Themen / Rechtspolitik / Sexualstrafrecht

Wahrnehmung im Panzer­glas­haus. Replik auf Monika Frommel

07. April 2014

Stephan Klecha

aus: vorgänge Nr. 204 (4-2013), S. 119-123

In der letzten Ausgabe der vorgänge (Nr. 203, S. 111 ff.) setzte sich Monika Frommel mit zahlreichen Verzerrungen der gegenwärtigen Debatte um Pädophilie auseinander. Während die Gefahr einer Verharmlosung pädophilenfreundlicher Argumente – etwa das von der einvernehmlichen Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern – inzwischen weitgehend erkannt wird, erinnerte Frommel daran, wie wenig das symbolische Sexualstrafrecht für einen aktiven Schutz der Kinder leistet bzw. was der Gesetzgeber selbst zur diskursiven Verbrüderung zwischen Homosexuellen- und Pädophilenbewegung beigetragen hat.

Frommels Kritik richtete sich implizit auch gegen das Göttinger Institut für Demokratieforschung, dessen (Vorab-)Veröffentlichungen die Debatte um Pädophilie im vergangenen Jahr prägten. In dieser Ausgabe antwortet Stephan Klecha, der wissenschaftliche Leiter des Forschungsprojektes zu „Umfang, Kontext und die Auswirkungen pädophiler Forderungen in den Milieus der Neuen Sozialen Bewegung / Grünen“.

Wenn eine angesehene und renommierte Kriminologin wie Monika Frommel Kritik an einem Diskurs äußert, muss man hellhörig werden. Das gilt erst recht, wenn man quasi Teil des Diskurses ist oder zumindest dazu beiträgt, diesen neu zu rezipieren, ihn aus der Vergangenheit zu befreien und ihn gleichzeitig erklärend in den Kontext seiner Zeit zu setzen. So verhält es sich auch bei der Pädophiliedebatte bei den Grünen, die am Göttinger Institut für Demokratieforschung im Auftrag der betroffenen Partei aufgearbeitet wird.

Insoweit sind die Einlassungen von Frommel in der letzten Ausgabe der vorgänge zunächst einmal als Anregung zu verstehen, das gesamte intellektuelle Umfeld nicht auszusparen und damalige kritische Stimmen dahingehend zu wichten und zu wägen, welche Interessen sie ihrerseits hatten. Es mag insoweit richtig sein, nun Alice Schwarzer, die damals sehr prominent den Gegendiskurs angeführt hatte, vorzuhalten, dass sie damit erstens Forderungen transportieren wollte, die eher an restriktive Sexualmoral erinnerten und die ihrerseits zweitens geeignet waren, die tatsächlich emanzipativen und aus heutiger Sicht unstrittig vorteilhaften Aspekte der sexuellen Befreiung ad absurdum zu führen. Für die Pädophiliedebatte mag das von Belang sein, für die eigentliche Kernfrage der Debatte stellt es aber eine Nebelkerze dar. Die Kernfrage der Pädophiliedebatte lautete, ob es einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen Kindern und Erwachsenen geben kann oder nicht. Wenn man sie bejahte, weil man etwa auf die Befreiung der kindlichen Sexualität zielte, gelangte man zu Schlussfolgerungen in Bezug auf die Liberalisierung des Strafrechts. Wenn man sie verneinte, weil man das strukturelle Machtungleichgewicht zwischen Kindern und Erwachsenen im Auge hatte, musste man Schutzregelungen im Strafrecht unterstützen. Schwarzer hatte – in Verbindung mit Günter Amendt – klar die letztgenannte Position bezogen und damit wohl – das freilich aus heutiger Sicht eindeutig – Recht. Dass es diese Haltung im linksalternativen Milieu gab und dass sie breit rezipiert wurde, ist für die Bewertung der Pädophiliedebatte bei den Grünen wichtig. Man musste nicht für eine Strafrechtsliberalisierung einstehen, es gab alternative Diskurse, die man sehr wohl wahrnahm oder wahrnehmen musste. Zumal, Frommel verweist ja darauf, Ferenci und Dannecker sich ebenso kritisch geäußert und gleichermaßen im Umfeld der Grünen fast schon Verehrung genossen.

Noch einmal: entscheidend ist nicht, was an weitergehenden Implikationen damit verbunden war, sondern ob es im linksalternativen Spektrum damals quasi alternativlos war, Pädophilie zu goutieren oder nicht. Die Tatsache, dass es in der Zeit einen Gegendiskurs gegeben hat, belegt, dass es mitnichten alternativlos war.

Was ein wenig in der Debatte untergeht, ist die Tatsache, dass es zwischen diesen Positionen einen veritablen Graubereich gab und gibt. Die Fragestellung, ab wann beziehungsweise unter welchen Konstellationen sexuelle Handlungen im Einvernehmen möglich sind, ist nämlich etwas komplexer zu beantworten. Wenn man eine Schutzaltersgrenze einzieht, wo setzt man diese klugerweise an? Martin Dannecker hat mit seiner Differenzierung zwischen prä- und postpubertär dazu eine recht kluge Orientierung gegeben, freilich diese erst 1987 so aufgeschrieben.[1] Legt man diese an, so wird man indes nur bedingt klüger, denn zum einen ist die Pubertät ja kein Stichtagsereignis, sondern ein Prozess. Zum anderen verläuft sie sehr unterschiedlich. Das Strafrecht hat hier die Schwierigkeit, durch klare und verständliche Normen den Komplex zu regeln. Das führt ein wenig zwangsläufig zu einer gewissen Willkür. Ob man jetzt 13, 14, 15 oder gar 16 Jahre als Schutzaltersgrenze definiert, mag jeweils für sich gut begründet sein, es wird aber stets Fälle und Konstellationen geben, in denen eine höhere oder eine niedrigere Altersgrenze ihre Berechtigung hätte.

Und natürlich muss man sich, hier ist Frommel ebenso zuzustimmen, im Klaren darüber sein, dass das Strafrecht kaum eine präventive Wirkung entfalten wird. Wäre das Strafrecht so effizient, müsste es wohl keine Prozesse und keine Urteile wegen sexuellem Missbrauch geben. Das Strafrecht kann letztlich nicht das leisten, was hinter der gesamten Sexualstrafdebatte steckt, nämlich eine wirksame Prävention vor sexueller Gewalt. Es kann nur bestrafen im Sinne von Vergeltung, Genugtuung oder Gerechtigkeit. Es kann Normen aufstellen und deren Durchsetzung fördern, mitunter auch erzwingen. Das kodifizierte Recht garantiert aber nicht seine Einhaltung.

Insoweit kann man Monika Frommel in Bezug auf ihre strafrechtlichen Ausführungen mühelos folgen. Doch ihr Versuch, die Grünen in diesem Zusammenhang ein Stück weit zu exkulpieren und dem Göttinger Institut für Demokratieforschung ein wenig implizit vorzuwerfen, wir würden in der Aufarbeitung den Kontext übersehen oder falsch werten, zeugt nicht gerade von sauberer Gedankenführung. Wir verkennen nicht, dass Geistes- und Sozialwissenschaften immer auf Interpretationen und dadurch auf wertenden Maßstäben basieren. Insoweit kann man Fakten anders zu Informationen und schließlich zu Bewertungen führen, als wir es in unseren bisherigen Veröffentlichungen getan haben. Doch dazu müssen die Fakten stimmen. Frommels Beitrag indes strotzt in Bezug auf die Grünen nur so vor Fehlern, die dazu führen, dass die schlüssige Herführung der Debatte, die wir ja soweit teilen können, nicht korrekt auf unser Forschungsobjekt übertragen worden ist.

Gehen wir ein paar Punkte im Einzelnen durch: Frommel behauptet, dass die Grünen in Karlsruhe 1980 nach turbulenter Beratung einen Programmteil „Sexualität und Herrschaft“ beschlossen hätten und dabei überrumpelt worden seien. Nichts davon stimmt. In Karlsruhe wurde 1980 lediglich die Satzung beraten, die Programmberatung erfolgte drei Monate später in Saarbrücken. Falsch ist auch, die Stadtindianer dafür verantwortlich zu machen. Frommel meint wahrscheinlich die Indianerkommune in Nürnberg, die wir übrigens selbst teilweise auch fälschlich mit den Stadtindianern insgesamt gleichgesetzt haben. Natürlich gab es deren Interventionen, die sich auch in der Sexualitätsdebatte niedergeschlagen haben. Doch der streitige Programmabschnitt von 1980 beschäftigte sich mit sozialen Minderheiten. Er war als Teil des Schwulenprogramms und auf eine Initiative aus der Schwulenbewegung hin aufgenommen worden. Darin hatte man sich für eine Liberalisierung der §§ 174 und 176 StGB eingesetzt, diese Forderung aber im Laufe der Beratungen auf der Bundesversammlung der Grünen umgehend wieder relativiert, ja faktisch zurückgenommen und durch eine Diskussionsaufforderung ersetzt. Wir haben darauf in mehreren Veröffentlichungen hingewiesen.[2] Falsch ist auch, dass es sich um eine fünfstündige Debatte handelte, sondern es war eine eher recht kurze Diskussion, die in einer Auszählpause abgehalten wurde und die durch eine Intervention am Folgetage nochmals aufflammte, dann aber abseits des Plenums mit dem genannten Kompromiss endete.

Wenn Frommel dann noch in der Fußnote erwähnt, dass die gleiche Diskussion fünf Jahre später in Niedersachsen nochmals stattgefunden hat, dann ist auch das falsch, denn eine Debatte um Sexualität und Herrschaft vollzog sich in der Tat zwar 1985, aber das geschah in Nordrhein-Westfalen, wo die Grünen mitnichten durch Überrumpelung der Delegierten dazu verleitet worden sind, etwas durchrutschen zu lassen.

Frommel kritisiert im Weiteren, dass wir „wahrheitswidrig“ die Rolle der FDP in der Pädophiliedebatte aufgegriffen hätten. Zweifelsohne gab es parteioffiziell lediglich die Forderung, den heute abgeschafften § 175 StGB aufzugeben, aber es gab eben Beschlüsse bei den Jungdemokraten. Jene waren bis 1982 die offizielle Jugendorganisation der FDP. Ferner, wir haben Belege angeführt, dass Verheugen im Zusammenhang mit einer Veranstaltung zumindest eine Reform der §§ 174 und 176 StGB „persönlich“ für denkbar hielt. An der Stelle müsste Frommel aber eigentlich nur ihre eigene Argumentation bedienen, denn das bedeutete ja eben nicht, die Paragraphen wegfallen zu lassen oder sie freizugeben, sondern es bedeutete, einige damit verbundene, auch prinzipiell berechtigte Fragen zu stellen und diese möglicherweise in der einen oder anderen Form zu beantworten. Auch wenn vage blieb, ob und in welcher Hinsicht über eine Reform von Verheugen, immerhin seinerzeit Generalsekretär der FDP, nachgedacht würde – schon seine Ankündigung, darüber nachzudenken, wurde geradezu euphorisch in einem bestimmten Spektrum der Schwulenbewegung aufgenommen.

Zudem, es ist ja wohl nicht nur im Lichte der Positionen der Jungdemokraten eine etwas billige Argumentation, der FDP abzusprechen, dass sie mit dem Thema Pädophilie nichts zu tun habe. Es war eine liberale Senatorin in Berlin, unter deren Ägide es Projekte von Helmut Kentler gab, die von dem Ruch, sich mit pädophilen Interessen gemein zu machen, nicht befreit werden können. Kentler wies in etlichen Schriften daraufhin, wie er benachteiligte Jugendliche einst in die Obhut pädophiler Hausmeister gegeben hatte. Auch in einem Abschlussbericht für eine FDP-Senatorin wies er daraufhin. In der FDP-Bundestagsfraktion vernahm man keinen Widerspruch, als 1981 ein Hearing zum Thema Streichung des § 175 StGB veranstaltet wurde und die geladenen Experten sich teilweise auch weitschweifend für eine Novelle der §§ 174 und 176 StGB aussprachen. Gerne kann Frau Frommel diese Fakten anders werten, aber sie sollte sie einmal zur Kenntnis nehmen, zumal sie vorgibt, die Texte dazu ja gelesen zu haben, wie man den Fußnoten entnehmen kann.

Schließlich ein Satz zur Rolle der Humanistischen Union, auf die sie als Beiratsmitglied dieser alerten Bürgerrechtsvereinigung natürlich auch eingeht und die sie eben mal reinwäscht. Leider ist es uns nicht möglich, die archivierten Bestände der Humanistischen Union so einzusehen, wie es für eine sachgerechte Aufklärung erforderlich wäre. Mit Blick auf den Datenschutz verweigert sich der Verein leider, die Bestände nach den üblichen Standards einer angemessenen Archivrecherche einsehen zu lassen.

Kurzum, Frommel mag zurecht auf die Komplexität der Debatte – auch und gerade im damaligen zeitlichen Kontext eingehen – doch sie muss aufpassen, dass sie nicht ihrerseits sich in einem Glashaus aus Panzerglas wähnt.

DR. STEPHAN KLECHA   Jahrgang 1978, studierte Sozialwissenschaften an der Georg-August-Universität Göttingen und ist seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Dort leitet er derzeit das Forschungsprojekt „Umfang, Kontext und die Auswirkungen pädophiler Forderungen in den Milieus der Neuen Sozialen Bewegung / Grünen“.

Anmerkungen:

[1] Martin Dannecker, Bemerkungen zur strafrechtlichen Behandlung der Pädosexualität, in: Herbert Jäger/Eberhard Schorsch (Hg.), Sexualwissenschaft und Strafrecht, Stuttgart 1987, S. 71-83.

[2] Erstmals: Franz Walter/Stephan Klecha, „Distanzierungstango in der Pädo-Frage“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 12.8.2013.

RICHTIGSTELLUNG: Zum Hintergrund des Archivzugangs
bei der Humanistischen Union

Richtig ist, dass sich das Göttinger Institut für Demokratieforschung (GID) im vergangenen Jahr um einen Zugang zum Vereinsarchiv der Humanistischen Union (HU) bemüht hat. Das Institut wollte Unterlagen einsehen, um sich ein Bild über die sexualpolitischen Debatten des Vereins Anfang der 1980er Jahre zu verschaffen. Der Bundesvorstand der HU hatte sich bereits im Vorfeld darauf verständigt, dass er eine externe, wissenschaftliche Untersuchung über die Rolle pädophilenfreundlicher bzw. -befürwortender Positionen innerhalb des Verbandes unterstützt.

Angesichts der Tatsache, dass es sich beim Vereinsarchiv der HU um eine recht lose geordnete Sammlung von Unterlagen handelt, in denen sich z.T. sehr persönliche Schriftstücke wiederfinden; angesichts der besonderen datenschutzrechtlichen Anforderungen an die Weitergabe sensibler Daten i.S.v. § 3 Abs. 9 BDSG (wozu etwa politische Meinungen, philosophische Überzeugungen, Angaben zum Sexualleben gehören); angesichts der Datenschutzordnung des Vereins, die jegliche Weitergabe persönlicher Daten ohne vorherige Benachrichtigung der Betroffenen ausschließt; und angesichts mangelnder Erfahrung in der Gewährung eines umfassenden Archivzugangs bat der Verein den zuständigen Landesbeauftragten für Datenschutz um entsprechenden Rat, wie ein datenschutzkonformer Archivzugang gewährt werden könne.

Dessen Empfehlungen bildeten die Grundlage für einen von der HU vorgeschlagenen Vertrag über den Archivzugang, der vom GID jedoch rundheraus abgelehnt wurde. Das Institut wollte vielmehr eine analoge Anwendung des Bundesarchivgesetzes durchsetzen, was einem Verstoß gegen § 28 Abs. 8 BDSG sowie die von den Mitgliedern erlassene Datenschutzordnung (Art. 4 Abs. 4) gleichkäme.

Unter der Maßgabe einer notwendigen Vorab-Information der Betroffenen – die mit den Prinzipien wissenschaftlicher Forschung angeblich unvereinbar sei – verzichtete das GID komplett auf die Archiveinsicht bei der HU. Alle Angebote, die fraglichen Unterlagen herauszusuchen und eventuell vorhandene Materialien ohne Personenangaben vorab zur Verfügung zu stellen, wurden vom Institut ausgeschlagen. Vielmehr kündigte das GID an, es werte die Einforderung datenschutzrechtlicher Standards der HU als mangelnde Bereitschaft, zur Aufarbeitung eines düsteren Kapitels der eigenen Geschichte beizutragen.

Eine ausführliche Darstellung der Verhandlungen um den Archivzugangsvertrag findet sich in der Verbandszeitschrift HU-Mitteilungen Nr. 222 (S. 10 ff.), abrufbar über die Webseite.

                                                                        Sven Lüders

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