren praktischen Problemen und Bedürfnissen gedrängt werden. Das Losbinden eines Kranken ist ja eine Geste, die von der endogenen oder nicht-endogenen Natur der Erkrankung absieht, denn es geht von der sehr einfachen Betrachtung aus, dass der Kranke ein Mensch wie alle anderen ist und ebenso behandelt werden muss. Dies schafft eine neue Kommunikation zwischen Arzt und Patient, die nichts mehr mit Kontrolle des einen durch den anderen. zu tun hat. Das ist der Beginn eines Prozesses, an dessen Ende Arzt und Patient die Ursachen der Krankheit verstehen, während früher das Krankheitsbild vorab definiert wurde. Der Verzicht auf das Verstehen führte zur angeblichen Unverständlichkeit psychischer Erkrankungen. Jedes wissenschaftliche Konzept hat zugleich ein politisches Gewicht, so ist die Frage nach der exogenen oder endogenen Verursachung psychischer Erkrankung von großer Relevanz.
In Triest begann die Geschichte der Institutionalisierung mit dem geschlossenen Irrenhaus, mit einer Population, die alle Bürgerrechte verloren hatte. Es ging also bei der Reform um die Wiederherstellung der Identität der Eingeschlossenen. Das löste viele nicht logische und chronologisch aufeinanderfolgende Schritte aus. Von der Beseitigung des Dek rets der endgültigen Internierung bis zur Wiederherstellung der Persönlichkeit z.b. durch Ausstattung mit individueller Kleidung und bis zur Wiedererlangung der Geschäftsfähigkeit, war ein langer Weg. Gleichzeitig wurde die Bevölkerung von Triest in diesem Prozess einbezogen. Man hörte dem Kranken zu und unterstützte ihn bi seinem Bemühen um ‚Niedereingliederung. Man
bemühte sich, den Inhalt seiner Sprache zu entziffern. Die Fähigkeit der Verbalisierung wer oft durch lange Hospitalisierung verschüttet. Die Krankheit bekam immer mehr Sinn, der Sinn nahm die Form einer Bitte an, die Bitte äußerte sich immer häufiger in konkreten Begriffen von Bedürfnissen. Dabei stieß man an Grenzen, denn die Befriedigung vieler Bedürfnisse lag nicht mehr in den Möglichkeiten der Pfleger und Ärzte.

Foucault schreibt: „Das Krankenhaus wie die Zivilisation ist ein künstlicher Ort, in dem Krankheit, sobald sie dort hineingebracht wird, das Risiko eingeht, ihren wesentlichen Ausdruck zu verlieren. Sie begegnet dort sofort einer Form der Komplikation, welche die Ärzte Gefängnis oder Krankenhausfieber nennen. Tatsächlich gibt es keine reine Form der Hospitalkrankheit. Der natürliche Ort der Krankheit ist die Familie als der natürliche Ort des Lebens. Die Sanftheit der spontanen Heilung, Bezeugung des Gefühle eines allgemeinen Wunsches nach Genesung, alles dies kommt zusammen, um der Natur zu helfen.“ Der Krankenhausarzt sieht nur die gebrochenen, veränderten Krankheiten. Der Arzt, der zu Hause heilt, erreicht in kurzer Zeit eine wahre Erfahrung, gebaut auf dem natürlichen Phänomen jeglicher Form von Krankheit.
Wenn Wege zu einer neuen Psychiatrie gesucht werden, so heißt das, dass die psychiatrische Assistenz lediglich verbessert wird und damit das Problem ohne Zweifel auf eine falsche Weise gesehen wird, denn die Psychiatrie kann nicht verbessert werden. Eine Humanisierung der Psychiatrie würde bedeuten, die Praxis des Inhumanen humanisieren zu wollen. Das gilt nicht nur für die Institutionen, für Zwangseinweisungen und Schocktherapien, sondern auch für die ambulante Praxis, wenn sie verstanden wird als Verdoppelung des Dienstes, da die Institutionen aufrecht erhalten werden. So erhält man auch die Verdoppelung der Krankheiten.
Hinsichtlich der Übertragbarkeit der italienischen Psychiatrie-Reform auf deutsche Verhältnisse scheint im Moment vorwiegend eine Gesetzesinitiative im Blickpunkt zu stehen. Aber dies ist nur die eine Saite der Reform und nicht die entscheidende. Das Wesentliche ist, eine praktische Bewegung ins Leben zu rufen. Bündnisse solcher Bewegungen z.b. in Italien und in der Bundesrepublik sind sinnvoll, denn die Bewegung insgesamt muss die nationalen Grenzen überwinden. Man kann nicht von Psychiatrie reden, ohne von Politik zu sprechen; von Italien aus nimmt man mit Sorge, aber auch mit Hoffnung wahr, was sich in der Bundesrepublik abspielt.

Toresini nahm vor Jahren im Rahmen einer Exkursion an der Besichtigung einer psychiatrischen Klinik in Wien teil. Er sah eine Abteilung mit 200 Kindern im Alter von 2 bis 16 Jahren, von
denen 90 % ihre Kindheit im Bett festgebunden oder in Zwangsjacken verbrachten, deren Mortalität 50 % betrug. Zur Zeit des Nationalsozialismus praktizierte man in dieser Abteilung ganz regulär die Euthanasie. Die zwingende Parallelität versteht sich von selbst. Die Diskussion mit dem medizinischen Personal und dem Direktor der Klinik hat dazu geführt, dass Konsequenzen gezogen wurden und sich dieses Irrenhaus veränderte. Heute besteht in seinem Inneren eine Bewegung, die solche Zustände nicht mehr dulden würde.
Durch die öffentliche Anklage der Missbräuche in der Psychiatrie lässt sich jene politische Kraft wecken, die Veränderungen bewirken kann.

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