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Thesen zur Diskussion über die Psychiatrie Reform

15. Dezember 1980

Maria Rave – Schwank

aus: Wege zu einer neuen Psychiatrie, Protokolle einer Tagung. HU-Schriften 9, München 1980, Seite 29 – 31

  1. Die Verkleinerung der psychiatrischen Krankenhäuser ist ein Arbeitsziel, weil die Größe des Krankenhauses (in der BRD 600 bis 3.000 Betten) die Behandlung negativ bestimmt.
    Dasselbe gilt für die Größe der Stationen (heute bis zu 70 Patienten), weil dabei individuelle Behandlungs- und Rehabilitationspläne fast unmöglich sind (zu viele und zu häufig wechselnde Bezugspersonen, zusätzlich durch Verlegungen von Patienten innerhalb einer Einrichtung vermehrt). Dabei ist gerade eine kontinuierliche und verlässliche Beziehung zu therapeutischen Mitarbeitern eine wichtige Behandlungsvoraussetzung.
  2. Die Krankenhäuser sind auch Prügelknaben der Nation geworden, weil die Gesellschaft erst jetzt anfängt, zu realisieren, dass sie Menschen aussondert und nichts für sie tut. Das schlechte Gewissen über die von der Gesellschaft betriebene Aussonderung wird nicht oder noch nicht offen zugegeben und wird dagegen in aggressiver Form durch ständige Kritik an den Institutionen abgeleitet. Die Kritik an den Missständen in Anstalten ist so gesehen eher scheinheilig und vordergründig. Sie ist eine Kritik der Symptome und nicht der Ursachen.
  3. Will man die großen psychiatrischen Krankenhäuser verkleinern oder gar schließen, so muss man die Funktionen, die sie in der Bundesrepublik zur Zeit ausüben, in die Gemeinden verlagern. Es ist wichtig, diese unangenehmen Funktionen vor Augen zu haben:
    a) Schutz der Öffentlichkeit:
    In den forensischen Abteilungen sind ca. 4.000 psychisch Kranke, die durch Gewalttaten, vor allem aber kleinere Diebstähle und Sexualdelikte straffällig wurden, untergebracht. Zur Zeit werden sie in Sondereinrichtungen abgesondert. Wo sollen sie in der Gemeinde hin?
    b) Schutz vor Verwahrlosung und Siechtum:
    In den Altersabteilungen und Langzeitabteilungen gibt es viele Patienten, die aufgrund von allgemeinem Kräfteverfall und aufgrund von Verwirrung, Altersabbau etc. nicht in der Lage sind, alleine zu leben. Wer soll in der Gemeinde für sie sorgen?
    c) Schutz vor Selbstgefährdung:
    In den geschlossenen Abteilungen der psychiatrischen Krankenhäuser gibt es Menschen, die sich selbst töten wollen und eines Schutzes bedürfen. Wer nimmt sie in der Gemeinde auf?
    d) In den Landeskrankenhäusern leben ca. 10.000 nicht mehr akut kranke Menschen, die aus sozialen Gründen ein beschütztes Zuhause brauchen. Beschützte Wohnangebote mit mehr oder weniger Betreuung, Geld für den Lebensunterhalt, Beschäftigungs- und Arbeitsangebote sind nötig. Wer bietet dies in der Gemeinde? Erhebungen über den Heimsektor (Kunze) und den Übergangssektor (Stiftung Rehabilitation) zeigen, dass ein Defizit an sinnvoller Tagesgestaltung und Arbeit in den entsprechenden kleinen gemeindenahen Einrichtungen besteht. Viele Heime sind letzten Endes nichts anderes als in die Gemeinde gelegte Langzeitstationen.
  4. Wer die Großkrankenhäuser ernsthaft abbauen, verkleinern oder beseitigen Will, muss zugeben, dass in der Übergangphase von mindestens 10 Jahren zusätzliche Kosten entstehen. Es muss nämlich ein neues, gemeindenahes System aus differenzierten kleinen Einrichtungen aufgebaut werden, ohne dass gleichzeitig das alte System beseitigt werden kann. Nur auf lange Sicht hin, ist die gemeindenahe Versorgung billiger.
  5. Alle Verkleinerungsbemühungen, die sich nicht auch an den Interessen der schätzungsweise 40.000 Mitarbeiter der Landeskrankenhäuser orientieren, sind von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil sie unmenschlich sind und auf den Widerstand der Mitarbeiter und der Gewerkschaften stoßen. Dies Problem wird von der Öffentlichkeit, aber auch von der Fachwelt hier kaum reflektiert. Dagegen wurde es in Italien. von vornherein in die Politik eingebaut, die sowohl Mitarbeiter als auch Patienten berücksichtigt.
  6. Wer Landeskrankenhäuser verkleinern will, muss paradoxerweise zunächst den Personalbestand der Landeskrankenhäuser erhöhen. Die Rehabilitationsbemühungen müssen nämlich dort beginnen.

Diesen Widerspruch kann man vielleicht dadurch lösen, dass Mitarbeiter für bestimmte Aufgaben mit dem Auftrag und Vertrag eingestellt werden, später ihren Arbeitsplatz zu wechseln und mit den Patienten in die Gemeinde überzusiedeln (Umzugsprojekte).

  1. In den Landeskrankenhäusern leben auch unbequeme Zeitgenossen, in England Psychopathen genannt, hierzulande mit der Bezeichnung des Asozialen und Dissozialen belegt. Sie werden von sozialpsychiatrischen Übergangseinrichtungen als „unmotiviert“, „nicht reflektiert“, „nicht geeignet“ abgelehnt. Diesen „unbequemen“ Menschen müssen wir uns stellen, auch sie gehören zum Problem der gemeindenahen Psychiatrie.
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