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Christ­lich-welt­an­schau­liche Traditionen und die Verfas­sungs­werte

31. Oktober 2008

Über Verfassungswerte ist schon viel gestritten worden. Die Debatte um Bedeutung und Tragweite dieses Begriffs aufzunehmen, besteht heute jedoch keine Veranlassung.

Denn in unserem Kontext ist klar: Es geht um jene Güter, welche die in den Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts entwickelten Verfassungen in ihren besonderen Schutz genommen haben, nämlich Leben, Freiheit, Gleichheit, Eigentum, dazu in der jüngeren Verfassungsgeschichte Menschenwürde und soziale Gerechtigkeit als Kern des Sozialstaatsgedankens.

Das mir gestellte Thema wirft die Frage nach dem Verhältnis dieser verfassungsrechtlichen Hochschätzungen zu den christlich-weltanschaulichen Traditionen auf, von denen sie in einer näher zu bestimmenden Weise, wenn nicht geprägt, so doch jedenfalls beeinflusst worden sind. Weil dabei offenkundig auch antikes Erbe mit im Spiel ist, führt eine solche Spurensuche notwendig entsprechend weit zurück, und das unvermeidlich auf mehr oder minder verschlungenen Wegen. Schon der Begriff der Humanität, der ja auch über der heutigen Veranstaltung steht, gibt einen Wink: geprägt hat ihn im zweiten vorchristlichen Jahrhundert der griechische Philosoph Panaitios, der die Philosophie der Stoa nach Rom brachte. Von ihm hat ihn Tertullian übernommen, der älteste und einer der originellsten  Kirchenschriftsteller des lateinischen Westens.

Bloß von historischem Interesse sind solche Aufhellungen freilich nicht. Es geht stets auch um ein Stück Interpretationsmacht über die Verfassungswerte. So ist immer wieder behauptet worden, die Menschenwürde sei ein genuin christlicher Gedanke, folglich könne die entsprechende Verfassungsgarantie auch nur von daher authentisch interpretiert werden. Für das Verhältnis von christlich-weltanschaulichen Traditionen und Verfassungswerten dürfte die Überprüfung dieser These besonders aufschlussreich sein. Zuvor aber möchte ich ein paar Bemerkungen zur Genealogie von Freiheit, Gleichheit und Lebensschutz machen. Am Ende des Ganzen sollen dann einige Schlussfolgerungen stehen.

I.

Die Verfassungswerte Freiheit und Gleichheit pflegen in einem Atemzug genannt zu werden. Das entspricht der aufklärerischen Tradition, die in den revolutionären Rechteerklärungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts ihren Niederschlag gefunden hat. „Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es“, beginnt in einem „vagen Rousseauismus“ Artikel 1 der berühmten französischen Menschenrechtserklärung von 1789. Freiheit und Gleichheit, miteinander aus demselben Mutterschoß der Natur hervorgegangen, bleiben nach jener Déclaration politisch einander verbunden. Denn die Freiheit findet ihre Grenzen allein an den Gesetzen (Artikel 4), und deren Festlegung ist – direkt oder indirekt durch Repräsentanten – nach Artikel 6 die Sache aller in gleicher Weise. Diese politische Verklammerung von Freiheit und Gleichheit durch Teilhabe am Gemeinwesen ist altes Erbe republikanischen Denkens. Nicht von ungefähr haben die französischen Revolutionäre mit dem idealistisch überhöhten Andenken an die römische Republik einen großen Kult betrieben.

Die antiken Bürger waren in gleicher Weise frei, soweit sie als Vollbürger Anteil hatten an einem Gemeinwesen, das frei von Tyrannei und Fremdherrschaft war. Die Vorstellung individueller Grundrechte gegen die Polis, gegen den „Staat“,  fehlte dagegen völlig. Solche Rechte hatten die Bürger nicht, und die Sklaven erst recht nicht. Zwar haben die römischen Juristen von den stoischen Philosophen gelernt, dass die Menschen von Natur aus frei und die Sklaverei folglich gegen die Natur sei, haben aber doch gleichzeitig die Sklaverei mit dem ius gentium, also den bei allen zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätzen gerechtfertigt. Auch die stoischen Philosophen selbst zogen aus ihrer Lehre von der natürlichen Freiheit und Gleichheit aller über das moralische Gebot mitmenschlicher Behandlung der Sklaven hinaus keine sozialen und politischen Konsequenzen. Vielmehr entwickelten sie eine Philosophie der inneren Freiheit. Die innere Freiheit, und nur sie, war auch das Thema der frühen christlichen Theologen des griechischen Ostens, die unter dem Einfluss der Platonischen Philosophie standen. Wir werden ihnen im Zusammenhang mit der Genealogie der Menschenwürde noch einmal begegnen.

In der deutschen Tradition zeigt sich das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit nicht ebenso harmonisch wie im altrepublikanisch-französischen Modell. Bei uns herrscht eher Dissonanz. Was der ehemalige Verfassungsrichter Gerhard Leibholz vor gut 50 Jahren geschrieben hat, bringt einen weithin bemerkbaren Grundzug deutscher Staatsanschauung zum Ausdruck: „Liberalismus und Demokratismus (sind) letzthin an verschiedenen politischen Grundwerten orientiert … Liberale Freiheit und demokratische Gleichheit stehen nicht zueinander in einem Verhältnis wechselseitiger natürlicher Harmonie. So wie liberale und soziale Grundrechte stehen liberale Freiheit und demokratische Gleichheit in Wirklichkeit zueinander im Verhältnis einer letzthin unaufhebbaren Spannung. Freiheit erzeugt zwangsläufig Ungleichheit und Gleichheit notwendig Unfreiheit.“

Ursache dieser Dissonanz ist offenkundig ein anderer, nicht in der res publica, sondern im Individuum zentrierter Freiheitsbegriff. Von daher werden rechtliche Regelungen von vornherein nicht als Ermöglichungsbedingungen von Freiheit, sondern als deren Einschränkungen verstanden. Die Genealogie führt auch hier auf die Philosophie der Stoa zurück.

Im Gegensatz zur klassischen Aristotelischen Philosophie der geschlossenen, in sich gestuften und, wie wir heute sagen würden kommunitaristischen  Polis, war sie, die Ethik der Stoa universal, egalitär und individualistisch. Sie zielte auf die Unerschütterlichkeit und innere Unabhängigkeit der moralisch selbstbestimmten Person. Dieser Tugend der Selbstbehauptung korrespondierte die stoische Oikeiosis– oder Aneignungslehre. Sie besagt, dass der für das naturgemäße Leben maßgebliche Naturtrieb der Selbsterhaltung beim Menschen nicht nur das Streben nach dem Glück des tugendhaften, naturgemäß-vernünftigen Lebens trägt, sondern auch das damit verbundene Streben nach allen Dingen, die seine seelische und leibliche Befindlichkeit fördern. So sie sich denn bieten – man soll ihnen also nicht nachjagen –, wählt er je nach den Umständen die ihm gemäß seiner Eigenart zukommenden Dinge aus und eignet sie sich an. Unter weniger beschaulichen Umständen, weniger bescheiden, weniger in sich gekehrt, weniger sanftmütig, den Blick mehr nach außen als auf das innere Glück des Weisen gerichtet, kann jene Lehre von der Selbsterhaltung dann neustoisch auch folgendermaßen lauten:

„Das natürliche Recht … ist die Freiheit eines jeden, seine eigene Macht nach seinem Willen zur Erhaltung seiner eigenen Natur, das heißt seines eigenen Lebens, einzusetzen und folglich alles zu tun, was er nach eigenem Urteil und eigener Vernunft als das zu diesem Zweck geeignete Mittel ansieht.“

So steht es in dem staatsphilosophischen Riesenwerk „Leviathan“ von Thomas Hobbes aus der Zeit der englischen Bürgerkriege. Es ist dies ein Schlüsseltext für das neuzeitliche politische Denken, auch wenn der Leviathan-Staat, ist er einmal aus dem Unterwerfungsakt seiner ursprünglich grenzenlos freien Untertanen hervorgegangen, keine Grundrechte oder andere Machtschranken kennt. Das revolutionär Neue liegt im methodischen Individualismus dieser Staatskonstruktion, die nur noch das Eigeninteresse der Individuen und den Willen der Einzelnen als Rechtfertigungsgrund staatlicher Herrschaft anerkennt. In diesem neuartigen Spannungsverhältnis von persönlicher Freiheit und staatlicher Herrschaft verlangt der Begriff der Freiheit alsbald nicht nur den Schutz durch staatliche Allgewalt vor den Schrecken eines gesetzlosen Zustands wie bei Hobbes, sondern auch Schutz vor ihr im staatlichen Zustand durch Anerkennung fundamentaler Freiheitsrechte.
Den epochalen Wendepunkt markiert die Unabhängigkeitserklärung der amerikanischen Revolutionäre oder – genauer gesagt – der nordamerikanischen Sezessionisten von 1776:

„Folgende Wahrheiten“, verkündeten sie, „erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten; dass, wenn immer irgendeine Regierungsform sich als diesen Zielen abträglich erweist, es das Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen usw.“

Jene „Wahrheiten“, auf die sich die Verfasser beriefen, sind die Lehren der Aufklärungsphilosophie, namentlich diejenigen von John Locke, der schon reichlich 80 Jahre früher, zur Zeit der unblutigen und daher glorreich genannten Revolution von 1688 für das, was man die rechtliche „Urausstattung“ des Menschen nennen könnte, die Formel life, liberty, property geprägt hat. John Locke, dieser Erzvater des Liberalismus und des „Besitzindividualismus“, wusste freilich noch, dass das Recht notwendige Bedingung der Freiheit ist: Where there is no Law, there ist no Freedom. Die erwähnte scharfe Antithese von Freiheit und notwendig egalisierender Rechtsetzung als prinzipieller Freiheitsbeschränkung zeigt sich erst im Liberalismus des 19. Jahrhunderts, bei John Stuart Mill vor allem. Daneben gab es eine Einstellung, die sich aus der kritischen Beobachtung des Verlaufs der Französischen Revolution gespeist haben mag.

Goethe hat sie in die Worte gefasst: „Gesetzgeber oder Revolutionärs, die Gleichsein und Freiheit zugleich versprechen, sind Phantasten oder Charlatans.“ Jedenfalls erwies sich dieser negative, bloß abwehrende Begriff der Freiheit gegenüber der älteren Tradition des positiven, auf Teilhabe am Politischen, Freiheit und Gleichheit in der repräsentativen Gesetzgebung versöhnenden Freiheitsbegriffs in den modernen zentralistischen Flächenstaaten als der stärkere. Im Wesentlichen dominierte er auch das Verständnis der einflussreichen Freiheitsphilosophie Kants, obwohl darin noch Elemente der positiven republikanischen Freiheitsphilosophie aufleuchten. Denn die Freiheit ist bei Kant schon im Ansatz durch die Freiheit der anderen beschränkt, wie sie in „einem möglichen allgemeinen Gesetz“ zusammen bestehen können. Demnach ist die Gleichheit, wie sie im allgemeinen Gesetz mitgedacht wird, das zweite Prinzip des bürgerlichen Zustands. Ansatzweise ist damit auch die notwendige, aber unvermeidlich bloß repräsentative Mitwirkung aller an der Gesetzgebung berührt. Doch bleibt die Gleichheit bei Kant dann doch die rechtliche Gleichheit der Untertanen, eingeschränkt dazu durch das Erfordernis der Selbständigkeit, das Bediensteten und Eigentumslosen die Bürgerrechte verwehrte.

Kern des Verfassungswerts der negativen, abwehrenden, das Individuum schützenden Freiheit, also der Freiheit im Sinne individueller Selbstbestimmung, ist die Glaubens- und Gewissensfreiheit. Sie beschränkt nicht nur die staatliche Gewalt, sondern untergräbt auch deren Rechtfertigung aus dem Absolutheitsanspruch einer bestimmten Glaubensüberzeugung. Zwar führte dieser Gedanke keineswegs umstandslos und direkt zur Statuierung der Glaubensfreiheit eines jeden und auch nicht schnurstracks zur weltanschaulichen Neutralität des Staates. Religionsfreiheit bestand zunächst in der Freiheit der zwei, dann der drei großen Religionsparteien, der Katholiken, Lutheraner und Calvinisten. Über die Glaubenszugehörigkeit entschieden vor allem die Landesherren und Städte für ihre Untertanen und Bürger. Dieses im Augsburger Religionsfrieden von 1555 etablierte Bestimmungsrecht (cuius regio, eius religio) wurde durch den Westfälischen Frieden ein knappes Jahrhundert später mit der Fixierung des Bekenntnisstandes auf das sog. „Normaljahr“ 1624 wieder eingeschränkt. Obrigkeiten, die auf diese Weise durch die Aufhebung von politischen Bekenntnisentscheidungen nach diesem „Normaljahr“ unversehens zu andersgläubigen Untertanen kamen, mussten deren Gewissensfreiheit respektieren, ihnen Hausandachten und gegebenenfalls die Auswanderung gestatten. Gleichwohl erstarkten die absolutistischen Herrschaften in diesen Auseinandersetzungen, weil sie die weltliche Hoheit über die religiösen Angelegenheiten erlangten.

Die Konfessionalisierung der Staatsgewalt unter dem Vorbehalt gewisser religiöser Duldungen erwies sich als ein folgenreicher Schritt zur Säkularisierung des Staates. Ihr korrespondiert der Weg von der religiösen Duldung zur Anerkennung der Religionsfreiheit. „Toleranz“, sagte schon Goethe, „sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“ Heute ist die Glaubens- und Religionsfreiheit fraglos eine notwendige Bedingung der modernen Staatlichkeit. Nach der mittelalterlichen Trennung des geistlichen und des weltlichen Bereichs, die bekanntlich nicht alle Kulturen kennen, haben wohl hauptsächlich die Glaubensspaltung und deren Folgen zu diesem Ergebnis geführt.

Eine politische Befriedung ist damit jedoch nicht unbedingt und für alle Fälle erreicht. In scheinbar paradoxer Weise geraten jetzt manche Glaubensrichtungen in Opposition zu eben diesen Funktionsbedingungen des Verfassungsstaates, die doch zugleich ihre Freiheit sichern. Das ist jedoch gar nicht so verwunderlich. Man erinnere sich nur, welche enormen Schwierigkeiten die katholische Kirche mit der Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution hatte. Über Generationen galt ihr jene Déclaration als Teufelswerk. Gewiss: da spielte die Religions- und Kirchenfeindlichkeit der französischen Aufklärung eine aufreizende Rolle. Dergleichen Radikalität war den deutschen Aufklärern wie den amerikanischen Rebellen fremd. Aber allein in der historisch gewachsenen Kirchenfeindschaft in Frankreich lag die Ursache des kirchlichen Widerstandes nicht. Letztlich war es die für die Kirche mit ihrem absoluten Wahrheitsanspruch unerträgliche Proklamation der Glaubensfreiheit. Mit ihr hat die katholische Kirche denn auch erst auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1965 ihren Frieden gemacht, unter hörbarem konservativen Zähneknirschen. In solche Schwierigkeiten kommt jede religiöse Richtung, die für ihre das private und das öffentliche Leben ihrer Anhänger erfassenden Lehren einen absoluten Wahrheitsanspruch erhebt, wenn das Gemeinwesen nicht ihr, sondern einer anderen oder überhaupt keiner derartigen Lehre folgt. Vielleicht ist für eine solche Gruppe ein religiös-weltanschaulich neutraler, in ihren Augen also „gottloser“ Staat noch schwerer zu ertragen als ein Staat der „falschen“ Gottesverehrung.
Damit sind wir nach unserem Ausflug in die Geschichte wieder in der Gegenwart angekommen.

II.

Was den Verfassungswert „Leben“ betrifft, so ist heute die Frage heftig umstritten, von welchem Zeitpunkt an der verfassungsrechtliche Schutz das werdende Leben erfasst. Dass Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz in einer Vorwirkung (wie immer man sie begründen mag) schon den Embryo schützt, steht fest. Die Frage ist nur, ob die Garantie bereits ab der Verschmelzung von Ei und Samenzelle oder erst ab Nidation, der Einnistung des befruchteten Eis in die Schleimhaut der Gebärmutter, oder von einem noch späteren Zeitpunkt der Schwangerschaft an gilt. Das Bundesverfassungsgericht scheint der erstgenannten Auffassung zuzuneigen. Jedenfalls hat es in seiner zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch von 1993 den bedeutungsschweren Satz aufgestellt, dass das menschliche Leben sich von seiner individuellen genetischen Bestimmung an – und die wird weithin, auch wenn das so nicht stimmt, mit der Befruchtung angesetzt – nicht zum Menschen, sondern als Mensch entwickle (BVerfGE 88, 203/251 f.). Das klingt wie ein Zitat und in gewisser Weise ist es das auch. Denn das Gericht beschwört damit eine bestimmte Position in einem naturphilosophischen Streit, der das Abendland in verschiedenen Versionen seit der Antike beschäftigt hat.

Die Ausgangslage: In der Antike und im mittelalterlichen weltlichen Recht gab es ursprünglich kein allgemeines Abtreibungsverbot. Der Fetus hatte keinen eigenen Rechtsstatus. Folglich hatte die Abtreibung nur dann Rechtsfolgen, wenn sie zum Tod der Schwangeren führte, gegen den Willen des Vaters erfolgte und damit die väterliche Gewalt verletzte oder – in gemeingefährlicher Weise – mit Giftmischerei verbunden war. Eine grundsätzliche Änderung dieser Einstellung bewirkte die Übersetzung von 2. Mose 21, 22 – 23 ins Griechische im Rahmen der sog. Septuaginta. Das Werk der angeblich 70 Übersetzer (daher der Name) entsprach einem Bedürfnis des Diasporajudentums, in dem man nicht mehr genug Hebräisch verstand, sondern im griechischen Kontext lebte. Diese aus praktischen Bedürfnissen des Kultus entstandene Übersetzung war aber nicht nur eine philologische Übertragung, sondern bewirkte darüber hinaus einen Hellenisierung des Textes im Ganzen. In Luthers Übersetzung lautet die ursprüngliche hebräische Fassung:

„Wenn Männer hadern und verletzen ein schwangeres Weib, dass ihr die Frucht abgeht, und ihr kein Schade widerfährt, so soll man ihn um Geld strafen, wie viel des Weibes Mann ihm auferlegt, und er soll‘s geben nach der Schiedsrichter Erkennen. Kommt ihr aber ein Schade daraus, so soll er lassen Seele um Seele.“

Nach der Septuaginta aber greift das ius talionis, die Vergeltung mit Gleichem, nicht nur, wenn die Schwangere zu Tode kommt, sondern bereits dann, wenn der abgetriebene Fetus menschliche Züge aufweist – ein paidion exeikonismenon ist, wie es im griechischen Text heißt, also ein ausgebildetes Menschlein (praktisch meinte das die Ausformung der Gliedmaßen) – , während es sonst für den nicht ausgebildeten Fetus beim Schadensersatz bleibt. Damit wird der Embryo selbst zum ersten Mal Schutzgut. Zugleich entsteht das Urmuster aller im Einzelnen freilich sehr unterschiedlichen „Fristenlösungen“ im Sinne zeitlicher Abstufungen des Schutzes. Im Prinzip entspricht das der Aristotelischen Lehre von der „Sukzessivbeseelung“. Sie besagt, dass gemäß dem langsamen Aufbau aller organischen Komplexe auch das Wesen des Menschen sich nicht sofort bei der Befruchtung auspräge. Vielmehr erfolge die Formung oder Beseelung des Embryos 40 oder 90 Tage später, je nachdem, ob es sich um einen männlichen oder weiblichen Fetus handelt. Und dieser Vorgang – als sozusagen stufenweise Ausbildung von vegetativer, animalischer und geistiger Struktur der einen Seele gedacht – ist verkürzt und vergröbert als „Drei-Seelen-Lehre“ bekannt geworden. Die Auffassung, dass der Embryo erst im Verlauf seiner Entwicklung zum Menschen heranreife, bestimmte auch die von Augustin und Thomas von Aquin geprägte mittelalterliche Tradition. Aristoteles folgend lehrt Thomas von Aquin: embrio antequam habeat animam rationalem non est ens perfectum. Oder kurz: Der noch nicht (vollständig) beseelte Embryo ist kein Mensch.

Hier gründet die kanonische Rechtstradition und ihr folgt mit maßgeblicher Wirkung nun auch für das weltliche Recht Kaiser Karls V. Peinliche Gerichtsordnung von 1532, die sog. Carolina. Deren Artikel 133 stellt alle Abtreibungen unter Strafe, unterscheidet aber im Sinne der Tradition, ob „eyn lebendig kindt“ oder „eyn Kind, das noch nit lebendig wer“, abgetrieben wurde, und bedroht nur den erstgenannten Fall mit der Todesstrafe. Das entspricht also der Septuaginta-Übersetzung des Alten Testaments: Ein nur eingeschränkter Schutz des Embryos, der noch nicht voll ausgebildet ist; ein starker Schutz für den ausgebildeten Fetus.

Es gab allerdings von Anfang an einen geistigen Kontrapunkt. Für ihn steht ein Mann, der uns schon begegnet ist: Tertullian. In einem zeittypischen Streit gegen die Gnostiker betonte er die Bedeutung des Körperlichen. Daher behauptet er in seiner Schrift De anima auch die Körperlichkeit der Seele in der Gestalt des Leibes. Die Seele, heißt es, werde zusammen mit dem Leib „empfangen, ausgebildet, vollendet“. Diese keineswegs spezifisch christliche Vorstellung, dass der Organismus aus seiner im Keim bereits fertigen verkleinerten Form erwächst, geht nach dem Zeugnis des Aristoteles auf den von ihm kritisierten Anaxagoras, Philosoph des 5. vorchristlichen Jahrhunderts, zurück. Mikroskopische Entdeckungen und mechanisches Denken brachten diese Auffassung im 17. Jahrhundert zur Blüte. Leibniz prägte dafür den Begriff der Präformation, also der Vorformung des vollständigen Organismus bereits im Keimling. Und er unterstrich diese Vorstellung im Hinblick auf die Bedeutung, die sie für eine mechanische Deutung der organischen Entwicklungen hatte.

Dabei gab es zwei Richtungen: Die sog. Animalkulisten gingen von einem kleinen Menschlein im Spermium, die sog. Ovulisten von einem solchen in der Eizelle aus. Verbesserte Beobachtungsmöglichkeiten führten ab der Mitte des 18. Jahrhunderts zur Ablösung durch die Theorie der Epigenesis – der Theorie des Zuwachses. Gemeint ist damit, dass ein Organismus sich allmählich durch aufeinanderfolgende Neubildungen entwickelt. Bahnbrechend wirkte ein Buch des von Goethe hochgeschätzten Mediziners Caspar Friedrich Wolff: Theorie von Generation, 1764. Das bedeutete allerdings keine einfache Rückkehr zur Lehre von der Sukzessivbeseelung im Sinne der „Drei-Seelen-Lehre“, die damals längst als widerlegt galt. Wohl aber verhalfen die Epigenetiker der Aristotelischen Grundidee der Unterscheidung vom ungeformten und dem daraus erwachsenden geformten Leben, dieser generalissima Aristotelis veritas, wie Wolff gesagt hatte, neuerlich zur Geltung.

So waren die Präformisten wissenschaftlich in Rückstand geraten, aber dafür jetzt im kirchlichen Strafrecht siegreich. Hatte die Verschärfung des Abtreibungsverbots durch Nichtberücksichtigung des Beseeltheitszustands des Embryos 1588 durch Sixtus V. unter dem Druck der uralten und mächtigen Traditionen schon drei Jahre später wieder der Fristenlösung weichen müssen, so war Pius IX. mit der Rückkehr zur Position Sixtus‘ V. 1869 dauerhaft erfolgreich. Seiner Lehre folgte 1993 auch das Bundesverfassungsgericht, jedenfalls in seinen theoretischen Grundsätzen, ohne dies erkennbar zu reflektieren. Die vom Bundesverfassungsgericht gezogenen Konsequenzen stimmen damit freilich nicht überein.

III.

Ein bisschen verwickelter ist die Genealogie des Verfassungswerts „Menschenwürde“, dieses „humanistischen Leitbegriffs“, wie Hans-Georg Gadamer gesagt hat. „Die dignitas humana“, schrieb kürzlich der Bonner Staatsrechtler Josef Isensee, habe „keine andere Begründung als den christlichen Glauben“; sie sei „unmittelbares Derivat des Christentums, von jeher Lehre der Kirche“. Das mag man von einem bestimmten Glaubensstandpunkt aus so sehen. Tatsache aber ist, dass es sich bei der dignitas hominis, der Würde des Menschen, um eine Begriffsprägung Ciceros handelt (der bekanntlich schon vor der Zeitenwende ermordet wurde). Er hat in seiner Ethik die der Antike ziemlich selbstverständliche Vorstellung von der Sonderstellung des Menschen in der Natur aufgegriffen und mit dem Geist der stoischen Philosophie erfüllt. Danach haben wir alle Anteil an der einen, den ganzen Kosmos erfüllenden göttlichen Weltvernunft und sind sämtlich Glieder eines großen, göttlich beseelten Körpers. Da konnten die Christen anschließen. Die in der Apostelgeschichte berichtete Predigt des Paulus in Athen (17, 16 ff.) bietet  eine Schlüsselszene. Im Blick auf die epikureischen und stoischen Philosophen, die da anwesend waren und vermutlich skeptisch dreinschauten, sagte der Apostel: „Führwahr, er (Gott) ist nicht ferne von einem jeglichen unter uns. Denn in ihm leben, weben und sind wir; wie auch etliche Dichter bei euch gesagt haben: ‚Wir sind seines Geschlechts‘.“

Die Angesprochenen wussten selbstverständlich, wer und was gemeint war: der Hymnus auf den allgegenwärtigen Gott (Zeus) des Kleanthes, den Aratos am Anfang seines ungemein populären, auch als Schullektüre dienenden Lehrgedichts über Sternbilder und Wetterzeichen zitierte. Kleanthes aber hatte nicht nur wie Aratos bei Zenon, dem Gründer der Stoa gehört, sondern war dessen Nachfolger in der Leitung dieser Philosophenschule. Nicht zufällig bildet sich dieser geistesgeschichtliche Zusammenhang auch in der Biographie des uns schon fast vertrauten Kirchenlehrers Tertullian ab: er, der sich verhältnismäßig spät taufen ließ, war zunächst in der stoischen Philosophie heimisch gewesen.

Nach der theologiegeschichtlichen Forschung haben christliche Autoren den ursprünglich stoischen Begriff der Menschenwürde später mit der biblischen Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen gemäß 1. Mose Kapitel 1 Vers 27 in Verbindung gebracht, wo es bekanntlich heißt: „Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib.“ Damit gewinnt der Begriff der Würde insofern eine spezifisch christliche Bedeutung, als er sich auf die Ähnlichkeitsbeziehung zu einem der Welt transzendenten persönlichen Schöpfergott stützt. Das geht über die Stoa weit hinaus. Auch kann die Gottesebenbildlichkeit als Fähigkeit des Menschen verstanden werden, vermöge der ihm verliehenen Freiheit und Schöpferkraft, Gott ähnlich zu werden.

Hier öffnet sich die christliche Lehre nun andererseits der griechischen Freiheitsphilosophie. Das zeigt sich z. B. bei Tertullian, hauptsächlich aber in der mystischen Theologie der griechischen Kirchenväter des Ostens. Nicht das Wesen des Menschen definiere seine Freiheit, lehrte etwa Gregor von Nyssa, sondern seine Freiheit bestimme sein Wesen. Wir seien gewissermaßen die Väter unserer selbst, indem wir uns nach unserer Vorstellung von uns bilden. In dieser Tradition steht auch der sehr um die Wiedervereinigung der West- und der Ostkirche bemühte Kardinal Nikolaus von Kues. Ihn hat dieser Freiheitsgedanke gegen die Mitte des 15. Jahrhunderts in seiner Erkenntnistheorie zur Bezeichnung des Menschen als eines „zweiten Gottes“ (deus secundus) geführt: Wie Gott der Schöpfer des wirklichen Seienden und der natürlichen Formen, so sei der Mensch Urheber des gedanklichen Seienden und der künstlichen Formen.

Ein Echo findet diese überlieferte Freiheitsphilosophie noch Ende des 15. Jahrhunderts bei den Renaissance-Humanisten der platonischen Akademie im Mediceischen Florenz. Einer jener gelehrten Humanisten hat es in den letzten Jahren zu größerer Bekanntheit gebracht. Mittlerweile wird er in allen juristischen Kommentaren zu Artikel 1 Grundgesetz zitiert: Pico della Mirandola, der Verfasser der oratio de hominis dignitate von 1486. Mit geradezu „existenzialistischem Timbre“ leitet Pico, an der Schwelle zur Moderne einen neuen Horizont erschließend, die Würde des Menschen nicht aus der im göttlichen Schöpfungsplan fixierten Stellung des Menschen im Kosmos zwischen Gott und der übrigen Schöpfung her, sondern aus des Menschen gottgegebener Freiheit und Schöpferkraft, sich und seine Stellung im Kosmos ohne Bindung an ein Urbild selbst zu bestimmen. Das eröffnet eine neue Welt, eine neue Perspektive, ist aber im Kern der Aussage uralt.

Der erwähnten christlichen Vertiefung der Menschenwürdeidee durch den Gedanken eines personalen Bezugs zu einem jenseitigen Schöpfergott entspricht andererseits eine gewisse religiöse Exklusivität dieser Sicht. Die für die Neuzeit charakteristische Frage nach der Stellung des Menschen im Gemeinwesen und gegenüber der Obrigkeit, wie sie aus der Behandlung des Menschen als eines Naturwesens und der Würde als sittlicher Qualität sich ergibt, erscheint in dieser Perspektive nicht. So hat die Kirche trotz ihrer Lehre von der gleichen Gottesebenbildlichkeit aller, die Menschen über Jahrhunderte durchaus folgenreich nach Christen, Häretikern und Nichtchristen sowie nach Männern und Frauen unterschieden. Und die Sklaverei (vom dunklen Kapitel inquisitorischer Folter zu schweigen) haben die Päpste nach partikulären Vorstößen – keine Versklavung von Christen, kein Sklavenhandel, Anmahnung menschlicher Behandlung der Sklaven – erst im 19. Jahrhundert definitiv verworfen. Es waren Laien, die die imago-dei-Lehre (die Lehre vom Bild Gottes im Menschen) unbefangen schon früher gegen die Kirche auf die soziale Sphäre bezogen. So lesen wir im „Sachsenspiegel“ des Eike von Repgow (um 1230):

„1. Gott hat den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen und hat ihn durch sein Martyrium erlöst, den einen wie den anderen. Ihm steht der Arme so nah wie der Reiche. … 3. Als man zum ersten Mal Recht setzte, da gab es keinen Dienstmann und da waren alle Leute frei. Mit meinem Verstand kann ich es auch nicht für Wahrheit halten, dass jemand des anderen Eigentum sein sollte.“

Und der puritanische Dichter John Milton hat 1649 zur Zeit der englischen Revolution aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen nicht nur gefolgert, dass alle Menschen von Natur aus frei, sondern dass sie alle zum Herrschen geboren seien und in der Glaubens-, Gewissens- und Meinungsfreiheit ihr wichtigstes Recht hätten. Mit gewissen Konsequenzen einer solchen Bedeutungsverschiebung hatte bekanntlich schon Luther in den Bauernkriegen seine Not.

Damit ist das in diesem Zusammenhang wichtige Stichwort „Reformation“ gefallen. Sie aktivierte in besonderer Weise noch einen ganz anderen Strang der christlichen Überlieferung, der viel stärker war als der bislang behandelte. Hatte Augustin, der einflussreichste der lateinischen Kirchenväter, in seinem epochalen Werk über den Gottesstaat doch gelehrt, dass der nach Gottes Bild geschaffene, durch Seele, Geist und Einsicht vor allen anderen Geschöpfen ausgezeichnete Mensch seine Würde durch Sündenfall und Erbsünde verloren habe, wenn er nicht durch die Gnade Gottes erlöst werde. Damit wird die christliche Lehre von der Menschenwürde in sich widersprüchlich, es ergibt sich eine „Unstimmigkeit“, wie man gesagt hat, die nur durch die Annahme zweier Würdebegriffe für den Zustand vor und nach dem Sündenfall zu beheben ist. Die Reformatoren Luther und Calvin folgten Augustin: Die sündigen Menschen haben ihre Gottesebenbildlichkeit eingebüßt; sie wiederzuerlangen, sei eine bloße Hoffnung, die sich auf die Güte und Gnade Gottes richte und aus unser aller Gotteskindschaft nähre. Da wir aber über Gottes Gnadenwahl nichts wissen, müssen wir alle Menschen als unsere Brüder achten und an ihnen die gnadenweise wiedergewinnbare Gottähnlichkeit ehren. Der Gedanke der Gottesebenbildlichkeit wird so von dem der gemeinsamen Gotteskindschaft überlagert. Damit deutet sich ein Gemeinschaftsbezug des Gedankens an und verschiebt sich der Akzent von der Freiheit auf die Gleichheit der Menschen. Dementsprechend legt Luther die Schöpfungsgeschichte dahin aus, dass die Menschen ihre Würde vor Gott durch den Sündenfall verloren haben, im gegenseitigen Verhältnis (inter se) aber von gleicher Würde und Beschaffenheit sind (aequali dignitate et conditione).

Die neuzeitliche politische Entwicklung der Idee von Freiheit, Gleichheit und Würde des Menschen vollzieht sich im Wesentlichen außerhalb der kirchlichen Lehren, teilweise entschieden gegen sie. Theologiegeschichtlich tut sich hier mit anderen Worten eine große Lücke auf. Erst angesichts des proletarischen Elends infolge der Industrialisierung und nach dem Protest gegen die bourgeoise Zerstörung der „persönlichen Würde“ im „Kommunistischen Manifest“ zeigt sich im sog. „Sozialprotestantismus“ eine gewisse Wiederbelebung der theologischen Diskussion im Kontext von sozialer Frage und sozialer Gerechtigkeit. Auf dem 4. evangelisch-sozialen Kongress von 1893 wandte sich der Berliner Theologieprofessor Julius Kaftan, ein durchaus konservativer Mann, gegen die Missstände bei der Arbeitszeit, den Wohnungsverhältnissen der Arbeiter und der Lohnregulierung, „die den Grundsatz von der Menschenwürde verletzen“. Denn die Wirtschaftsordnung sei um der Menschen willen gemacht und nicht umgekehrt. Kaftan sagte weiter: „Der Mensch darf nie und in keinem Fall zum bloßen Mittel herabgewürdigt werden, darf es selbst dann nicht, wenn er sich selbst dazu anbietet“. Andere Theologen sprachen in diesem Kontext freilich lieber vom „ewigen Wert“ der einzelnen Person, da ihnen der Terminus Menschenwürde sozialistisch imprägniert schien.

Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 zog in Artikel 151 Absatz 1 dann eine gewisse Bilanz der neueren Diskussion: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen.“ Die entsetzlichen Erfahrungen der Hitler-Herrschaft führten 1949 zu einer Verschiebung der Akzente: Die Menschenwürdegarantie stieg zur Staatsfundamentalnorm auf.

In der aktuellen bioethischen Debatte um den Embryonenschutz, in der Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz gern zum Zwecke der Verstärkung des Lebensschutzes instrumentalisiert wird, fällt auf, dass die theologischen Vertreter der Menschenwürde sich selten auf die Schöpfungsgeschichte und die Gottesebenbildlichkeit des Menschen berufen, sehr oft und nachhaltig aber auf Kant. Das ist wahrscheinlich weniger eine Folge der erwähnten großen Traditionslücke, vielleicht eher schon eine Konsequenz jener gewissen, durch die Lehre vom Sündenfall bewirkten inneren Unstimmigkeit der imago-dei-Lehre, entspringt hauptsächlich aber wohl dem Bemühen, das theologische Anliegen den Zeitgenossen verständlich zu machen.

Es scheint, dass manche Theologen Kants Philosophie menschlicher Würde kraft absoluter moralischer Selbstzweckhaftigkeit des Menschen im Sinne von Jürgen Habermas als eine „Übersetzung“ religiöser Erfahrung der Gottesnähe in eine gänzlich säkularisierte Umwelt verstehen. Das bedeutet freilich einen ziemlich radikalen Wechsel der Kontexte: statt personalem Gottesbezug absolute moralische Selbstbezüglichkeit des Menschen. Denn Würde steht bei Kant für den „absoluten inneren Wert“, der aus der moralischen Selbstzweckhaftigkeit der sittlichen Autonomie einer jeden Person kommt. Sie nötigt allererst zur Selbstachtung, die einen jeden jedem anderen moralisch gleichstellt, so dass er Achtung von ihm verlangen darf, wie er dann umgekehrt dessen Würde anerkennen muss. So findet sich der maßgebliche Text bei Kant denn auch nicht in der Rechts-, sondern in der Tugendlehre, und zwar im Abschnitt über die Pflichten des Menschen gegen sich selbst. Dort ist er gegen ein bestimmtes Laster gerichtet, nämlich gegen die „Kriecherei“. Wie man sieht, schließt die theologische Verwendung der Kantischen Philosophie im Zusammenhang mit dem Embryonenschutz noch eine zweite Verfremdung ein, weil dort von Selbstachtung als Basis der Würde schwerlich die Rede sein kann.

Aber wie das im Einzelnen sich verhalten mag: festzuhalten bleibt, dass auch Kants idealistische Philosophie der Freiheit, Autonomie und Würde nur aus einem kulturellen Wurzelgrund erwachsen konnte, in dem Motive der antiken Philosophie, der christlichen Lehre in mehreren Varianten, des Humanismus und der Aufklärung verflochten sind. Dabei ist im Auge zu behalten, dass das Christentum, mit dem nach Hegel die Idee in die Welt gekommen ist, dass „das Individuum als solches einen unendlichen Wert hat“, nicht nur neue Werte geprägt, sondern in einem hohen Maße kontinuitätswahrend gewirkt hat.

IV.

Was folgt aus alledem für das Verständnis und den Umgang mit unseren Verfassungswerten?

Ihre Genealogien bieten – wie zu sehen war – ein buntes Bild mit vielen Übermalungen. Manche Linie ist gebrochen, verschwindet, setzt sich an anderer Stelle in anderem Lichte fort. Oppositionen verändern sich. Was unsere Verfassungswerte trägt, ist eine Weltanschauung, in der das Individuum einen zentralen Platz und einen besonders hohen Rang einnimmt. Dieser Verfassungshumus resultiert aus einem kulturellen Sedimentierungsprozess, in dem verschiedene,  heterogene oder gar gegensätzliche Elemente sich aus ihren ursprünglichen Kontexten von Philosophie, Religion und Theologie lösen, ihren kantigen Charakter als Bruchstücke anspruchsvoller, ja exklusiver Lehr- oder Glaubenssysteme verlieren und zu einer Art von common sense zusammenfinden. Der Verfassungswert der Menschenwürde ist ein Beispiel dafür, dass sich von verschiedenen feststehenden Ausgangspositionen her Folgerungen entwickeln können, die die Bildung sich überlappender gesellschaftlicher Konsense ermöglichen. Dieser Befund bedeutet keine Schwäche der Verfassungswerte – im  Gegenteil: In der pluralistischen Gesellschaft muss die Verfassung für das Leben nach unterschiedlichen Moralen Verbindlichkeit beanspruchen. Und das kann sie umso erfolgreicher, je mehr Motive der Folgebereitschaft sie anspricht, je mehr Raum sie verschiedenen Grundüberzeugungen lässt. Verfassungswerte in einer lehrhaft-strengen Weise auf bestimmte einzelne Traditionselemente festzulegen, stärkt die Verfassung daher nicht, sondern schwächt sie.

Andererseits gilt: Die Ausübung individueller und kollektiver Religions- und Weltanschauungsfreiheit im religiös-weltanschaulich neutralen Staat setzt die Akzeptanz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates und die Profanität seiner Moral ebenso voraus wie die Aufnahme des Anerkennungspostulats für andere in die eigene religiöse Verkündung. Aktivitäten jenseits dieser Grenze können dem fundamentalen Ordnungsanspruch des Staates nicht durch Berufung auf die Freiheit von Religion und Weltanschauung entzogen werden. Eine andere Frage ist, ob der Ordnungsanspruch des Staates stets derart existenziell und nicht manchmal bloß traditionell begründet ist.

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