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Thesen zu Religionen, Weltan­schau­ungen und die Grundrechte des Grund­ge­setzes

31. Oktober 2008

1. Jeder hat die grundrechtlich geschützte (sog. positive) Freiheit, seine Religion und Weltanschauung zu bilden, zu haben und zu bekennen

– sie mag unserem Kulturkreis vertraut, fremd oder anstößig sein, viele oder wenig Mitglieder haben, fest, locker oder gar nicht organisiert sein. Der Staat kennt keine richtigen und falschen, guten und schlechten Religionen und Weltanschauungen. Aber er entscheidet, ob eine Auffassung tatsächlich eine Religion oder Weltanschauung und ob eine Gesellschaft tatsächlich eine Religions- oder Weltanschauungsgesellschaft ist.

2. Jeder hat die grundrechtlich geschützte (sog. positive ) Freiheit, sein Verhalten an seiner Religion oder Weltanschauung auszurichten. Der grundrechtliche Schutz dieser Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Handelns ist unterschiedlich intensiv und nicht grenzenlos.

a) Den stärksten grundrechtlichen Schutz genießen die Manifestationen des Glaubens durch Symbole und Riten, mit denen die Gläubigen unter sich bleiben oder zwar an eine Öffentlichkeit treten, diese aber nicht ernstlich beeinträchtigen. Selbst wo die Gläubigen unter sich bleiben, kann der Staat allerdings berechtigt und verpflichtet sein, Grenzen zu setzen, zumal zum Schutz von Kindern.

b) Auch das übrige glaubensgeleitete, d. h. unter Maximen des Glaubens und nicht etwa der Wirtschaft oder der Politik stehende Handeln ist grundrechtlich besonders geschützt. Unter der Maxime des Glaubens steht das Handeln dann, wenn es von der Religion geboten, nicht wenn es von der Religion lediglich erlaubt ist.

c) Das von der Religion lediglich erlaubte oder mit dem religiösen Leben nur im äußeren, angelegentlichen Zusammenhang stehende Handeln steht nicht unter dem besonderen Schutz der Religions- und Weltanschauungsfreiheit, aber unter dem Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und der anderen grundrechtlichen Freiheiten.

3. Jeder hat auch die grundrechtlich geschützte (sog. negative) Freiheit, keine Religion oder Weltanschauung zu bilden, zu haben, zu bekennen oder religiös oder weltanschaulich zu handeln. Streitig ist, inwieweit dazu auch die Freiheit gehört, religiösen Symbolen, Riten oder Handlungen nicht unentziehbar ausgesetzt zu sein.

4. Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften haben für ihre eigenen Angelegenheiten das Recht der Selbstbestimmung und ?verwaltung. Das Recht ist durch die Schranken der allgemeinen Gesetze begrenzt.

5. Religions- und Weltanschauungsgesellschaften genießen von Grundrechts und Grundgesetz wegen gegenüber anderen gesellschaftlichen Formationen Privilegien, z. B. in den meisten Ländern das Recht auf Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach, in allen Ländern das Recht auf Anstaltsseelsorge, auf die Qualifizierung zur Körperschaft des öffentlichen Rechts und bei Qualifizierung auf Erhebung von Steuern. Die ausdrückliche Verbürgung dieser Privilegien schließt nicht aus, dass weitere Privilegien zwischen Staat und Religions- und Weltanschauungsgesellschaften vereinbart werden, sofern dabei die grundrechtlichen und grundgesetzlichen Maßgaben der Gleichheit und Neutralität gewahrt bleiben.

6. Klassisches Konfliktfeld der Religionsfreiheit ist die Schule. Hier können sich die positive und die negative Religionsfreiheit der Schüler, Eltern und Lehrer, das Erziehungsrecht der Eltern, die Schulhoheit und das den Kindern geltende Wächter- und Schutzamt des Staates stoßen. Ein Weg zur Lösung dieser wie auch anderer Konflikte zwischen dem sich auf die Religionsfreiheit berufenden Bürger und dem Staat ist das Eröffnen von Alternativen; es obliegt nicht nur dem Staat, sondern kann auch vom Bürger verlangt werden.

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