Themen / Lebensweisen / Pluralismus / Tagungsprotokoll: Wege zu einer neuen Psychiatrie

Gedanken zur Situation der Betroffenen

18. Dezember 1980

Emil Thiemann

aus: Wege zu einer neuen Psychiatrie, Protokolle einer Tagung. HU-Schriften 9, München 1980, Seite 33 – 34

Thiemann bedankte sich bei Christa der Patientin, da sie ausgesprochen hatte, was auch seinen Unmut erregte, dass nämlich von den betroffenen Menschen, ihren Nöten, ihrer Zerrissenheit und ihren Zweifeln bisher gar nicht gesprochen wurde. Alle Reformen gehen davon aus, dass da eine feste Gegebenheit ist, dass zwar diesen Menschen, den Kranken, eine bessere Lebensmöglichkeit gegeben werden soll, eine bessere Möglichkeit sich einzurichten in den Nischen und Sackgassen, die Reformen ja aufrechterhalten, dass man aber nicht versucht, den Menschen in seinem Anderssein zu begreifen und seine verschütteten Möglichkeiten zu wecken. Wahrscheinlich können insbesondere die Experten dies nicht, weil sie bereits eine Rolle übernommen haben, die es nicht mehr erlaubt, Unmittelbarkeit zu erleben. Der Mensch lebt seit der Instinktentbundenheit in einer Widersprüchlichkeit. Er ist vor die Wahl gestellt, dieses oder jenes zu tun, Entscheidungen zu treffen, für die er noch keine Maßstäbe hat. Die kann er nur gewinnen, indem er sich hineinbegibt in das Leben, indem er handelt und Irrtümer dabei in Kauf nimmt, indem er sich mit Schuld belädt und Leid erfährt. Dabei läuft er Gefahr, die eine Seite des Widerspruches, die für ihn nicht erträglich ist, zu verdrängen. Wenn dieses Verdrängte, das nicht kompatibel ist, sich in sein Bewusstsein schiebt, wird die Gefahr um so größer, in Projektion zu verfallen und den Wahn zu erzeugen. Aber wo der Mensch hingestellt wird innerhalb seines Sozialisationsprozesses, das ist dann Angelegenheit der gesellschaftlichen Bezüge, die viel wahnwitziger sind, als wir es begreifen. Wenn wir es begreifen würden, müssten wir wahrscheinlich auch wahnsinnig werden. Diese gesellschaftlichen Bezüge, das, was wir Normalität nennen, ist furchtbar und gewalttätig. Eigentlich müssten wir dem Patienten diese Situation darstellen, wenn wir ihn in gewisser Weise „heil“ machen wollen, ihn einer Ganzheit zuführen wollen, etwa das nie völlig erreicht werden kann und eine ungeheure Aufgabe darstellt. Es wurde bereits gesagt, dass Selbstverwirklichung ein ganz gefährlicher Begriff ist. Wenn man sich selbst verwirklicht, wohin dann eigentlich? Immer in die gleiche Richtung? Dann würde man ja erstarren.
Aber Selbstbestimmung, Kreativität und ähnliches kann man nur in kleinen Gemeinschaften erreichen, wie es sie in den psychiatrischen Anstalten z.b. nicht gibt. Bei einer anderen Gesinnung  könnte man selbst in diesen großen Einrichtungen sehr wohl Gemeinschaften formieren, in denen es möglich wäre, so etwas wie ein Solidaritätsgefühl und ein Verantwortungsbewusstsein für sich und alle zu entwickeln. Da ihm dies in der Klinikarbeit unmöglich gemacht wurde, zog Thiemann daraus die Konsequenz, eine therapeutische Wohngemeinschaft zu gründen. Wenn die Patienten jedoch wieder nach Hause entlassen werden, stehen sie da, ohne Geld, ohne Lobby und verfallen oft der Resignation. In der gesamten sozialen Arbeit macht sich zur Zeit diese Resignation breit. Dafür wird viel Tünche darauf verwandt, diesen unseren angeblichen Sozialstaat zu rechtfertigen.

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