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Verge­wal­ti­gung: Hände weg vom Sexual­straf­recht

26. Februar 2015

Monika Frommel

Mitteilungen Nr. 225 (Heft 1/2015), S. 9-13

(Red.) Die letzte Ausgabe der HU-Mitteilungen enthielt einen Bericht über eine Veranstaltung der Lübecker HU, bei der eine Erweiterung des Straftatbestands der Vergewaltigung zustimmend diskutiert wurde (Mitteilungen Nr. 224, S. 17f.). Dazu erreichte uns folgender Kommentar unseres Beiratsmitglieds Monika Frommel. Sie ist der Meinung, dass den Opfern mit anderen Maßnahmen mehr geholfen wäre, weil neue (Straf-)Gesetze nur selten hilfreich sind. Der Beitrag erschien zuerst bei Novo Argumente.

1997 wurde der Verbrechenstatbestand der Vergewaltigung reformiert. Seitdem vergeht keine Legislaturperiode, in der keine Forderungen nach Verschärfung des Sexualstrafrechts laut werden. Nun fordern Frauennetzwerke (Deutscher Juristinnenbund und Frauen gegen Gewalt gegen Frauen) einen weiten Auffangtatbestand und legen zur Bekräftigung eine höchst angreifbare und sehr selektive Fallanalyse vor. Nach Vorgaben der „Istanbul-Konvention“, so meinen sie, soll jede sexuelle Handlung „gegen den Willen“ als Verbrechen der sexuellen Nötigung beziehungsweise. Vergewaltigung (§ 177 StGB, Mindeststrafe zwei Jahre) strafbar sein. [1] Den bestehenden Vergehenstatbestand der Nötigung zu sexuellen Handlungen, der in Grenzfällen eine angemessene Strafe ermöglichen würde und auch greift, wenn nur mit einem „empfindlichen Übel“ gedroht wurde, erwähnen sie nicht.

Regelungen zur sexuellen Gewalt

Da das deutsche Strafrecht am Ende des 20. Jahrhunderts europarechtskonform werden sollte, wurde § 177 StGB 1997 neu gefasst. Die Forderungen der „Istanbul-Konvention“, welche der Deutsche Juristinnenbund jetzt erst umsetzen möchte, werden daher von Deutschland bereits erfüllt. 1998 wurde noch einmal gesetzlich klargestellt, dass Vergewaltigungen in Beziehungen nicht pauschal als minder schwere Fälle eingestuft werden können. Zeitgleich wurde im Bürgerlichen Gesetzbuch mit § 825 BGB eine weitere zivilrechtliche Anspruchsgrundlage geschaffen, die ganz gezielt bei sexuellem Missbrauch Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche gewährt – unabhängig von der Frage, ob die Betroffene eine strafrechtlichen Ahndung will und ob diese strafrechtlich gesehen auch gegeben ist.

Dieser Gedanke wurde erneut vertieft im Jahr 2000. Damals kam das Gewaltschutzgesetz hinzu, eine sehr effektive zivilrechtliche Regelung, die im Verbund mit den ebenfalls reformierten Polizeigesetzen empfindliche Sanktionen nach sich ziehen kann (Wegweisung aus der Wohnung, Unterlassungs- und Schutzanordnungen und die Pflicht zum Schadensersatz). Die Überlegung hinter diesen Spezialgesetzen ist, dass auf die unterschiedlichsten Formen von Gewalt in Beziehungen und Stalking nach Beendigung einer Beziehung oft besser und zielgenauer reagiert werden kann, wenn die Frau ein Familiengericht anruft. Sie muss sich also nicht darauf verlassen, dass ihre Strafanzeige wegen Körperverletzung und/oder sexueller Nötigung beziehungsweise Vergewaltigung angemessen bearbeitet wird und eine Verurteilung sie künftig schützt.

Die Faustregel lautet: Klare Fälle von Zwang und Gewalt gehören ins Strafrecht, Grenzfälle ins Zivilrecht, Beziehungsdelikte werden am besten von Familiengerichten geregelt.

Es gibt also ein vernetztes Präventionskonzept, es funktioniert auch, aber in der Öffentlichkeit und innerhalb der Frauenbewegung wird zu sehr auf das Strafrecht geschaut. Strafgesetze mit hohen Mindeststrafen haben nun einmal den Nachteil lückenhaft zu sein und von Gerichten eng ausgelegt zu werden.

Leider benutzt der Kommentator des gängigen Kurzkommentars zum StGB, der BGH-Richter Thomas Fischer, seine Definitionsmacht und lässt keine Gelegenheit aus, um die Reform des Jahres 1997 zu kritisieren und Strafbarkeitslücken zu konstruieren. Kann die dadurch geschaffene missliche Lage nur der Gesetzgeber ändern? Wieso widersprechen denn BGH-Richterinnen und Richter nicht und legen das geltende Recht europarechtskonform aus? Auch der Juristinnenbund hat die Macht, fachlich zu widersprechen. Statt sich hinter populistischen Forderungen zu verstecken, könnten die Kommentierungen dieses überengagierten Richters Punkt für Punkt kritisiert werden. Es gibt bereits Kritik. Sie muss nur aufgegriffen und in die Fachöffentlichkeit getragen werden.

Ausnutzung

Was würde passieren, wenn die Gesetzgebung jede sexuelle Handlung „gegen den Willen“ an die Stelle der jetzigen Fassung setzen würde, welche verlangt, dass Gewalt, Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder „Ausnutzen einer hilflosen Lage“ vorliegt? Es würde neue Grenzfälle und weitere Reformdebatten geben. Schließlich stand bereits vor 20 Jahren die Kritik am zu engen Gewaltbegriff der Rechtsprechung im Mittelpunkt und führte schließlich 1997 zur Reform. Auch führte man bereits vor der Entscheidung über den damaligen Fraktionen übergreifenden Gesetzentwurf der Frauen im Bundestag eine Debatte über das Merkmal „gegen den Willen“. Die jetzige Debatte ist also eine zeitversetzte Reaktion nach fast 20 Jahren.

Mit dem Argument, man muss der Frau eben glauben, kann man keine Mehrheit gewinnen.

Es lohnt sich zu fragen, wieso das Parlament sich damals für die Ausnutzungsvariante entschieden hat und nicht für das weiter gefasste Merkmal „gegen den Willen“? Der Grund liegt darin, dass dieselben Gruppen, die einen möglichst weiten Verbrechenstatbestand fordern, auch für hohe Mindeststrafen eintreten. Das widerspricht sich aber und wird von Tatgerichten und Revisionsgerichten abgelehnt. Für die Auslegung eines Strafgesetzes ist die Tathandlung entscheidend. Sie macht den Unrechtsgehalt des Verhaltens des Täters deutlich. Eine sexuelle Handlung kann keine relevante Tathandlung sein. Wie also stellt ein Gericht den entgegenstehenden Willen fest? Mit dem Argument, man muss der Frau eben glauben, kann man keine Mehrheit gewinnen. Nur nötigender Zwang und Missbrauch sind strafbar, und nur solche Handlungen tangieren das Rechtsgut, also muss das jeweilige Strafgesetz definieren, wann Zwang und wann Missbrauch vorliegen.

Deshalb hat die Gesetzgebung 1997 den tradierten Vergewaltigungsparagraphen erweitert. Sie hat neben „Gewalt“, „Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben“ eine dritte Alternative eingefügt, die Ausnutzungsvariante, um den – später vom Bundesverfassungsgericht bestätigten – weiten Begriff der sexuellen Nötigung so klar wie möglich und objektivierend zu umschreiben. Nötigung bedeutet Zwang. Aber nicht alle Übergriffe sind Nötigungen. Es gibt nun einmal auch sexuelle Handlung gegen den Willen einer Frau oder einer Jugendlichen, die ohne Zwang erreicht werden – das Spektrum ist breit gefächert –, die aber dennoch verhindert werden sollen. In Betracht kommen etwa Täuschungen und Manipulationen, Überrumpelung, das Versprechen von Vorteilen, abgestufte Formen des Ausnutzens der Autorität und dergleichen Strategien. Besonders häufig sind sie gegen Jugendliche gerichtet.

Der DJB nennt auch einen solchen Fall, um seine Reform zu begründen, den 2011 vom 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) in Fortführung der ständigen Rechtsprechung entschiedenen Fall der „nur“ überrumpelnden, aber nicht nötigenden sexuellen Übergriffigkeit. Der BGH hob die Verurteilung wegen Vergewaltigung einer 14-Jährigen auf, die sich als Modell zeichnen lassen wollte und deshalb mit gespreizten Beinen und mit dem Gesicht zur Wand überrumpelt wurde und sich nicht gewehrt hatte, weil sie „paralysiert“ gewesen sei. [2]

Mit einer Reform des Verbrechenstatbestandes der Vergewaltigung kann man nicht auf als empörend empfundene Grenzfälle reagieren.

Dieser Grenzfall der Überrumpelung betraf eine Jugendliche, deren Neugierde, Risikobereitschaft und sexuelle Unerfahrenheit der Täter strategisch ausgenutzt hatte. § 182 StGB, der an und für sich einschlägige Vergehenstatbestand des Missbrauchs Jugendlicher, passt leider nicht, da dort das Ausnutzen der Unfähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung verlangt wird, eine entschieden zu hohe Hürde. Das geltende Recht schützt Jugendliche also nur gegen das sexuelle Ansinnen von in Aufzählungen jeweils genau benannten Autoritätspersonen. Es lässt es nicht genügen, wenn sich Jugendliche von Erwachsenen, die keine förmliche Funktion haben, überrumpeln lassen. Die junge Frau hat also gegen diesen Mann nur Schadensersatzansprüche. Da diese hoch sein können, wäre das eine Gegenwehr gegen den übergriffigen und offenbar routiniert vorgehenden Täter. Mit einer Reform des Verbrechenstatbestandes der Vergewaltigung kann man – und sollte man, so meine These – nicht auf solche als empörend empfundene Grenzfälle reagieren. Die Nachteile überwiegen die Vorteile.

Beruft sich also ein Opfer auf die Ausnutzungsvariante, dann muss deutlich sein, dass die ausgenutzte Zwangslage etwa derjenigen entspricht, die man bei den klassischen Nötigungsmitteln „Gewalt“ und „Drohung“ unterstellen kann. Sie muss sich nicht körperlich wehren, es ist auch irrelevant, ob sie sich hätte wehren können. Sie muss nur deutlich machen, dass sie sich körperlich bedroht gefühlt hat, und deswegen still gehalten habe. Es kommt also nicht auf ihren „Willen“ an; denn dieser ist ein Internum, das zugeschrieben werden kann oder auch nicht. Entscheidend sind die objektive Situation und die objektivierbare, persönliche Lage der Betroffenen. Reagiert eine Frau „starr vor Schreck“ und wehrt sich nicht, macht sie verbal oder durch Weinen deutlich, dass sie die sexuelle Handlung ablehnt, dann muss es eine Norm geben, welche das Verhalten des Täters als Unrecht markiert.

Oft sind ein zivilrechtlicher Schutz und ein Anspruch auf Schadensersatz/Schmerzensgeld für die Betroffene vorzugswürdig.

Aber diese Norm muss kein Verbrechenstatbestand sein, es genügt ein Vergehenstatbestand. Oft sind ein zivilrechtlicher Schutz und ein Anspruch auf Schadensersatz/Schmerzensgeld für die Betroffene vorzugswürdig (§ 823 und § 825 BGB, s.o.). Es macht daher schon bei der Rechtsberatung der verletzten Personen keinen Sinn, nur auf den Verbrechenstatbestand der Vergewaltigung zu schauen, da dieser angesichts der Mindeststrafe von zwei Jahren eng ausgelegt wird und auch nicht noch weiter gefasst werden kann. Das ist eine wichtige interne berufsethische Haltung von Strafjuristen.

Die BGH-Rechtsprechung hat sich auf eine Lesart festgelegt, welche für die Erweiterung des Tatbestandes der sexuellen Nötigung verlangt, dass sich die gegen ihren Willen sexuell angegriffene Person „aus Rücksicht auf ihr körperliches Wohl“ nicht gewehrt habe. Steht sie lediglich unter einem psychischen Zwang, besser unter Druck, sollte man sorgfältig prüfen, ob nicht der besonders schwere Fall der Nötigung zu einer sexuellen Handlung in § 240 Abs. 4 StGB vorliegt. Auch diese Norm führt zu Verurteilungen, sie ist aber erheblich flexibler, da sie weiter gefasst ist. Jede Drohung mit einem empfindlichen Übel genügt. Drohungen können auch konkludent sein. Dieser Vergehenstatbestand mit einer Mindeststrafe von 6 Monaten (§ 177 StGB ist demgegenüber ein Verbrechen) greift auch dann, wenn keine körperliche Gewalt angedroht wird. Schließlich sollte man bei Beziehungstaten immer auch das Gewaltschutzgesetz berücksichtigen, wenn es eine gemeinsame Wohnung oder Wohngemeinschaft gibt. Der Gewaltbegriff dieses Gesetzes ist sehr weit.

Fazit

Man kann den Text des StGB weit fassen, aber die Rechtsprechung wird dann in Grenzfällen auch Beweisprobleme konstruieren, die in der Konsequenz dazu führen werden, dass es immer wieder zu Einstellungen und/oder Freisprüchen kommt. Die rechtspolitische Debatte wird also nicht verstummen. Problematisch ist in diesem Zusammenhang etwa: unklares, schüchternes oder gehemmtes Verhalten von angegriffenen Menschen, die aus akuter Angst oder aus einer gewissen Gewöhnung an ihre Abhängigkeit passiv bleiben, wo selbstbewusste Menschen sich aktiv wehren würden.

Der Ruf nach dem Gesetzgeber ist oft hilflos und wenig hilfreich.

Sind das Strafbarkeitslücken und soll man sie aus dem Gesichtspunkt des Opferschutzes schließen, weil gerade diese Personen besonders verletzbar sind? Ich sehe da Probleme. Zwar besteht Konsens, dass Kinder (unter 14 Jahren) absolut schutzwürdig sind. Nicht weil sie von sexuellen Erfahrungen „frei“ zu halten sind (so einige veraltete Rechtsgutsbestimmungen), sondern wegen der asymmetrischen Situation, in der Erwachsene und Kinder aufeinander treffen. Erwachsene haben ein anderes Skript von Sexualität, sie müssen sich daher völlig zurückhalten, um Kindern eine freie Entfaltung zu ermöglichen. In den 1970er Jahren verstanden weder die Gesellschaft noch die Gesetzgebung oder die Rechtsprechung dies richtig – und oft auch nicht die Rechtsberatung. Das hat sich gebessert. Mittlerweile haben wir alle institutionell gelernt. Nur bei Jugendlichen wissen wir noch nicht, wie wir Manipulation und diffusen Missbrauch strafrechtlich behandeln sollen. Es gibt also viel zu tun, aber nicht bei § 177 StGB. Der Ruf nach dem Gesetzgeber ist oft hilflos und wenig hilfreich.

Monika Frommel,
ist emeritierte Strafrechtsprofessorin und war bis 2011 Direktorin des Instituts für Sanktionenrecht und Kriminologie an der Universität Kiel.

Anmerkungen:

[1] Tanja Mokosch: „Das Sexualstrafrecht basiert auf Mythen“, Süddeutsche Zeitung online, 13.08.2014. und Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff)/ Frauen gegen Gewalt e.V.: „Was Ihnen widerfahren ist, ist in Deutschland nicht strafbar“, Fallanalyse zu bestehenden Schutzlücken in der Anwendung des deutschen Sexualstrafrechts bezüglich erwachsener Betroffener (erstellt von Katja Grieger et al.), Berlin, 2014.

[2] BGH 4 StR 445/11 vom 08.11.2011. Hätte der vom Landgericht Dessau festgestellte Sachverhalt ergeben, dass das Mädchen aus Angst um sein körperliches Wohl still gehalten habe, hätte es der Revision der Verteidigung nicht stattgegeben. So sah es den Fall als Grenzfall an und folgte der restriktiven Lesart (seit BGHSt 50, 359). Diese Lesart geht auf den BGH-Richter Thomas Fischer zurück, der seit dem Jahr 2000 unermüdlich gegen die Ausnutzungsvariante polemisiert, da sie angeblich keine klare Tathandlung formuliere. Es ist klar, dass die Vorbehalte sowohl in der Strafrechtswissenschaft als auch in der Rechtsprechung wieder neu entfacht würden, käme es zu einer neuen Debatte. Es ist auch vorhersehbar, dass sich gegen eine solche Gesetzesfassung neue Konstruktionen fänden, um das Merkmal – angesichts des hohen Strafrahmens – eng auszulegen. Innerhalb der Rechtswissenschaft wird sich auch keine Unterstützung mobilisieren lassen für einen solchen Vorschlag.

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