Themen / Rechtspolitik

Die Flücht­lings­krise und das Recht: Chancen der Europä­i­sie­rung

15. August 2016

in: vorgänge Nr. 214 (Heft 2/2016), S. 34-37

Bei allen Verteilungskonflikten und politischen Blockaden, die der Flüchtlingsandrang im vergangenen Jahr auf europäischer Ebene hervorgerufen hat, wird die Reichweite und Integrationskraft des gemeinsamen europäischen Asylrechts unterschätzt, meint Jürgen Bast. Statt von einer pauschalen Krise Europas oder des Rechts zu sprechen, lohne vielmehr ein konkreter Blick auf jene Bereiche, in denen noch Regelungsbedarf bestehe. 

Bei aller „deutschen Flexibilität“ (Angela Merkel), die in Situationen wie der Flüchtlingskrise des Jahres 2015 gefragt ist, sind es doch die gesicherten Reaktionsmuster, Routinen und Problemlösungen des Rechts, die uns dabei helfen, angemessen auf unbekannte Situationen zu reagieren: Die Flüchtlingskrise ist ohne das Flüchtlingsrecht nicht zu bewältigen.

Zugleich ist das Recht, weil es von demokratisch verantwortlichen Politikern gestaltet wird, auch Veränderungen unterworfen. Die vielleicht wichtigste Veränderung, die das Flüchtlingsrecht im letzten Jahrzehnt erfahren hat, ist die Europäisierung der Asylgesetzgebung. Die rechtlichen Regelungen, die das Handeln der staatlichen Verwaltungen und die Spielräume für nationale Politik auf diesem Feld bestimmen, werden heute auf der Ebene der Europäischen Union erlassen. Das erklärte Ziel der EU ist die Errichtung eines „Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“ (GEAS). Die Verlagerung asylrechtlicher Kompetenzen auf die EU reiht sich ein in das größere Projekt, die EU als einen Migrationsraum ohne Binnengrenzen auszugestalten und hierzu eine gemeinsame Politik gegenüber sog. Drittstaatsangehörigen („EU-Ausländer“) zu verfolgen. In dieser Grundentscheidung für eine Europäisierung des Flüchtlingsrechts sind nicht zuletzt die Erfahrungen aus den 1990er Jahren verarbeitet, als die Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem zerfallenden Jugoslawien die einzelstaatlichen Asylsysteme in einen ruinösen Wettbewerb zur Senkung von Asylstandards trieben.

In der Sache gibt es zahlreiche Kontinuitäten zu dem System des Flüchtlingsschutzes, wie es sich unter dem Grundgesetz entwickelt hatte. Im Kern geht es darum, in einem rechtlich geordneten Verfahren zu prüfen, ob ein Migrant oder eine Migrantin nach den festgelegten Kriterien des Rechts schutzbedürftig ist, weil ihm oder ihr im Heimatland erhebliche Gefahren drohen. Das Grundgesetz selbst hat im Zuge der Europäisierung des Flüchtlingsrechts stark an Bedeutung verloren. Ein individuelles Recht auf Asyl, das im Zweifelsfall gerichtlich eingeklagt werden kann, wird nunmehr durch die europäische Rechtsordnung gewährleistet. Die EU hat sich dabei auf die Beachtung menschenrechtlicher Standards festgelegt, allen voran die Genfer Flüchtlingskonvention. Diese Regeln garantieren für alle Flüchtlinge, die sich in der EU befinden, einen Zugang zu einem fairen Asylverfahren, in dem ihr Schutzbegehren geprüft wird. Eine erneute Änderung des deutschen Grundrechts auf Asyl hätte deshalb keinen greifbaren Effekt: Weder ließen sich auf diesem Weg „Obergrenzen“ für die Zahl der Flüchtlinge einziehen noch könnten Asylsuchende ohne ein Verfahren an den deutschen Grenzen abgewiesen werden.

Dieser Befund zur Rolle des EU-Rechts steht im Spannungsverhältnis zum medial aufbereiteten politischen Diskurs, erleben wir darin doch die EU als handlungsunfähig, ihre politischen Führer als zerstritten und von nationalen Egoismen getrieben. Kenner der Funktionsweise der EU kann das nicht überraschen. Die Unfähigkeit, sich ad hoc im Kreis der Staats- und Regierungschefs auf ein gemeinsames Vorgehen in der Flüchtlingskrise zu verständigen, belegt vielmehr die Notwendigkeit einer Integration durch supranationale Gesetzgebung, in der mit Mehrheit entschieden wird und an deren Aushandlung nicht nur die Regierungen, sondern auch die Europäische Kommission und das Europäische Parlament beteiligt sind.

Probleme, zu einer konsistenten Antwort auf die Flüchtlingskrise zu kommen, gibt es gerade dort, wo das GEAS noch lückenhaft ist. Besonders schmerzhaft wird immer noch ein Mechanismus vermisst, der einen solidarischen Interessenausgleich zwischen den Mitgliedstaaten, die unterschiedlich stark mit Asylanträgen belastet sind, herstellen würde. Die Schaffung eines solchen Solidaritätsmechanismus ist dem EU-Gesetzgeber in den Grundverträgen der EU ausdrücklich aufgetragen worden; die nötigen Kompetenzen hätte die EU. Dass es nur mühsam gelingt, diesen Mechanismus gerade dann zu schaffen, wenn man ihn dringlich benötigen würde, liegt auf der Hand: zu sichtbar sind die unmittelbaren Verteilungseffekte, zu aufgeregt ist das politische Klima. Immerhin liegt ein entsprechender Vorschlag der Kommission inzwischen auf dem Tisch.

Ähnliches gilt für den Aktionismus des deutschen und anderer nationaler Gesetzgeber, die auf die Flüchtlingskrise mit Verschärfungen bei den Asylverfahren reagiert haben, um jene Antragsteller abzuschrecken, die wenig Aussichten darauf haben, als schutzbedürftig anerkannt zu werden. Hierbei nutzen die politischen Akteure auf nationaler Ebene Spielräume, die ihnen die europäische Rahmenregelung zu den Asylverfahren belässt (z.B. stammt der Begriff der „Transitzone“, der in der deutschen Diskussion eine Rolle spielte, aus der sog. Asylverfahrensrichtlinie der EU). Erneut ist es die Lückenhaftigkeit der europäischen Regelung, die Unsicherheit über die gebotene Reaktion stiftet und zu einem ruinösen Wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten einlädt. Eine weitere offene Flanke, die die noch unvollständige Harmonisierung des Asylverfahrensrechts lässt, ist die problematische Möglichkeit, einen Asylbewerber auf den Schutz eines Drittstaates zu verweisen, wenn dieser dazu bereit und in der Lage ist („protection elsewhere“): eine Option, die der Türkei-Deal vom März 2016 tatsächlich vorgesehen hat für Flüchtlinge, die aus der Türkei in Griechenland anlanden.

Auf der anderen Seite funktioniert das Flüchtlingsrecht in diesen Tagen dort vergleichsweise gut als Erfahrungsspeicher für den Umgang mit Flüchtlingen, wo das GEAS halbwegs solide ausgebaut ist. Hier ist in erster Linie die Regelung über die Flüchtlingsdefinition und den Flüchtlingsstatus in der EU zu nennen (die sog. Qualifikationsrichtlinie, demnächst vielleicht eine entsprechende EU-Verordnung). Darin hat der EU-Gesetzgeber viele alte Streitfragen über die Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention verbindlich entschieden. So war es in den 1990er Jahren hoch umstritten, ob in einer Bürgerkriegssituation überhaupt von politischer Verfolgung die Rede sein kann. Heute führt die Verfolgung durch den sog. Islamischen Staat in Syrien ohne Weiteres zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, obwohl es sich beim IS um einen nicht-staatlichen Akteur handelt – weil dies in der Qualifikationsrichtlinie so vorgesehen ist.

Eine weitere Frage, die heute das europäische Flüchtlingsrecht verbindlich beantwortet, ist diejenige, ob Flüchtlinge lediglich temporären Schutz genießen sollen, also ob sie nur solange aufgenommen werden, wie ihnen in ihrem Herkunftsland Verfolgung droht, oder ob sie eine dauerhafte Bleibeperspektive besitzen. Gegenwärtig besteht in Deutschland im demokratischen politischen Spektrum ein breiter Konsens darüber, dass die neuen Flüchtlinge möglichst gut in die deutsche Gesellschaft integriert werden sollen. Dies beinhaltet hohe Erwartungen an die Flüchtlinge, aber auch ein weitreichendes Angebot zur Partizipation. Diese Haltung verarbeitet Erfahrungen aus der Phase der Gastarbeitermigration, wonach sich die Erwartung einer baldigen Rückkehr als Illusion und Integrationshindernis erweisen kann. Diese Erkenntnis ist nicht nur in das kollektive Gedächtnis des Einwanderungslands Deutschland eingegangen, sie ist auch – unmittelbar wirkungsmächtig – Bestandteil des geltenden Flüchtlingsrechts. Denn nach einer Regelung des EU-Gesetzgebers aus dem Jahr 2011 haben alle europäischen Flüchtlinge nach fünf Jahren ein Recht auf Daueraufenthalt in der EU und werden dann weitgehend wie Inländer behandelt. Flüchtlingen wird also das verlässliche Angebot unterbreitet, nach einem überschaubaren Zeitraum „dazuzugehören“, selbst wenn sich die Situation in ihrem Herkunftsland ändern sollte. Das europäische Recht behandelt Flüchtlinge als Bürger im Wartestand – auch in Zeiten eines Massenzustroms.

Einen besonderen Problemfall schließlich bildet das Dublin-System über die Verteilung der Asylzuständigkeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Das Dublin-System ist unter dem Druck der großen Zahl der Asylsuchenden und deren eigensinniger Mobilität im Jahr 2015 faktisch außer Kraft gesetzt worden. Hier geriet das Recht an seine Leistungsgrenzen. Zwar verletzt Deutschland die Regeln des Dublin-Systems nicht, wenn es auf eine Prüfung der Zuständigkeit verzichtet und stattdessen einen Asylantrag sofort in der Sache prüft; ein solches Vorgehen ist in der sog. Dublin-III-Verordnung ausdrücklich vorgesehen. Andere EU-Staaten aber verletzten ihre Pflichten, wenn sie Asylbewerber, die in ihrem Land ankommen, nicht registrierten (was gegebenenfalls ihre Zuständigkeit zur Prüfung des Asylantrags auslösen würde). Das Dublin-System ist jedoch nicht nur schlicht an seine Kapazitätsgrenzen gekommen. Dem Verteilungsmechanismus des Dublin-Systems fehlt es ersichtlich auch an Legitimität: er wird von den Staaten an den Außengrenzen der EU zu Recht als unfair empfunden. Die derzeit diskutierte Nachfolge-Regelung („Dublin IV“) wird deshalb einen Interessenausgleich zwischen den Mitgliedstaaten vorsehen müssen, um die unsolidarischen Effekte der geltenden Zuständigkeitskriterien auszugleichen. Anderenfalls wird sie auf Dauer nicht funktionieren können.

Große Bedenken aus rechtlicher Perspektive wirft auch die schon kurz erwähnte Absprache mit der Türkei auf. Nach den europäischen Asylgesetzen kann man einen Asylsuchenden nur dann in einen Transitstaat zurückschicken, wenn dieser Staat die hohen Anforderungen an einen „sicheren Drittstaat“ erfüllt. Dafür reicht es aber nicht aus, wenn die Flüchtenden in dem betreffenden Land nicht mehr verfolgt werden. Der Drittstaat muss auch ein leistungsfähiges eigenes System des Flüchtlingsschutzes aufweisen. Bei beidem bestehen im Fall der Türkei erhebliche Zweifel, und zwar schon vor Putsch und Gegen-Putsch im Juli 2016. Hinzu kommt, dass Flüchtlingen gegen ihre Zurückweisung der Rechtsweg zu den Gerichten in der EU offenstehen muss. Eine pauschale Zurückweisung ohne ein faires Verfahren ist ausgeschlossen. An dem Problem der solidarischen Verteilung innerhalb der EU ändert sich durch die Absprache mit der Türkei ohnehin wenig. Die Absprache sah vor, dass die EU-Staaten ein bestimmtes Kontingent von Flüchtlingen direkt aus der Türkei aufnehmen. Solche Schritte hätte man schon viel früher unternehmen müssen, dann wären vielleicht weniger Menschen bei ihrer gefährlichen Flucht über das Mittelmeer gestorben. Aber das Problem der fehlenden Solidarität stellt sich auch hier: Hier muss der europäische Gesetzgeber verbindliche Regeln für eine gerechte Verteilung der Lasten, die mit der Gewährung von Flüchtlingsschutz verbunden sind, erst noch aufstellen, zur Not mit Mehrheitsbeschluss.

Bei der Suche nach einem solchen Modell sollte sich der EU-Gesetzgeber von der Idee verabschieden, schutzsuchende Migrantinnen und Migranten zuerst in einem bürokratischen Verfahren innerhalb Europas umzuverteilen, um erst danach ihren Schutzbedarf zu klären. Die EU sollte ein zügiges und faires Asylverfahren in den grenznahen Staaten gewährleisten, anschließend aber den anerkannten Flüchtlingen das Recht geben, sich innerhalb der Europäischen Union frei zu bewegen, also das Recht, sich ihren zukünftigen Heimatstaat selbst auszusuchen. Der Vorschlag würde zu einer Entlastung der grenznahen Staaten führen und wäre damit ein Beitrag zur Solidarität innerhalb der EU. Nach derzeitiger Rechtslage müssen die anerkannten Flüchtlinge fünf Jahre warten, bis sie innerhalb Europas weiterwandern dürfen. Das macht aus der Perspektive der Integration dieser Menschen wenig Sinn. Ein Recht auf Freizügigkeit würde anerkannte Flüchtlinge gleichstellen mit den Bürgern der anderen EU-Staaten, also Franzosen, Polen oder Litauern. Die Europäerinnen und Europäer würden damit anerkennen, dass die meisten Flüchtlinge keine Aussicht auf eine baldige Rückkehr haben und sie von Anfang an als Neubürger Europas behandeln.

JÜRGEN BAST   ist Professor für Öffentliches Recht und Europarecht an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er ist wissenschaftlicher Leiter der Refugee Law Clinic Gießen und Mitglied im interdisziplinären DFG-Netzwerk „Grundlagen der Flüchtlingsforschung“.

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