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Bürger­rechte und Verant­wor­tung

15. Juli 2010

Sven Lüders

Die Debatte um den sexuellen Missbrauch in (kirchlichen) Bildungseinrichtungen geht auch an der HU nicht spurlos vorüber. Versuch einer Aufarbeitung der sexualpolitischen Vergangenheit. Mitteilungen Nr. 208/209 (1+2/2010), S. 28-32

Am 10. März 2010 trat der Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller in Rom vor die Kameras. Fernab der Heimat wehrte er sich gegen Kritik, die Katholische Kirche Deutschlands arbeite bei der Aufklärung von sexuellem Missbrauch an Kindern nicht hinreichend mit den Strafverfolgungsbehörden zusammen. Seine Empörung richtete sich vor allem gegen die Bundesjustizministerin. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hatte zuvor in einem Interview (Tagesschau vom 22.2.2010) die Überarbeitung der internen Richtlinien der Bischofskonferenz für den Umgang mit Missbrauchsfällen gefordert. Die Pointe von Müllers Stellungnahme: Die Ministerin habe kein Recht, die Katholische Kirche für ihre defensive Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden zu kritisieren. Schließlich gehöre sie selbst einer Vereinigung an, die die Pädophilie legalisieren wolle. Die Rede war von der Humanistischen Union.

Nachdem sich Müller einer außergerichtlichen Einigung verweigerte, beantragte die Humanistische Union Rechtsschutz beim Landgericht Berlin. Das Gericht stimmte dem Antrag einer einstweiligen Verfügung am 13. April 2010 zu, seither ist dem Bischof die weitere Verbreitung seiner Unterstellungen untersagt.

Beachtlich ist, wie unchristlich Müller seine Vorwürfe gegen die Justizministerin und die Humanistische Union vortrug. Seine Anspielung auf Normalität/Anormalität bediente sich verbreiteter Ressentiments gegen Pädophile. Gegenüber der HU blieb er den Nachweis seiner Behauptung, sie setze sich gegenwärtig für Legalisierung ein, schuldig und verweigerte sich einem Dialog mit ihr. So war das dahinter stehende  Ablenkungsmanöver leicht zu durchschauen: Die Debatte um die Aufklärung von sexuellem Missbrauch sollte als Kampagne von Kirchenkritikern diskreditiert werden. Dieser Verdacht bzw. Vorwurf – auch gegen die HU – zog sich in der Folge quer durch die Medien. Ein rationaler Kern der Anschuldigungen schälte sich in den Berichten jedoch heraus: die bis in die 1990er Jahre zu beobachtende Nähe zwischen einer diffusen Pädophilenlobby, der 68er-Generation, den Grünen und auch der Humanistischen Union. Sich diesem Vorwurf zu stellen, die berechtigten Vorwürfe von den ideologischen Anfeindungen zu unterscheiden, dient der vorliegende Text. Er unterzieht dazu frühere Stellungnahmen der HU einer kritischen Würdigung. Seine Thesen gehen auf Diskussionen im Bundesvorstand zurück.

Klarstellungen

Um der These einer vermeintlichen Förderung pädophiler Positionen durch die HU entgegen zu treten, sei es gesagt: Der (sexuelle) Missbrauch von Kindern ist für die Humanistische Union nicht tolerabel. Und um keinerlei Missverständnisse aufkommen zu lassen: Sexuelle Beziehungen, in denen Kinder zum Gegenstand erwachsener Begehrlichkeiten werden, sind in unseren Augen immer sexueller Missbrauch. So viel wir auch über die Weite des Sexualitätsbegriffs und die Zulässigkeit sexueller Handlungen zwischen Kindern streiten, so klar muss doch sein: Eine echte Einvernehmlichkeit in den Sexualbeziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern kann es nicht geben. Bei der behaupteten Einvernehmlichkeit handelt es sich vielmehr um Projektionen auf kindliche Lebensäußerungen. Heranwachsende Kinder davor zu schützen, gebietet allein schon die Garantie der Menschenwürde. Dass auch das Strafrecht bei sexuellem Missbrauch an Kindern zum Einsatz kommt, steht für die HU nicht zur Debatte.

Die hier zitierte Position der HU zur Pädophilie ist nicht neu. Sie findet sich im Beschluss des Vorstands aus dem Jahr 2004. Dieser an sich klaren Positionierung stehen Vorwürfe entgegen, die HU habe mit ihrer Kooperationspraxis, mit ihrer Kritik an einer überkommenen Sexualmoral und deren Ausläufern im Sexualstrafrecht und mit ihren kritischen Bemerkungen zur Wirksamkeit des (Sexual-)Strafrechts jenen Diskurs unterstützt, der schlussendlich in eine Legalisierung pädosexueller Kontakte münde. Die HU eine bewusste/unbewusste Wegbereiterin der sog. Pädophilenlobby? Der Vorwurf wiegt schwer und scheint überzogen. Dennoch meine ich, die HU tut gut daran, zwischen den teils zweifelhaften Motiven einiger KritikerInnen und dem rationalen Kern ihrer Vorwürfe zu differenzieren. Dafür sprechen folgende Gründe:

  • Nur so kann sie jeden Anschein einer institutionellen Selbstimmunisierung vermeiden. Für die Humanistische Union galt stets der Anspruch, dass die Rechte des Einzelnen gegenüber (geschlossenen) Institutionen gestärkt werden müssen. Das sollte auch für die HU selbst gelten.
  • Wir sollten es vermeiden, die Debatte um den (sexuellen) Missbrauch auf eine Auseinandersetzung um die Kirchen zu reduzieren, wie dies manche christliche Splittergruppe tut. Das wird weder dem Schutzanspruch der Kinder gerecht, noch entspricht es der Erfahrung, wonach der Missbrauch in kirchlichen wie weltlichen Einrichtungen, in christlichen wie libertären Familien auftritt.
  • Eine kritische Reflektion des sexualpolitischen Umfelds, in dem sich die HU bewegt(e), mag sinnvoll sein, um die Kontextgebundenheit der eigenen Positionen besser zu erkennen. Dies ist umso wichtiger, als die HU häufig ihre argumentative Stärke daraus bezieht, dass die von ihr reklamierten Rechte einem universellen Anspruch folgen. Aber wird die Politik der HU jenem Anspruch einer übergeordneten Rationalität wirklich gerecht? 
  • Nicht zuletzt: Die Vorwürfe einer Verharmlosung des Missbrauchs bzw. einer Blindheit gegenüber pädophilen Vereinnahmungsversuchen sind nicht neu. Sie wurden bereits früher, aus den Reihen der HU selbst erhoben.
Verzer­rungen und Fahrläs­sig­keiten

Die HU war immer stolz darauf, zur Liberalisierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft beigetragen zu haben. Dazu gehört auch die Sexualmoral. Dennoch ist das Bild einer antimoralischen Vereinigung, einer idealtypischen Gegen-Kirche, welches Reinhard Bingener in der FAZ vom 29. März von der HU zeichnet, verfehlt. In den Auseinandersetzungen um die zentralen Lebensfragen – vom Schwangerschaftsabbruch über die freie Geschlechtswahl in Sexualbeziehungen bis zur Sterbehilfe – hat die HU als Verband stets eine liberale Position bezogen. Dem gingen regelmäßig kontroverse Debatten voraus. Die Meinungsvielfalt, welche die HU bis heute kennzeichnet, ist dabei kaum zu übersehen. Sie hat sich dabei von der libertären Bewegung anstecken lassen – etwa beim gezielten Tabubruch; der sexuellen Befreiung am und durch den eigenen Körper; der gänzlichen Ablehnung des Strafrechts.

Bei dieser Nähe der HU zu Emanzipationsbewegungen überrascht es wenig, dass sich auch bei ihr Spuren jener Debatte um die Straffreiheit sexueller Beziehungen zu Kindern wiederfinden, die seit den 1980er Jahren das linksliberale Milieu beschäftigte. Die Rückschau (s. Infokasten) bietet wiederkehrende Beispiele dafür, dass auch die HU einen „ideologischen Rahmen für Pädophile“ (taz) bot:

Gewaltfreiheit und angebliche Einvernehmlichkeit pädosexueller Kontakte: Die Liberalisierung des Strafrechts ist eine Geschichte der Tabubrüche – „Mein Bauch gehört mir“, „Raus aus den Toiletten, rein in die Straßen“… Auch die in den 1970er Jahren entstehende Bewegung der Pädophiliebefürworter zielte auf solche Tabubrüche. Sie knüpfte mit dem angeblichen Einverständnis der Kinder zu Sexualbeziehungen unmittelbar an die Schwulenbewegung an. Was im Konsens geschieht, so ihr Argument, könne nicht zu Lasten eines Opfers gehen, und weise keine Sozialschädlichkeit auf. Dabei wird jedoch unterschlagen, wie viel Aufwand echte Pädophile darauf verwenden, den angeblich freien Konsens mit den Kindern herzustellen – wohl wissend, dass die Diskrepanz zwischen erwachsener und kindlicher Sexualität letztlich unüberbrückbar ist. Am Ende bleibt dieser herbeigeführte Konsens nicht mehr als eine Legitimationsstrategie. Die HU hat nicht nur den strategischen Charakter der „Einvernehmlichkeitsdebatte“ übersehen, sondern machte sich auch zum (unfreiwilligen) Helfer der dahinter stehenden Legalisierungsbemühungen, wenn sie pauschal die Freigabe aller freiwilligen sexuellen Handlungen vorschlug, ohne die Konsequenzen einer solchen Entscheidung zu bedenken.

Dennoch irritiert die Parallelisierung der Debatten um sexuellen Missbrauch und Pädophilie. Bei der Frage nach den Ursachen und den Möglichkeiten einer Prävention sexuellen Missbrauchs von Kindern vermag die Erforschung des pädophilen Begehrens kaum zu helfen, denn es spielt dabei keine Rolle. Nach übereinstimmenden Untersuchungen weist nur ein geringer Teil der Missbrauchstäter pädophile Neigungen auf. Mehrheitlich handelt es sich bei den Übergriffen um Gewaltdelikte, deren ursächliche Motive nicht bzw. nicht allein im sexuellen Begehren liegen. Und laut Polizeilicher Kriminalstatistik wird ein sehr großer Anteil des sexuellen Missbrauchs von Personen aus dem sozialen Nahbereich der Opfer begangen. Es ist daher eine schlichte Verdrehung der Tatsachen, diesen Missbrauch vor allem den 68ern (und „ihren“ Pädophilen) anzulasten. Die 68er waren es gerade, die auf verborgene Gewaltpotentiale in den familiären Nahbeziehungen hinwiesen.

Verharmlosungen: Es zeugt von einem fragwürdigen Grundrechtsverständnis und einer mangelnden Sensibilität für die Opfer des Kindesmissbrauchs, wenn im Entwurf einer HU-Stellungnahme von „absolut und relativ außerordentlich raren Fällen sexueller Gewalthandlungen“ die Rede ist. Das ist bürgerrechtlicher Populismus auf Kosten der betroffenen Kinder. Gewiss, das Argument diente hier der Kritik daran, dass die Bekämpfung von Sexualstraftaten zum medialen Leitbild der Jugendpolitik aufgestiegen ist. Diese Kritik ist nachvollziehbar, ihre Begründung an dieser Stelle nicht. Zum einen verzeichnet die Polizeiliche Kriminalstatistik jährlich ca. 12.000 Fälle sexuellen Missbrauchs an Kindern in Deutschland. Gegenüber den Schutzansprüchen dieser Kinder müsste eine Bürgerrechtsorganisation sensibel sein, sich ihnen gegenüber solidarisch verhalten. Stattdessen wird hier das Problem klein geredet. Dabei gehört es zu den Grundfesten der Bürger- und Menschenrechtsarbeit, dass sich die Tragweite einer Freiheitsbeschränkung nicht an den Opferzahlen bemisst – Bürger- und Menschenrechte sind nun einmal nicht teilbar. So wenig wir Menschenrechtsverletzungen in Deutschland mit denen in China aufrechnen können, genauso wenig können wir die Folgen der Kinderarmut mit den Folgen des Kindesmissbrauchs verrechnen.

Kritik des Strafrechts im falschen Kontext: Auch in der Debatte zum Sexualstrafrecht hat die HU immer wieder eingewandt, dass das Strafrecht nur eine unzureichende Form der Wiedergutmachung leisten kann, entstandene Verletzungen und psychische Schäden mit einer Verurteilung der Täter nicht überwunden werden können und die betroffenen Kinder durch das Strafverfahren möglicherweise neue Verletzungen erfahren. All diese Einwände sind grundsätzlich bedenkenswert, sie gelten in vergleichbarer Weise auch für andere Delikte und deren Opfer. Der Ausgleich zwischen repressiven und sozialpolitischen Instrumenten gehört zu den Kernforderungen der HU (so auch beim Umgang mit Terroristen oder jugendlichen Straftätern). ). Dies gilt auch für Straftaten pädophiler Täter. Der entscheidende Unterschied zur Debatte um Pädophilie bleibt jedoch: Niemand fordert die Straffreiheit für Mord und Totschlag, und auch der Humanistischen Union unterstellt das niemand. Umso wichtiger war und ist es deshalb, sich von pädophilen Legalisierungsbemühungen abzugrenzen. Eine bürgerrechtliche Kritik des Strafrechts sollte im sexualpolitischen Kontext daher klar formulieren, dass die Entkriminalisierung sexuellen Missbrauchs keine akzeptable Alternative ist.

Blinde Solidarisierungen und einseitige Kooperationen:  Bereits in den 1980er Jahren hatte die HU Kontakte zur Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität (AHS) aufgebaut, einer Organisation, die sich der sexuellen Selbstbestimmung verschrieben hat. Die AHS war es auch, die nach der Auflösung des Bundesverbandes Homosexualität (1997) den Pädophilen eine neue Heimat und mit ihrer AG Pädo eine Plattform für deren Forderungen bot. Ausgerechnet in jener Phase etablierte sich die AHS zur alleinigen Kooperationspartnerin der HU in sexualpolitischen Fragen, mit gemeinsamen Stellungnahmen und Fachtagungen. Aus dieser „Kooperation“ gingen auch Solidaritäts- und Vertrauenserklärungen der HU für die AG Pädo hervor, wobei weder die personellen Überschneidungen zwischen HU-Arbeitskreis und AG Pädo offen gelegt noch die Grundlage des ausgesprochenen Vertrauens benannt wurden. Die Kooperation wurde nach verbandsinterner Kritik – Berichte des Stern und von Report München warfen der AHS vor, dass die pädophilen Selbsthilfegruppen als Tarneinrichtung für den Tausch von Kinderpornografie dienten – im Jahre 2004 vom Bundesvorstand ausgesetzt. Als Begründung dienten jedoch nicht die eigenen konzeptionellen Fehler der HU, sondern die fraglos problematischen Positionen der AHS in Bezug auf pädophile Sexualität; ein Abgrenzungsbeschluss im wahrsten Sinne des Wortes.

So viel Kritik es an der Zusammenarbeit mit der AHS gab, so schwierig war aus bürgerrechtlicher Sicht die Abgrenzungserklärung und die folgende, selbst auferlegte Kontaktsperre der HU gegenüber der AHS. Sie war sicher nötig, um den Eindruck einer thematischen Schieflage in der HU entgegen zu steuern. Es kommt jedoch einer bürgerrechtlichen Bankrotterklärung gleich, wenn wir mit bestimmten sozialen Gruppen nicht mehr reden können – und seien die ihnen zur Last gelegten Taten noch so schlimm. Zu einer rationalen, an den Problemen des Kindesmissbrauchs orientierten Diskussion gehört auch das Gespräch mit Pädophilen bzw. jenen (wenigen) Gruppen, in denen sie Fürsprecher finden. Nur darf sich der Dialog eben nicht darauf beschränken, wie in der HU zwischen 1998 und 2003 faktisch geschehen. Die Würde der Kinder und deren Verletzung ernst zu nehmen heißt vielmehr, dass ein solcher Dialog zunächst bei den Kindern (vertreten durch ihre Schutzverbände) anzusetzen hätte, heißt auch, dass Therapeuten und Sozialarbeiter anzuhören wären, um deren Vorschläge zur Verhinderung des Missbrauchs aufzunehmen. All dies sollte die HU nachholen, wenn sie ihre sexualpolitische Handlungsfähigkeit wiedergewinnen und sich nicht dem Vorwurf einer einseitigen Parteinahme für Pädophile aussetzen will.

Zusammenfassend: Unsere bürgerrechtlichen Argumente sollten wir künftig auch daraufhin prüfen, ob sie von Gruppen vereinnahmt werden, denen es erkennbar nicht um die Freiheit der Anderen geht. Auch wenn es zutrifft, dass ein Beifall von der „falschen“ Seite allein noch kein Argument desavouiert, heißt dies noch lange nicht, dass wir als „Theoretiker“ keine Verantwortung dafür hätten, was mit unseren Positionen und Forderungen im politischen Raum geschieht. Dieses Credo einer verantwortungsvollen Bürgerrechtspolitik hat Roland Otte anlässlich der Debatte um die Erklärung zum Sexualstrafrecht 2000 so auf den Punkt gebracht: „Auf die Rechte von Tätern pochen, sich aber nicht mit ihnen solidarisieren oder ihre Taten kleinreden.“

Ein derart verantwortungsvoller Zugang zur politischen Auseinandersetzung lässt sich auch nicht dadurch erreichen, dass man vermeintlichen Fehldeutungen und Missverständnissen der HU-Positionen mit immer neuen Klarstellungen zu begegnen versucht. Rückblickend leidet manche Diskussion um das Sexualstrafrecht in der HU an einer Überbetonung der ideologischen Dimensionen von Pädophilie und Kindesmissbrauch zulasten der realen, praktischen Probleme der Betroffenen. Die Verantwortung der Bürgerrechtler kann sich vielmehr darin erweisen, dass sie ihre Zeit und Energie in einen konstruktiven Dialog zum Schutz vor sexuellen Übergriffen einbringen. Wenn es der HU gelänge, aus den in diesem Jahr bekannt gewordenen Übergriffen entsprechende Einsichten zu formulieren, wie sich Derartiges künftig verhindern lässt, wäre dies nicht nur überzeugender, sondern auch nützlicher als jedes bloße Bekenntnis zum Schutz der Kinder.

Liberale Umgangs­formen nach außen wie innen. Worauf wir achten sollten

Dieser Text kann nur ein Anfang sein. Er lädt Sympathisanten wie Kritiker gleichermaßen ein, über Leerstellen und Fehler in den sexualpolitischen Stellungnahmen der HU zu debattieren. Der Bundesvorstand hat sich entschieden, diese Auseinandersetzung, wie auch sonst in der HU üblich, in einer transparenten Form zu führen. Die sexualpolitische Vergangenheit der HU wird deshalb auch Gegenstand des diesjährigen Verbandstages sein (s. Seite 16). Die Veröffentlichung der aus heutiger Sicht kritikwürdigen Texte soll ein erster Beitrag sein, um diese Diskussionen anzustoßen. Im Sinne der innerbetrieblichen Demokratie sollten wir uns dabei auf einige Regeln verständigen:

Die Humanistische Union sollte es vermeiden, die Debatte um ihr Engagement zu sexualpolitischen Fragen, um ihr Verhältnis zu pädophilen Lobbygruppen erneut so stark zu personalisieren, wie dies teilweise in der Vergangenheit geschah. Innerhalb der HU sollte gelten, was wir auch von der Gesellschaft einfordern: die Abkehr vom fragwürdigen Konstrukt einer Kontaktschuld. Wer sich für das Thema Pädophilie interessiert, darüber Bücher verfasst oder dafür engagiert, das die rechtsstaatlichen Gewährleistungen etwa der Unschuldsvermutung und eines fairen Verfahrens auch für die Beschuldigten pädosexueller Delikte durchgesetzt werden, darf nicht automatisch selbst zum Verdächtigen gemacht werden. Eine Bürgerrechtsorganisation, die dem Reflex einer Kontaktschuld erliegt, gäbe damit eine ihrer zentralen Arbeitsgrundlagen auf. Ohne die urliberale Unterscheidung dass derjenige, der sich für einen fairen Umgang mit mutmaßlichen Rechtsverletzern einsetzt, sich dadurch nicht automatisch zum Mitschuldigen macht, gäbe es keine Bürgerrechtler, sondern nur Mittäterinnen und Mittäter.

Die HU als Verband sollte sich um eine klare Positionierung zum Schutz der missbrauchten Kinder, zu den Problemen der Prävention und Aufklärung sexuellen Missbrauchs, zu rechtsstaatlichen Defiziten des Sexualstrafrechts u.a. Fragen bemühen. Mehr als bisher müssen wir dabei auf Klarheit in unseren Stellungnahmen achten, um Missverständnissen und Verharmlosungen vorzubeugen. Neben den Begrifflichkeiten (wie Gewalt, Sexualität…) betrifft dies auch die verschiedenen Ebenen des Missbrauchs-Diskurses, die in der Vergangenheit oft durcheinander gerieten.

Bei all diesen Bemühungen sollten wir aber der Versuchung einer diskursiven Gleichschaltung widerstehen. Natürlich wird es bei vielen Fragen Meinungsverschiedenheiten geben. Die Mitgliedschaft der HU ist nicht nur altersmäßig, sondern auch in beruflicher Hinsicht und in ihren politischen Überzeugungen sehr heterogen. Diese Meinungsvielfalt ist für die Qualität unserer Diskussionen essentiell. Darum pflegt die HU unter ihren Mitgliedern und in ihrem Beirat ein hohes Maß an Toleranz gegenüber Meinungen, die von der Verbandsmehrheit abweichen. Der Vorstand hat sich deshalb auch entschieden, persönliche Äußerungen von Mitgliedern / Beiräten der Humanistischen Union von Verbandsseite aus nicht öffentlich kommentieren bzw. zu widerrufen. Kritische Anmerkungen zu all dem, was die Humanistische Union zu verantworten hat, sind uns aber umso mehr willkommen.

Sven Lüders
Geschäftsführer der Humanistischen Union

Informationen

Eine Übersicht der sexualpolitischen Texte der HU und der Zusammenarbeit mit der AHS findet sich auf unserer Webseite: www.humanistische-union.de/shortcuts/sexualstrafrecht.

Unter der Adresse kommentieren wir auch die zahlreiche Presseberichte über die HU zum Thema. Mitglieder der HU können eine Dokumentation in der Geschäftsstelle abrufen, die alle zitierten Texte und die Protokolle der verbandsinternen Beratungen enthält.

Sexualpolitische Aufarbeitung bei anderen Beteiligten

Nina Apin: Kuscheln mit den Indianern. Pädo-Aktivisten im linken Milieu. Tageszeitung vom 22.4.2010

Wolfgang Kraushaar: Bewegte Männer? Wie Teile der Linken und der alternativen Szene Pädophilie als Emanzipation begriffen. Die Zeit Nr. 22 vom 27.5.2010, abrufbar unter www.zeit.de/2010/22/Missbrauch-Paedophilie.

Daniel Boese: Pädophilie in der zitty. Als Sprachrohr der alternativen Szene debattierte zitty 1979 über die Straffreiheit von Sex mit Kindern. Wie kam es dazu? Zitty 13/2010, S. 34ff.

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