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Die Rekon­struk­tion des politischen Einflusses

05. November 1991

aus: ders., Zur religiösen Legitimation der Staatsgewalt in der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 1991, S. 24-35

An die alten, wenig glaubwürdigen gesellschaftlichen Muster aber knüpften die Kirchen nach 1945 wieder an: Sie versuchten Ihre alten Positionen zu restituieren. Sie nahmen massiven Einfluss auf die Konzeption der nach 1945 einsetzenden Ausarbeitungen der Verfassungen der deutschen Länder. Abgesehen von Bayern waren diese neuen Länder weitgehend durch die Grenzen der Besatzungszonen, also durch politische Zufälligkeiten bedingt; sie besaßen wenig traditionelle, ethnische oder geographische Gemeinsamkeiten. Dazu kam, dass die Bevölkerung vor allem in den amerikanischen und britischen Besatzungszonen stark mit Flüchtlingen und heimatvertriebenen durchsetzt war. Darum glaubten die neugeschaffenen Länder einer „übergreifenden“ Legitimationsinstanz zu bedürfen. Die Kirchen machten ihnen sehr nachdrücklich klar, dass dies nur die christliche Religion, vertreten durch die sie repräsentierenden Kirchen, sein könne: „Der Herrgott, der das deutsche Volk aus diesem Abgrund von gestern (sic!!) errettet hat, hat es gewiss nicht gerettet, um es morgen in einen neuen Abgrund versinken zu lassen!“ (Neuhäusler 1946, 4). Das war Drohung, Aufforderung und Angebot 1n einem: Das Volk hatte nach Auffassung der Kirchenmänner nur dann die Chance der neuerlichen Rettung, wenn es sich dem Willen der Kirchen, die den Willen Gottes vertraten, unterwarf. Denn für Christen scheinen Lebensverhältnisse Immer nur als Unterwerfung vorstellbar zu sein; entweder unter „böse, weil weltliche Machthaber“ oder aber unter den „lieben Gott und seine gütige Kirche“. In einem solchen geistigen Umfeld war es dann fast selbstverständlich, dass die Verfassungen der neugebildeten Länder Garantien für Freiheit und Selbständigkeit der christlichen Kirchen sowie vor allem Garantien ihres Vermögens enthielten. Teilweise räumten die Länder den Kirchen weitreichenden Einfluss auf Schule und Jugendpflege ein; manche, wie Nordrhein-Westfalen, sichern in den Verfassungen sogar die kirchliche Anstaltsseelsorge. Besonders pathetisch ist die Präambel der Verfassung des Freistaates Bayern (vom 2.12. 1946). Sie lautet: „Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die überlebenden des Zweiten Weltkrieges geführt hat…Diese Redeweise macht – bewusst oder unbewusst – vergessen, dass die herrschenden Ideen und leitenden Wertvorstellungen, die den Nationalsozialismus – vor allem in Bayern – die Machtübernahme ermöglicht hatten, die kirchlichen gewesen waren. Christlicher Religionsunterricht und kirchliche Verkündigung gab es vor 1933 wie nachher. Und der „Heldentod in Treue“ war ein oft gepredigtes christliches Ideal ebenso wie der Gehorsam der staatlichen Autorität gegenüber. Es darf nicht übersehen werden, dass der Religionsunterricht während des Dritten Reiches nie gänzlich abgeschafft worden war, dass die Kirchen als Kultinstitutionen in Liturgie und Predigt so gut wie nicht eingeschränkt waren. „Die Auseinandersetzung zwischen Kirche und NS-Staat vollziehen sich auf einem anderen Terrain: Die Kirchen fordern einen seelsor9lichen Zugang zu den KZ-Insassen, die SS verweigert dies… In der Denkschrift an Hitler vom August 1935 verurteilen die katholischen Bischöfe diese Einschränkung kirchlicher Tätigkeiten als illegale „Verweigerung des Bußsakraments“. In ihrer Argumentation geht es ausschließlich um die Grenzziehung zwischen kirchlicher und weltlicher Kompetenz: „Die Verwaltung der heiligen Sakramente aber, also auch die Zulassung zur Beichte, ist eine rein kirchliche Angelegenheit und dem Befinden des weltlichen Richters entzogen.“ In einer späteren Eingabe (Juli 1938) an die Gestapo-Zentrale sichert die Kirche zu, die Priester würden sich strikt an die Lagerregeln halten und seien verpflichtet, „insbesondere auch strengstes Stillschweigen zu bewahren“ (Rehmann 1986, 92). Für die Bischöfe scheint das einzig Skandalöse die Versagung der Sakramentesspendung zu sein, nicht die wider-rechtliche Inhaftierung nicht verurteilter Menschen und die in den Lagern herrschende menschenverachtende Brutalität. Bis Kriegsende waren in allen Einheiten der deutschen Wehrmacht Feldgeistliche zur Stärkung der Kampfmoral tätig. Bis zum Ende des Krieges fast gab es eine Konkurrenz zwischen dem Nationalsozialismus und der Kirche um die ideologische Besetzung des Krieges (Rehmann 1986, 93). Dessen ungeachtet überschwiegen die Kirchen nach 1945 diese Verstrickung in die NS-Geschichte der Deutschen geflissentlich und pochten auf die notwendige Anerkennung des göttlichen Sittengesetzes und der christlichen Religion in den staatlichen fundamentalen Normen. Tatsächlich sprechen die meisten Verfassungen, so die von Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz von der „Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Die christliche Tradition und die kirchlichen Institutionen sind somit, in unterschiedlicher Dichte, in die einzelnen Verfassungen als Leerformeln eingewoben. Unter dem Schock der Niederlage und der Wucht der Informationen über die Greueltalen der Nationalsozialisten, glaubten die Politiker, solche Gefahren für die Zukunft nur dadurch abwehren zu können, dass man sich Gott und seinen Kirchen anvertraute. Das ist deshalb so erstaunlich, weil die meisten Politiker die damals zu entscheiden hatten, entweder aus der Tradition der Sozialisten der Liberalen oder des Zentrums kamen. Sie alle wussten, welch verhängnisvolle Rolle, die Kirchen – auf evangelischer Seite entweder der Wahn der deutschen Christen oder die deutschnationale Fixierung auf konservative Werte und auf katholischer Seite die – durchaus unchristliche – Hoffnung der römischen Kurie und der deutschen Bischöfe auf den Abschluss des Reichskonkordates und damit auf formale und institutionelle Sicherungen, – für die Entwicklung in den entscheidenden Wochen und Monaten des Jahres 1933 gehabt hatten. Dennoch war die akute Bedeutung und der unmittelbare politische Einfluss der Kirchen nach dem Zusammenbruch so stark, dass die kirchlichen Interessen sich überall bis in die Verfassungen der Länder hinein und in die Realität der politischen Gestaltung durchsetzen konnten. Das verwundert dann nicht, wenn man weiß, dass – insbesondere in gewissen Gebieten Süd- und Westdeutschlands katholische Bischöfe und Prälaten nicht selten maßgeblich an der Gründung der C-Parteien – die Bezeichnungen gingen anfangs noch sehr durcheinander – beteiligt waren (u.a. Weinacht 1978, 88ff., 90, 143, 168)17). Weil die Kirchen in den letzten Kriegsjahren insgesamt einigermaßen auf Distanz gegenüber dem Nationalsozialismus gegangen waren, galt nun das Christentum als Grundlage der gemeinsamen abendländischen Kultur. Evangelische Kirchenführer, wie der württembergische Landesbischof D. Wurm waren hier aus theologischen wie pragmatischen Gründen zurückhaltender, wenn auch manche evangelische Politiker eine Trennung von Christentum und Politik glaubten ablehnen zu sollen (Weinacht, 1978, 142).
Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten viele Menschen sich der christlichen Grundlagen der zerstörten Zivilisation und der durch das diktatorische Regime in Frage gestellten Kulturwerte erneut vergewissern. In Deutschland konnte der „Katholizismus“ dabei vor allem auf die ehemaligen Mitglieder bzw. Wähler der (katholischen) Zentrumspartei zurückgreifen. Auf evangelischer Seite standen die Reste der Gruppierungen „christlich-sozialer Volksdienste“ zur Verfügung. Die Gründung der C-Parteien nach dem Zusammenbruch ist sowohl Abschluss der Entwicklung eines eigenständigen christlich-konfessionellen Parteientyps als auch Beginn einer neuen – oft bewusst liberalen – Entwicklung. Unmittelbar nach der Niederlage entstanden überall in Deutschland politische Gruppierungen, die eine interkonfessionelle christlich orientierte Volkspartei anstrebten. Der Gründerkreis in Berlin unter Führung von A. Hermes prägte den Namen CDU und veröffentlichte am 26.6.1945 einen Aufruf zur Sammlung christlicher, demokratischer und sozialer Kräfte. Zur gleichen Zeit fiel in Köln und im Rheinland, der ehemaligen Hochburg der deutschen Zentrumspartei, die Entscheidung für die Gründung einer christlich-demokratischen Partei (Kölner Leitsätze vom Juli 1945)18). Die Idee, eine überkonfessionelle Volkspartei sein zu wollen, die vor allem starke wirtschaftspolitische Akzente betonte, veränderte die Einflussmöglichkeilen der Amtskirchen auf die Partei.  Es gab abgesehen von der CSU in Bayern – auch in den ersten Jahren nach 1945 nur vergleichsweise wenige Geistliche unter den Abgeordneten und in führenden Parteifunktionen. Dennoch war der moralische Einfluss der Kirchen, besonders der katholischen, unverhältnismäßig stark. Das machte besonders deutlich der Anteil der katholischen Mitglieder in CDU und CSU. Im Vergleich zur Wählerschaft waren bei den CDU/CSU-Mitgliedern Männer, Katholiken und Selbständige überrepräsentiert (Gotto, 1985, 1117). Die bei allen C-Parteien ursprünglich vorhandene Vorstellung eines „Sozialismus aus christlicher Verantwortung“ trat nicht erst unter dem Einfluss von Ludwig Erhard s sozialer Marktwirtschaft in den Hintergrund, sondern war schon vorher durch die Interessenkoalition der Großgrundbesitzer, nämlich Kirche und Adel, gefährdet, die etwa in Südbaden bereits 1948 zu einer gefährlichen Regierungskrise führte (Weinacht, 1978, 99). Das umgreifende Band, das die christlichen Parteien. die Kirchen und breite Schichten des Wählervolkes einte. war der latente, seit dem Korea-Krieg auch manifeste Antikommunismus. Für die Amtskirche (aber wohl nicht nur für sie) stellte sich die Situation so dar, dass der NS-Feind zwar geschlagen, der viel größere Feind, nämlich der Kommunismus und der nicht minder gefürchtete Sozialismus, noch mächtiger geworden war. Obwohl in den Konzentrationslager Christen, Sozialisten, Kommunisten, Liberale und Atheisten politische Solidarität beim Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens geschworen hatten, gerieten vornehmlich die Kommunisten, nicht zuletzt wegen der sowjetisch-stalinistischen Gewalttätigkeiten, sehr bald und gründlich in eine gesellschaftliche und politische Außenseiterposition. Mehr noch als in der politischen Organisation der Christen, nämlich den C-Parteien, wurde von den Kirchen, hier wieder insbesondere von der katholischen Kirche, die allgemeine Kommunistenfurcht geschürt. Diese Taktik hatte zur Folge, dass auch die Sozialdemokratie in die sozialistisch-kommunistische Ecke gedrängt wurde. Erst nach dem Godesberger Programm (1959) gelang es den Sozialdemokraten sich langsam aus dieser Diskriminierung als antichristliche, atheistische und materialistische Partei zu lösen. In bezug auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik haben die deutschen Bischöfe sich weithin positiver Anregungen enthalten. Sie forderten zwar soziale Gerechtigkeit, doch standen im wesentlichen die alten Themen im Mittelpunkt ihrer Ermahnungen. Sie plädierten abstrakt für Gerechtigkeit, verurteilten die allgemeine Unsittlichkeit, sie dramatisierten die Gefahren für die Tugend der Reinheil, priesen die Heiligkeit der Familie und forderten die katholische Bekenntnisschule. Letztere wird zum Prüfstein erklärt, an dem die katholischen Wähler die Abgeordneten zu messen haben: „Wir erwarten von den Abgeordneten, denen das katholische Volk seine Stimme gibt, ein mannhaftes Eintreten für die kirchlichen Forderungen“ (Hirtenbrief der deutschen katholischen Bischöfe vom 23.2.1947). Dass es unter den Kandidaten für die Abgeordnetenmandate auch – allerdings viel zu wenige – Frauen gab, ist dem männlichen Blickwinkel der Bischöfe offenbar voll entgangen. Im Blick auf die Ausarbeitung einer Bundesverfassung betonten die Bischöfe, die Katholiken wollten dafür sorgen, dass die Grundsteine des staatlichen Aufbauwerks „mit Ehrfurcht vor Gott gesalbt und nicht in den Schatten der Gottesferne gelegt werden. Jeder Baustein soll nach den Bauplänen Gottes geformt und gesetzt werden, ob es sich um unverletzliche Personenrechte handelt oder um Gemeinschaftspflichten, um den Schutz der Familie und die Heiligkeit der Ehe oder das Lebensrechts des Kindes und das naturgegebene Erziehungsrecht der Eltern oder ob Eigentumsrechte gewährleistet und Eigentumspflichten eingeschärft werden  die Nahrung der Rechte und Freiheiten der Kirche werden für die christliche Lebensgestaltung im Staat von ausschlaggebender Bedeutung… sein. Dieser Verantwortung müssen sich die Wähler bewusst sein, die durch ihre Stimme die Bauleute berufen, die die Verfassung des Staates zu gestalten… haben diejenigen aber, die vom christlichen Volk zur christlichen Aufbauarbeit erwählt worden sind, haben die heilige Pflicht, ganz und gar nach den Grundsätzen Christi zu handeln…“ (Hervorhebung von J.N.). Die Hierarchie zeichnet also ein klares Handlungskonzept vor: Die Bischöfe sagen, was das christliche Volk zu tun, worauf es seine Forderungen zu richten hat. Die Bereiche werden allgemein vorformuliert und das demgemä0e christliches Handeln zur heiligen Pflicht erklärt, da für einen Christen nur ein Handeln nach den „Grundsätzen Christi“ in Frage kommen kann. Wie das im Einzelfall auszusehen hat, bestimmen die Bischöfe.
Es ging hier also nicht nur um die Durchdringung, sondern um die Beherrschung aller gesellschaftlich bedeutsamen Positionen, denn nur jene Positionen, die von den Bischöfen als christlich definiert worden waren, sollten – weil natur-rechtlich begründet – allgemein verbindlich sein. Im Prozess der Verfassungsgesetzgebung waren die Kirchen und die Gewerkschaften diejenigen Interessengruppen, die einerseits den Alliierten am wenigstens suspekt erschienen und die zum anderen über eine beträchtliche mobilisierbare Anhängerschaft unter den Wählern verfügten. Beide jedoch setzten sich in diesem Prozess nur zugunsten von Teilinteressen ein (vgl. v. Beyme, 1979, 15): Die Kirchen vor allem in den Bereichen Erziehung und Familie, sowie bezüglich des Verhältnisses von Kirche und Staat; die Gewerkschaften im Bereich Wirtschafts- und Sozialordnung. Während die Kirchen das gesamte politische Feld unter den Anspruch Gottes, so wie ihn die Bischöfe deuteten und verstanden, stellen wollten, waren die Gewerkschaften gelegentlich von erstaunlicher Kurzsichtigkeit in bezug auf ihre eigene Position und die Reichweite ihrer eigenen Interessen, wenn sie beispielsweise erklärten, es sei nicht ihre Sache sich über Fragen der Kompetenzverteilung zwischen Ländern und Bund ein Urteil zu bilden, soweit dabei nicht direkt die Interessen der arbeitenden Bevölkerung berührt würden (v. Beyme, 79, 15). Darum verwundert es nicht, dass die Kirchen bei der Mitgestaltung der Verfassung im ganzen erfolgreicher als die Gewerkschaften waren, vor allem in Fragen des Verhältnisses von Kirche und Staat, in der Schulpolitik und bei der Verfechtung eines unter dem Patronat der Kirche stehenden Elternrechts. Trotz dieser günstigen Ausgangslage erreichten die katholischen Bischöfe ihre zu hoch gesteckten ziele nicht,. Sie beklagten deshalb in ihrem „Hirtenwort zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“ vom 20.5.1949, dass es nicht gelungen sei, „dem ganzen Grundgesetz die tiefere religiöse Bedeutung zu geben.“ Dabei haben die Kirchen viele ihrer Forderungen im parlamentarischen Rat durchsetzen können. Entgegen den ursprünglichen Absichten dieser verfassungsgebenden Versammlung gelang es den Kirchen über Art. 4 hinaus noch beachtliche Positionen grundrechtlich zu sichern (Art. 6: Ehe und Familie; Elternrecht und Art. 7 Abs. 3 Religionsunterricht als Pflichtfach an öffentlichen Schulen). Vor allem aber ist auf nachdrückliches Drängen der Kirchen zurückzuführen, dass über Art. 140 die wichtigsten staatskirchenrechtlichen Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung in das Grundgesetz inkorporiert wurden. Damit ist teilweise, wie Erwin Fischer es formuliert hat, verfassungswidriges Verfassungsrecht geschaffen worden, weil diese Normen aus einer anderen Verfassungskonzeption stammen. Die Weimarer Reichsverfassung war nicht nur weithin noch der Vorstellung eines Obrigkeitsstaates verpflichtet, sondern hatte auch die Unveräußerlichkeit der individuellen Grundrechte weder erkannt geschweige denn zu sichern versucht. Dennoch monierten die Bischöfe in ihrem Hirtenbrief, dass der Parlamentarische Rat es abgelehnt habe, von den Menschenrechten als „von Gott gegebenen Rechten“ zu sprechen. Dies gäbe Anlass zu ernsten Bedenken. Insbesondere beanstandeten sie, dass das Elternrecht auf eine religiöse öffentliche Schule-verletzt sei. Im Namen des ganzen katholischen Volkes, das sie selbstverständlich nicht gefragt hatten, erklärten sie darum feierlich: „Wir können dieses Grundgesetz, das es an der Anerkennung eines so wesentlichen und unveräußerlichen Grundrechts – wie des vollen Elternrechts – fehlen lässt, nur als vorläufiges betrachten.“ Ausdrücklich erklären sie, sie würden auf diese Forderungen weder verzichten können noch wollen. Offenbar konnten sie sich nicht vorstellen, wie sie und das katholische Volk ohne Gegner zusammenhalten und ohne Kampf auskommen könnten, denn sie drohen: „Mit dieser Ablehnung unserer Forderungen ist uns ein Kampf aufgezwungen, der zu verhindern gewesen wäre, wenn man unseren ernsten Mahnungen  Gehör geschenkt hätte.“ Den Bischöfen ist offenbar weder das Anmaßende ihres Verhaltens noch das Makabre ihrer Formulierung aufgefallen, denn auch Hitler hatte immer vom „dem deutschen Volk aufgezwungenen Kampf“ gesprochen. Mit geradezu apokalyptischer Rhetorik rufen sie schließlich „unser ganzes katholisches Volk“ auf zur Verteidigung des Elternrechts und der Gewissensfreiheit. „Unser Volk weiß jetzt, welche wichtigen kulturellen Fragen… zur Entscheidung stehen. Bei den zukünftigen Wahlen wird es Antwort geben, auf die in Bonn durch die parlamentarische Mehrheit erfolgte Zurückweisung seines Rechtsanspruchs.“ Die Bischöfe wollten die Vorstellungen und Idealforderungen einer – wenn auch zahlenmäßig nicht geringen – Minderheit des deutschen Volkes zum rechtlichen Maßstab für alle gesetzt wissen. – Tatsächlich wählten die Deutschen, wohl auch die deutschen Katholiken den Weg der sozialen Marktwirtschaft, des WirLSUcaftswunder5 und ständig steigender Produktion und zunehmenden Konsums. Betrachtet man die Texte des Grundgesetzes, muss einem heute mehr denn je die Schelte der Bischöfe unverständlich erscheinen. Die Präambel spricht davon, das deutsche Volk habe sich „im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ diese Verfassung gegeben; der Artikel 2 redet zwar lediglich vom Sittengesetz, statt vorn christlichen Sittengesetz, doch wenn es denn tatsächlich keine Staatskirche mehr in der Bundesrepublik unter dem Grundgesetz geben sollte, verbot sich jede präzisere Formulierung von selbst. Andererseits ist nicht nur der Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen als ordentliches Lehrfach fest-geschrieben, sondern sind auch die massiven Vorrechte der Kirchen aus der Weimarer Reichsverfassung in das Grundgesetz übernommen worden: Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet danach ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes (Art. 137 Abs. 111 WRV). Die Religionsgesellschaften bleiben auch Körperschaften des öffentlichen Rechts (Art. 137 Abs.WRY), und sind als solche berechtigt auf Grund der bürgerlichen Steuerlisten Steuern zu erheben (Art. 137 Abs. VI WRV). Selbst die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften behalten ihren Bestand, bis sie durch Landesgesetzgebung nach einem reichseinheitlichen Verfahren abgelöst werden können (Art. 138 Abs. I WRV); ebenso wird ihr Eigentum in jeder Weise gesichert (Art. 138 Abs. 11 WRV). Die unbehinderte Seelsorge in sogenannten besonderen Gewaltverhältnissen ist gewährleistet (Art. 141 WRV). Durch diese Sonderrechte der Kirchen ist die Eindeutigkeit des Artikel 4, der die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses für unverletzlich erklärt und die ungestörte Religionsausübung gewährleistet, in folgenschwerer Weise modifiziert. Die Kirchen erscheinen nun als die (ausschließlichen) Repräsentanten des Religiösen, ja des Gewissens; vor allem ihre Freiheit scheint gewährleistet. Staatsrechtliche Doktrin und höchstrichterliche Rechtssprechung haben diese Deutung weithin verfestigt und verhängnisvoll ausgeweitet (Fischer 1989, 295-307). Es ist nicht verwunderlich, wenn damals Kritiker die restaurative Entwicklung in den drei Westzonen mit den „vier großen K = kapitalistisch, kartellistisch, konservativ und katholisch“ umschrieben und den Vatikan als 5. Besatzungsmacht bezeichneten (0. Köhler, in: Staatslexikon I1, 61950, 724f.).

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