Themen / Lebensweisen / Pluralismus / Tagungsprotokoll: Wege zu einer neuen Psychiatrie

Psycho­so­ziale Arbeits­ge­mein­schaften

07. Dezember 1980

Horst-Eberhard Richter

aus: Wege zu einer neuen Psychiatrie, Protokolle einer Tagung. HU-Schriften 9, München 1980, Seite 14 – 16

Richter schickte seinem Referat einige Gedanken voraus. Er schloss sich den Ausführungen Dörners in bezug auf die Haltung der Gesellschaft zum leidenden Menschen an, fand es aber falsch, die Euthanasie des 3. Reiches mit Mitleid in Verbindung zu bringen, denn dies sei gerade ein Ausdruck der Unfähigkeit zum Mitleiden.
Richter sprach sich außerdem dagegen aus, Psychoanalyse im Zusammenhang mit jenen stark eingreifenden und disziplinierenden psychiatrischen Maßnehmen zu sehen wie etwa Schocktherapien. Die Entstehung der Psychoanalyse entsprang einem Bedürfnis nach Wahrung der inneren Freiheit, die durch den Druck der Entfremdung in der industriellen Massengesellschaft in Bedrohung geraten ist. So waren viele frühe Psychoanalytiker zugleich auch gesellschaftspolitisch engagiert. Davon ist leider wenig übriggeblieben. Heute ist Psychoanalyse oft Ausdruck einer elitären Alternativkultur. Wer es sich leisten kann, versucht sich auf diesem Wege selbst zu verwirklichen, ohne dass dies Auswirkungen in der Gesellschaft zeigt.

Zur Frage, was in diesem Kreis, auf dieser Tagung bewirkt werden könne, stellte Richter fest, dass es stets eine sehr gute Verständigung zwischen einem interessierten Teil der Öffentlichkeit, den Praktikern der psychiatrischen Arbeit und den Betroffenen, also den Patienten gibt, dass jedoch die Vertreter der Institutionen, der administrative Ebene und der Verb3nde, die letztendlich eis Macht haben und für die Durchsetzung der Reformen zuständig sind, kaum erweicht werden können und sich der Diskussion weitgehend entziehen, denn das Pflichtbewusstsein dieser Leute richtet sich auf das reibungslose Funktionieren der heute bestehenden Einrichtungen und alle Änderungsvorschläge wie z.B. Ersparnis im stationären Bereich durch Verstärkung präventiver Ausnahmen werden als Bedrohung empfunden. Im Referat von Kulenkampff – so Richter – klang auch an, dass es da sehr viel weniger um die Bedürfnisse von Menschen als um Geld, Verordnungen, juristische Aspekte und das Funktionssystem der Betriebe geht. Die positive Einschätzung der bisherigen Veränderungen durch Kulenkampff mochte Richter nicht teilen. Symptomatisch erschien ihm, dass es 4 Jahre gedauert hat, bis sich der Bundestag endlich mit den Ergebnissen der Enquete-Kommission beschäftigt hat und dass an jenem Tag die Bank der Ländervertreter komplett leer wer. Die Erarbeitung von Papieren als solche stellt noch keinen politischen Effekt dar, absorbiert jedoch eine Menge reformerischer Energien.

Psychosoziale Arbeitsgemeinschaften sind ein Beispiel dafür, dass an der Basis in Form von Selbsthilfeorganisationen innerhalb eines gewissen Spielraumes, einiges geleistet werden kann. Es handelt sich um die über-professionelle Kooperation von Praktikern auf kommunaler oder regionaler Ebene. Dies überschreitet bei weitem die Grenzen dessen, was man gemeinhin unter psychiatrischer Betreuung versteht. Wichtig ist dabei zunächst eine Orientierung an den Bedürfnissen der Betroffenen. In Gießen, wo eine solche psychosoziale Arbeitsgemeinschaft seit 6 Jahren besteht, sind Vertreter aus insgesamt 80 Institutionen beteiligt, die, obgleich sie z.t. desselben Trägern unterstellt sind, vorher kaum voneinander wussten, geschweige denn miteinander kooperiert hätten. Vielmehr hatte jeder in einer gewissen Isolation in seinem speziellen Bereich fungiert, verantwortlich nur der jeweils übergeordneten Stelle im hierarchisch-bürokratischen Gefüge. In Gießen hatte man damit begonnen, alle Einrichtungen anzuschreiben, die in irgendeiner Form mit den Problemen psychosozial Gefährdeter und Behinderter befasst waren mit dem Ziel, alle jene Praktiker, die mit den gleichen Menschen, den gleichen Familien und letztendlich auch mit den gleichen Aufgaben betraut sind, zusammenzubringen, um miteinander zu reden, sich gegenseitig zu unterstützen und zu helfen, schließlich auch um gemeinsam politisch tätig zu werden, z.8, wenn es darum geht, Veränderungen zu initiieren und durchzusetzen. Die Giessener Gruppe trifft sich zur Zeit einmal monatlich zu einem Plenum. Daneben arbeiten Untergruppen z.8. in den Bereichen Psychiatrie, Beratungswesen, Heimwesen und Randgruppen. In ländlichen Bezirken wiederum treffen sich lokale Arbeitskreise, die sich mit den speziellen regionalen Problemen befassen. Zweimal jährlich trifft man sich zu Wochenendtagungen, bei denen man sich auch auf persönlichmenschlicher Ebene begegnet und nicht ausschließlich als arbeitendes Wesen.

In diesen psychosozialen Arbeitsgemeinschaften – in der ganzen Bundesrepublik gibt es bereits 60 davon – lernt man von einer Fetischisierung einzelner Methoden abzusehen und auf dem Weg über eine Despezialisierung und Deprofessionalisierung mit einem Minimum an Intervention ein Maximum an Selbsthilfe in Gang zu setzen. So erfahren alle Selbsthilfegruppen Unterstützung durch die psychosozialen Arbeitsgemeinschaften. Ferner gilt es,
die Barrieren zwischen den einzelnen Berufsgruppen abzubauen und den Patienten nicht unter einem Teilaspekt, sondern in seinem gesamten sozialen Gefüge zu sehen. Dies bedeutet oft, aus der Institution heraus in die Familie zu gehen. Es wird darauf hingewirkt, dass die sonst üblichen mehrmonatigen Wartezeiten entfallen. Je wirkungsvoller eine psychosoziale Arbeitsgemein
und Behörden. Wenn es z.b. gelingt, die Schließung von nützlichen Einrichtungen oder die Personalkürzung in Beratungsstellen zu verhindern, wird dies schon als bedrohliche, subversive Tätigkeit betrachtet. Konservative Träger sehen ihre Mitarbeiter durch die psychosozialen Arbeitsgemeinschaften ideologisch gefährdet und versuchen, deren Teilnahme an Zusammenkünften zu verhindern. Dem kann nur durch ein hohes Maß an Solidarität an der Basis standgehalten werden.

nach oben