Beitragsbild Bundeswehr: Abschied von der Friedensstaatlichkeit?
Themen / Frieden

Bundeswehr: Abschied von der Friedens­staat­lich­keit?

28. April 2006

Im Mai 2006 veröffentlichte das Bundesverteidigungsministerium den Entwurf eines neuen Weißbuchs der Bundeswehr. Zwölf Jahre nach dem letzten Weißbuch beschreibt es die Aufgaben der Bundeswehr angesichts neuer Bedrohungen und einer geänderten sicherheitspolitischen Weltlage. Die Humanistischen Union (HU) kritisiert an dem Entwurf vor allem, dass die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik unter der Maßgabe von Wirtschaftsinteressen bestimmt wird – anstatt sich an den friedenspolitischen Vorgaben des Grundgesetzes zu orientieren. Trotz der Bekenntnisse zur Verteidigungsfunktion der Bundeswehr, zur Anerkennung der Völkerrechte und der friedensstiftenden Wirkung der UNO sieht die HU im Weißbuch und der angekündigten Verfassungsänderung eine zunehmende Militarisierung deutscher Politik.

Bundeswehr: Abschied von der Friedensstaatlichkeit?

Stellung­nahme zum Entwurf eines „Weißbuchs zur Sicher­heits­po­litik Deutsch­lands und zur Zukunft der Bundeswehr“ vom 28. April 2006

Im Mai 2006 wurde der Entwurf des Bundesverteidigungsministeriums für ein „Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr“ in der Öffentlichkeit bekannt. Grundsätzlich ist es zu begrüßen, dass die Perspektiven für die deutsche Verteidigungs- bzw. Militärpolitik in einem neuen Grundlagentext ausführlich dargestellt werden, nachdem das letzte Weißbuch zu dieser Thematik 1994, also bereits vor über einem Jahrzehnt, veröffentlicht wurde. Es ruft jedoch gravierende Bedenken hervor, dass im Mittelpunkt des neuen Entwurfs anstelle der bindenden Vorgaben unserer Verfassung politisch definierte, weltweite „deutsche Interessen“ stehen.

1. Die Aufga­ben­stel­lung der deutschen Bundeswehr als Teil der „voll­zie­henden Gewalt“ ergibt sich aus den expliziten Vorgaben der Verfassung. Statt dessen definiert der Entwurf des Weißbuchs die Aufgaben der Bundeswehr nach Maßgabe der globalen „deutschen Interessen“.

Als Reaktion auf den inhumanen und kriegerischen Charakter des NS-Regimes bringt das 1949 verabschiedete Grundgesetz die Absage an den Krieg und die Gewaltanwendung gegenüber anderen Völkern in mehreren Normen explizit zum Ausdruck: So verbietet das Gebot der Friedenstaatlichkeit, Artikel 26 Grundgesetz (GG), jegliche Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker und schon die Vorbereitung eines Angriffskriegs. [1] Artikel 25 GG verleiht den „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ Vorrang vor den Gesetzen der Bundesrepublik. Zu diesen „allgemeinen Regeln“ gehört nach einhelliger Meinung auch das in Artikel 2 Ziffer 4 der UNO-Satzung verankerte Gewaltverbot. [2] Ferner ermächtigt das Grundgesetz in Artikel 24 Absatz 2 den Bund zur Einordnung in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit, dessen Zweck die „Wahrung des Friedens“ ist. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 22. November 2001 die Bedeutung dieser verfassungsmäßigen Zweckbestimmung hervorgehoben. Danach ist „auch die Umwandlung eines ursprünglich den Anforderungen des Artikel 24 Absatz 2 GG entsprechenden Systems in eines, das nicht mehr der Wahrung des Friedens dient oder sogar Angriffskriege vorbereitet“, verfassungsrechtlich untersagt. [3]

Im Einklang mit diesen Vorgaben beschränkt Artikel 87 a GG den Handlungsrahmen der deutschen Streitkräfte auf die „Verteidigung“ sowie auf Einsätze aufgrund besonderer Zulassung durch das Grundgesetz selbst. [4] Was der Verfassungsbegriff der „Verteidigung“ bedeutet, ist in der Rechtswissenschaft allerdings umstritten: Aus entstehungsgeschichtlicher Sicht spricht vieles für die Auffassung, dass sich dieser Begriff auf den in Artikel 115 a GG definierten „Verteidigungsfall“ bezieht, mithin einen Angriff auf das Bundesgebiet mit Waffengewalt zur Voraussetzung hat. [5] Dem gegenüber gehen andere Autoren von einem völkerrechtlichen Verteidigungsbegriff aus, der auch z. B. militärische Hilfeleistungen bei einem Angriff auf Bündnispartner im Rahmen des NATO-Vertrages umfasst. [6] Ein Einsatz der Bundeswehr „zur Verfolgung, Durchsetzung und Sicherung ökonomischer oder politischer Interessen“ wäre dagegen nicht vom Verteidigungsbegriff gedeckt, wie das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 21. 6. 2005 richtig feststellte. [7]

Im Entwurf des Weißbuchs heißt es zwar zu Beginn des 3. Kapitels: „Grundgesetz (GG) und Völkerrecht bilden die Grundlage für alle Einsätze deutscher Streitkräfte im Inland wie im Ausland“ (S. 43). Es fehlt dann jedoch jeglicher Hinweis auf das Gebot der Friedensstaatlichkeit (Artikel 26 GG) sowie auf die Geltung der „allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts“ gemäß Artikel 25 GG. Beide für den Einsatz deutscher Streitkräfte elementare Normen werden nicht der Erwähnung für wert befunden. Artikel 87 a GG, immerhin die „Grundnorm für das Verhältnis des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaates zu seiner Armee“ [8], wird nur beiläufig bei der Abgrenzung von Einsätzen zur Verteidigung gegenüber Einsätzen im Inland im Verteidigungs- oder Spannungsfall erwähnt (S. 45). Richtig wird auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 verwiesen, wonach Auslandseinsätze der Bundeswehr „im Rahmen und nach den Regeln“ der Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit gemäß Artikel 24 Absatz 2 GG zulässig sind. [9] Auf den Inhalt der zentralen „Regeln“ dieser Systeme, nämlich die UNO-Satzung und den NATO-Vertrag, wird dann jedoch nicht näher eingegangen. Statt dessen wird apodiktisch behauptet: „Auf dieser Grundlage beteiligt sich die Bundeswehr an internationaler Konfliktverhütung und Krisenbewältigung einschließlich des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus“ (S. 43). Die im Völkerrecht strittige Frage, ob Militäreinsätze auf dem Territorium von Staaten, auf dem Terroristen vermutet werden („Krieg gegen den Terrorismus“ in der Diktion des US-amerikanischen Präsidenten Bush), überhaupt mit den Bestimmungen der UNO-Satzung vereinbar sind [10], bleibt dabei ausgeklammert. Auch lässt sich das Ziel der „internationalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung“ kaum noch unter den Begriff der „Verteidigung“, wie ihn Artikel 87 a GG verwendet, subsumieren. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich das Ziel der internationalen Konfliktverhütung wie im Entwurf des Weißbuchs am Betroffensein „deutscher Interessen“ orientiert: 

„Vorrangige Interessen deutscher Sicherheitspolitik bestehen darin, die europäische sowie transatlantische Sicherheit und Stabilität zu stärken, den Wohlstand des Landes durch einen freien und ungehinderten Welthandel zu ermöglichen, Krisen und Konflikte, die Deutschlands Sicherheit beeinträchtigen, vorbeugend einzudämmen und zu bewältigen, die Grundsätze der Demokratie, die internationale Geltung der Menschenrechte und die weltweite Respektierung des Völkerrechts zu befördern, sowie die Kluft zwischen armen und reichen Weltregionen zu überwinden“ (S. 9/10).

Eine Regierung kann solche Zielvorstellungen im Wege internationaler politischer Einflussnahme verfolgen. Sie dürfen aber nicht als Legitimation für kriegerische Interventionen herangezogen werden. Das vage Ziel globaler „Sicherheit“ bietet keine verfassungsrechtliche Ermächtigung für Bundeswehreinsätze. Militärische Aggressionen gegen andere Staaten, die möglicherweise den „freien und ungehinderten Welthandel“ behindern, verstoßen gegen die in Artikel 26 GG verankerte Pflicht zur Friedensstaatlichkeit sowie gegen das nach Artikel 25 GG geltende völkerrechtliche Gewaltverbot. Darüber hinaus überschreiten sie den in Artikel 87 a GG festgelegten Rahmen der „Verteidigung“ als einzige Aufgabe der Bundeswehr neben den unter engen Voraussetzungen in Artikel 87 a Absatz 3 und 4 und Artikel 35 Absatz 2 und 3 GG  zugelassenen Einsätzen im Inneren.

2. Statt das Ziel der Friedens­wah­rung als Essential der modernen Völker­rechts­ord­nung sowie des Handelns der UNO-Organe in den Mittelpunkt zu stellen, degradiert das Weißbuch die UNO zu einem bloßen Instrument der Legiti­ma­ti­ons­be­schaf­fung für militä­ri­sche Inter­ven­ti­o­nen.

Der hauptsächliche Anlass für die Gründung der UNO im Jahre 1945 war der Wunsch, „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren“, die in zwei Weltkriegen unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat. [11] Dem gemäß bestimmt Artikel 2 Ziffer 4 der UNO-Satzung: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt“. Ende des Jahres 1974 einigte sich die Generalversammlung der Vereinten Nationen nach langem Ringen auch auf eine Definition dessen, was unter „Aggression“ zu verstehen ist. Das Spektrum der unzulässigen Aggressionshandlungen reicht danach von der militärischen Invasion über die Bombardierung, die Blockade von Häfen und Küsten u. a. bis hin zur Entsendung bewaffneter Banden oder Söldner in einen anderen Staat. [12]

Von diesem als ius cogens (zwingendes Recht) anerkannten universellen Gewaltverbot lässt die UNO-Satzung nur zwei Ausnahmen zu, nämlich gemäß Artikel 51 das Selbstverteidigungsrecht der Staaten bei einem bewaffneten Angriff sowie nach Maßgabe des VII. Kapitels erfolgende Sanktionsmaßnahmen, die vom Sicherheitsrat bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen beschlossen wurden. [13] Das nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 vor allem von der Regierung der USA sowie ihr nahestehenden Völkerrechtlern beanspruchte Recht auf Führung eines „Präventivkrieges“ hat bisher mit guten Gründen noch keine Anerkennung als Völkergewohnheitsrecht gefunden. [14]

Der Entwurf des Weißbuchs nennt als zentrale Ziele der UNO „die Bewahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, die Durchsetzung der Menschenrechte sowie der wirtschaftliche und soziale Fortschritt aller Völker“. Dann aber wird das Verhältnis von Kriegsverhütung als Grundsatzaufgabe und der Zulassung militärischer Sanktionen als Ausnahmefall geradezu auf den Kopf gestellt: „Die einzigartige Bedeutung der Vereinten Nationen besteht darin, einen notwendig werdenden Einsatz militärischer Gewalt mit der völkerrechtlichen Legitimität zu versehen“ (S. 35). Der Weltsicherheitsrat wird damit zu einem bloßen Legitimationsbeschaffungsorgan für kriegführende Staaten herabgewürdigt; die zentrale Aufgabe der Kriegsverhütung erscheint nur noch als nebensächlich. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die Forderung nach einem „neuen Verständnis“ des Systems der UNO-Satzung, auf dessen Grundlage „das Recht auf Selbstverteidigung präzisiert und präventives Eingreifen auf völkerrechtlich gesicherten Grundlagen geregelt werden“ müsse (S. 12). Damit macht sich das Weißbuch die vor allem in den USA vertretene Vorstellung von der Legitimität des „Präventivkrieges“ zu eigen. [15]

Des Weiteren wird im Entwurf des Weißbuchs behauptet: „Nicht zuletzt auf Grund der Erfahrungen im Kosovo gewinnt auch im Völkerrecht der Gedanke zunehmend Anerkennung, dass die Abwendung von humanitären Katastrophen, die Bekämpfung terroristischer Bedrohungen und der Schutz der Menschenrechte den Einsatz von Zwangsmaßnahmen erfordern können“ (S. 35). Der nach wie vor politisch und völkerrechtlich umstrittene Einsatz der Bundeswehr im Kosovo-Krieg 1999 [16] wird als Vorbild genommen, um sowohl dem „Anti-Terror-Krieg“ als auch der „humanitären Intervention“ völkerrechtliche Legitimität zu verleihen und damit das Gewaltverbot empfindlich aufzuweichen. In der Tat würde die Anerkennung eines Rechts auf „humanitäre Intervention“ nichts anderes als eine Einladung an mächtige und kriegsbereite Staaten bedeuten, unter Berufung auf wirkliche oder vermeintliche Verletzungen von Menschenrechten nach ihrem politischen Belieben andere Staaten anzugreifen. [17] Mit der völkergewohnheitsrechtlichen Anerkennung der humanitären Intervention gehe, so wurde schon kurz nach dem Kosovo-Krieg gewarnt, zwangsläufig die Gefahr einher, dass damit das Rad der Völkerrechtsgeschichte wieder zurückgedreht und der „Politik des Kanonenboots“ wieder Geltung verschafft werde. [18] Mit dem Rechtfertigungsversuch im Entwurf des Weißbuchs für Militäreinsätze bei humanitären Katastrophen, Menschenrechtsverletzungen und terroristischen Bedrohungen wird ein verhängnisvoller Schritt zurück zur Anerkennung des bellum iustum, zur Vorstellung vom „gerechten Krieg“ vollzogen und damit eine der wichtigsten Errungenschaften des modernen Völkerrechts, der universelle Grundsatz des Gewaltverzichts zwischen den Staaten, preisgegeben.

Im Übrigen zeigen die Entwicklungen im Irak und in Afghanistan auf drastische Weise das Versagen einer Politik, die vor allem auf Militärinterventionen setzt und dabei sowohl die Schaffung besserer Existenzbedingungen für die Bevölkerung als auch die Instrumente ziviler Konfliktbearbeitung vernachlässigt. [19] Angesichts des Bekanntwerdens neuer Anschlagspläne in Großbritannien ist der Einschätzung beizupflichten, dass mit dem „Krieg gegen den Terrorismus … die Welt um nichts sicherer, sondern um ein Vielfaches unsicherer geworden“ ist. [20]

3. Die zunehmende Verwischung der Grenze zwischen Krieg und Frieden, vor allem aber die Wieder­be­le­bung der Lehre vom „gerechten Krieg“ und die Abkehr vom völker­recht­li­chen Gewalt­verbot haben gravierende Auswir­kungen auch auf die Geltung der Freiheits­rechte in der Bundes­re­pu­blik Deutsch­land.

Insbesondere im Rahmen der gegenwärtigen Debatte um das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Februar 2006 zum Luftsicherheitsgesetz [21] lässt sich eine Aufweichung der rechtlichen Grenze zwischen Krieg und Frieden beobachten. Einige Regierungspolitiker vertreten die auch im Weißbuch (S. 44) anklingende Auffassung, dass bei einem Terroranschlag mithilfe eines entführten Flugzeugs wie am 11. September 2001 in den USA (sog. Renegade-Fall) Kriegsrecht anwendbar sei. [22] Das vom Bundesverfassungsgericht statuierte Verbot, Leben gegen Leben abzuwägen und durch den Abschuss des betreffenden Flugzeugs neben den Terroristen auch die unschuldigen Passagiere zu töten, würde danach in diesem Fall nicht gelten. Damit wird für den Fall eines Terroranschlags in Deutschland eine Art verfassungsrechtlicher Ausnahmezustand konstruiert, der unter Verzicht auf die Feststellung des Verteidigungsfalles gemäß Artikel 115 a GG dem Staat die Dispositionsbefugnis über so elementare Grundrechte wie das Recht auf Leben (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG) sowie die Menschenwürdegarantie (Artikel 1 Absatz 1 GG) einräumt. In der Tat behaupten Autoren wie z. B. Christof Gramm, Referatsleiter im Bundesverteidigungsministerium, in diesem Zusammenhang, dass in „Extremlagen“ die „Aufopferung des Lebens der einen“ im Namen der „Gemeinschaftsgebundenheit“ zulässig sei. [23] Eine solche totale Inpflichtnahme des Bürgers durch den Staat bis hin zur (unfreiwilligen!) Opferung des Lebens ist kennzeichnend für einen extrakonstitutionellen Kriegszustand, nicht aber für die Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Diese hat nämlich selbst für den Verteidigungsfall genaue Regeln in Gestalt der Artikel 115 a ff. GG aufgestellt und nur die Einschränkung von bestimmten Grundrechten vorgesehen (Artikel 12 a  Absatz 4 – 6, Artikel 17 a Absatz 2 GG).

Zu befürchten steht nunmehr, dass die Involvierung Deutschlands in kriegerische Auseinandersetzungen in Krisengebieten sowie auch im Zuge weltweiter Terrorbekämpfung nach Maßgabe des Weißbuchs gravierende Grundrechtsbeschränkungen für Bürger und Bürgerinnen jenseits der Verfassung nach sich ziehen werden – entsprechende Argumentationsmuster finden bereits jetzt Eingang in den öffentlichen Diskurs: Wenn schon die Aufopferung von Menschenleben in „extremen Bedrohungslagen“ als legitim erscheint, ergeben sich umso weniger Bedenken gegen Freiheitsentziehungen für Terrorverdächtige und für das ganze Arsenal heimlicher Überwachungsmaßnahmen, wie sie nicht nur in den USA nach dem 11. September 2001 praktiziert werden. [24] So plant die Bundesregierung denn auch, die durch das „Terrorismusbekämpfungsgesetz“ vom 9. Januar 2002 [25] geschaffenen weit reichenden Überwachungsbefugnisse der deutschen Geheimdienste nicht nur für die Zukunft beizubehalten, sondern künftig auch auf die Aufklärung bestimmter „verfassungsfeindlicher Bestrebungen im Inland“ auszudehnen. [26]
Parallel dazu spricht der Entwurf des Weißbuchs von einer „Erweiterung des Einsatzspektrums deutscher Streitkräfte im Inland“, ohne allerdings konkrete Vorschläge für eine dafür notwendige Verfassungsänderung zu unterbreiten. Immerhin wird die Richtung vorgegeben: Die Bundeswehr muss danach „immer dann eingesetzt werden können, wenn nur sie über die erforderlichen Fähigkeiten verfügt, um den Schutz der Bevölkerung oder kritischer Infrastruktur zu gewährleisten“ (S. 45). Die Umsetzung dieser Vorstellungen würde zu einer erheblichen Kompetenzverschiebung im Verhältnis zwischen Polizeien und Militär in Deutschland führen und damit beträchtliche Auswirkungen auf die zivilgesellschaftlichen Strukturen zeitigen.

4. Die Gefährdung von Leben und Gesundheit der zur weltweiten Durch­set­zung politischer Interessen jenseits der Vertei­di­gung einge­setzten Soldatinnen und Soldaten lässt sich aus der Verfassung nicht recht­fer­ti­gen.

Nach dem Entwurf des Weißbuchs wird der soldatische Dienst u.a. durch eine „sehr weit reichende Treuepflicht, die auch den Einsatz des eigenen Lebens verlangt“, gekennzeichnet (S. 45). Zwar heißt es dann weiter: „Überlebensfähigkeit und Schutz von Personal und Infrastruktur sind unabdingbare Grundvoraussetzungen für die Auftragserfüllung und Ausdruck der Fürsorgeverpflichtung des Staates gegenüber den Angehörigen der Bundeswehr. Soldatinnen und Soldaten im Einsatz haben Anspruch auf den bestmöglichen Schutz“ (S. 75).

Es ist aber geradezu kennzeichnend für Militäreinsätze, dass dabei neben der von sog. „Kollateralschäden“ in hohem Ausmaß betroffenen Zivilbevölkerung auch die beteiligten Soldatinnen und Soldaten mit ihrer Verwundung oder ihrem Tod rechnen müssen. Dies lässt sich zwar durch die Notwendigkeit der Verteidigung des eigenen Landes legitimieren, nicht aber durch bloße politische oder ökonomische Interessen, zu deren Durchsetzung die Militärangehörigen weltweit eingesetzt werden sollen. Hierbei werden sie wie zur Zeit imperialistischer Eroberungszüge zur Verfügungsmasse der jeweiligen Befehlshaber herabgewürdigt und als „Humanressource“ für fragwürdige Zwecke instrumentalisiert.
Zwar ergibt sich aus § 11 Soldatengesetz die Pflicht zum Gehorsam gegenüber Befehlen der Vorgesetzten. Zugleich statuieren das Soldatengesetz sowie das Grundgesetz aber rechtliche Grenzen der militärischen Befehlsbefugnis. So darf ein Befehl u. a. nur zu dienstlichen Zwecken erteilt werden, anderenfalls braucht er nach § 11 Absatz 1 Satz 3 Soldatengesetz nicht befolgt zu werden. Wie das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 21. Juni 2005 ausführte, ist ein Befehl nur dann in diesem Sinne zu „dienstlichen Zwecken“ erteilt, „wenn ihn der militärische Dienst erfordert, um die durch die Verfassung festgelegten Aufgaben der Bundeswehr zu erfüllen“. [27] Dies ist bei Militäreinsätzen, die nicht der Verteidigung, sondern der Durchsetzung politischer oder ökonomischer Ziele dienen, aber gerade nicht der Fall. [28]

Des Weiteren ist daran zu erinnern, dass die deutschen Streitkräfte als Teil der „vollziehenden Gewalt“ gemäß Artikel 1 Absatz 3 GG ebenso wie die anderen Staatsgewalten einer strikten Grundrechtsbindung unterliegen. Daraus hat das Bundesverwaltungsgericht in der genannten Entscheidung mit Recht gefolgert, dass auch den Soldatinnen und Soldaten die Freiheit des Gewissens gemäß Artikel 4 Absatz 1 GG zusteht. [29] Ebenso entfalten die anderen Grundrechte ihre Schutzwirkung auch zugunsten von Militärangehörigen, soweit sie nicht ausdrücklich durch den Gesetzgeber auf der Grundlage des Artikel 17 a GG eingeschränkt wurden. Im Entwurf des Weißbuchs fehlt indessen jeglicher Hinweis darauf.

Prof. Dr. Martin Kutscha 

Nachtrag:

Entwurf des Weißbuches vom Juni 2006

Am 25. Oktober 2006 verabschiedete das Bundeskabinett eine deutlich überarbeitete Fassung des Weißbuches. Tags darauf gab der Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung im Deutschen Bundestag eine Regierungserklärung zu den neuen sicherheitspolitischen Leitlinien der Bundesregierung ab. 

Anmerkungen:

1 Dazu jetzt ausführlich Schiedermair, Der internationale Frieden und das Grundgesetz, Baden-Baden 2006, S. 100 ff., ferner BVerwG, NJW 2006, 77 (81).

2 Vgl. nur BVerfGE 104, 151 (213); BVerwG, NJW 2006, 77 (82 u. 93).

3  BVerfGE a. a. O.

4 Geregelt in Art. 87 a Abs. 3 u. 4, Art. 35 Abs. 2 u. 3 GG.

5 So z. B. Arndt, Bundeswehreinsatz für die UNO, DÖV 1992, 618; Deiseroth, Die Beteiligung Deutschlands am kollektiven Sicherheitssystem der Vereinten Nationen aus verfassungsrechtlicher Sicht, NJ 1993, 145 (149); ausführlich dazu Kutscha, „Verteidigung“ – vom Wandel eines Verfassungsbegriffs, KJ 2004, 228 (232 f.).

6 So z. B. Baldus, in:  v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl. München 2005, Art. 87 a, Rdnr. 43; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Bd. III, Tübingen 2000, Art. 87 a, Rdnr. 17.

7 BVerwG, NJW 2006, 77 (81).

8 Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 87 a Rdnr. 5 (1971).

9 BVerfGE 90, 286 (LS 1 u. S. 345).

10 Vgl. nur Blumenwitz, Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr im Kampf gegen den Terrorismus, ZRP 2002, 102 (104 f.); Frowein, Der Terrorismus als Herausforderung für das Völkerrecht, ZaöRV 62 (2002), 879 (889).

11 So der erste Satz der Präambel der UNO-Satzung; vgl. v. Bredow (Hrsg.), Geschichte und Organisation der UNO, Köln 1980, S. 9 f.

12 Wiedergabe der UNO-Resolution 3314 bei Frank, in: AK-GG, 3. Aufl. Neuwied 2001, Art. 26, Rdnr. 40.

13 Vgl. dazu BVerwG, NJW 2006, 77 (93); Paech/Stuby, Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen, Hamburg 2001, S. 539 ff.

14 Vgl. Murswiek, Die amerikanische Präventivkriegsstrategie und das Völkerrecht, NJW 2003, 1014 sowie BVerwG, NJW 2006, 77 (95).

15 Vgl. Neu, Verteidigung grenzenlos, Blätter f. dt. u. intern. Politik 2006, 788.

16 Dazu z. B. die Beiträge in Lutz (Hrsg.), Der Kosovo-Krieg, Baden-Baden 2000.

17 Vgl. z. B. Deiseroth, „Humanitäre Intervention“ und Völkerrecht, NJW 1999, 3084; Denninger, Menschenrechte, Menschenwürde und staatliche Souveränität, ZRP 2000, 192 (193 f.).

18 Epping, Nachbetrachtung: Der Kosovo-(Kampf-)Einsatz der Bundeswehr, in: Ders. u. a. (Hrsg.), Festschrift für Knut Ipsen, München 2000, S. 615 (649)

19 Vgl. dazu nur das „Friedensgutachten 2006“ der Friedensforschungsinstitute, Münster 2006; Hauswedell, Erweiterte Sicherheit und militärische Entgrenzung, Blätter f. dt. u. intern. Politik 2006, 721.

20 So der Leitartikel der „Berliner Zeitung“ v. 11. 8. 2006.

21 BVerfG, NJW 2006, 751.

22 So Schäuble, FR v. 4. 5. 2006, Jung, Berliner Zeitung v. 16. 6. 2006, Wiefelspütz, RuP 2006, 71; dazu ausführlich Kutscha, Terrorbekämpfung jenseits der Grundrechte? Erscheint in RuP 4/2006.

23 Gramm, Der wehrlose Verfassungsstaat? DVBl. 2006, 653 (661); gleichsinnig Pawlik, § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes – ein Tabubruch? JZ 2004, 1045 (1053).

24 Vgl. dazu Arzt, Polizeiliche Überwachungsmaßnahmen in den USA, Frankfurt 2004, Marx, „Globaler Krieg gegen Terrorismus“ und territorial gebrochene Menschenrechte, KJ 2006, 151.

25 BGBl. I 2002, 361; dazu Müller-Heidelberg u. a. (Hrsg.), Grundrechte-Report 2002, Reinbek 2002; Groß, Terrorbekämpfung und Grundrechte, KJ 2002, 1.

26 Vgl. FR v. 5. 7. 2006; vgl. zum Entwurf eines „Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetzes“ auch die Pressemitteilung der Humanistischen Union Nr. 11/2006 vom 9. 7. 2006.

27 BVerwG, NJW 2006, 77 (80).

28 Vgl. BVerwG a. a. O., S. 81.

29 BVerwG a. a. O., S. 86.

Dateien

nach oben