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Die "Stunde Null" und das neue Selbst­be­wusst­sein der Kirchen

05. November 1991

aus: ders., Zur religiösen Legitimation der Staatsgewalt in der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 1991, S. 1-21

Die „Stunde Null“ vom 8. Mai 1945 war auch bezüglich des Verhältnisses von Staat und Religion kein Neuanfang, sondern eine Fortsetzung. Erst recht war die Gründung der neuen Republik, der Bundesrepublik Deutschland, kein revolutionärer Umbruch aufgrund der schrecklichen Erfahrung des Krieges und des Widerstandes weniger gegen das nationalsozialistische Unrecht, sondern eine konsequente Fortsetzung der rechtlichen, politischen und religiösen Entwicklungslinien die Jahrzehnte vorher begonnen hatten. Lediglich durch die Auflagen der alliierten Siegermächte hatten manche Traditionen punktuell neue Differenzierungen, aber auch deutliche Verstärkungen der impliziten Inklinationen gegenüber den religiösen Institutionen erhalten. Die Jahre nach 1945 stellen also die Fortsetzung einer verhängnisvollen Geschichte dar, die über die NS-Zeit und die Weimarer Republik hineinreicht in die ungeschminkte Verquickung der Herrschaft von Thron und Altar über Leib und Seelen der Untertanen in den deutschen Monarchien.

Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass es mit Hilfe der (Christlichen) Religion – katholischer wie evangelischer Provenienz – den (absolutistischen) Herrschern möglich geworden war aus Bürgern gehorsame Untertanen zu machen. Die „Kinder Gottes und Erben des Himmels“ waren von den geistlichen Hirten mit Hilfe der von Gott gesetzten Obrigkeit (Röm 13, 1-6) zu gehorsam ergebenen, blind vertrauenden Schafen dressiert worden. Das verwundert nicht, wenn man genau liest, was Paulus am Anfang des 13. Kapitels des Römerbriefes schreibt: „Jedermann sei der obrigkeitlichen Gewalt untertan; denn es gibt Gewalt nur von Gott, und die bestehende Gewalt ist von Gott geordnet. Wer sich also gegen die Obrigkeit auflehnt, widersteht der Anordnung Gottes: die Widersetzlichen ziehen sich selbst das Gericht zu. Die Regierenden sind Anlass zur Furcht nicht wegen der guten Tat, sondern wegen der bösen. Willst du dich vor der Obrigkeit nicht fürchten, so tue das Gute, und du wirst Lob von ihr erhalten; denn sie ist Gottes Dienerin, dir zum Guten. Tust du freilich das Böse, so hast du Grund zu fürchten: Sie trägt das Schwert nicht umsonst; sie ist doch Gottes Dienerin, Richterin zur Vollstreckung des Zornes an den Übeltätern. Also, muss man sich (zu ergänzen: der weltlichen Autorität: J.N.) unterwerfen, nicht allein des Zornes wegen, sondern auch um des Gewissens Willen. Deshalb zahlt ihr ja auch die Steuer. Sie walten in Gottes Namen und sind gerade deshalb in ihrem Amt.“

Nicht zuletzt dank dieser Ermahnung des Paulus, die in eine ganz bestimmte Situation der Gemeinde Roms gesagt war, hatten die Christen seit frühester Zeit sich den Herrschern als treueste Untertanen empfohlen: Schon zwei Jahrhunderte vor Augustinus hat Origenes (185-254 n.Zw.) es so formuliert: „Die Christen erweisen ihrem Vaterland mehr Wohltaten als die übrigen Menschen. Denn sie sind die erzieherischen Vorbilder für die anderen Staatsbürger, weil sie lehren, Gott treu zu sein, der über dem Staat steht…“ (Contra Celsum VIII, 74: Rahner, 1961, 39. – Tertullian (ca. 160-220 n.Zw.) nannte auch die Motive der Christen für ihre Kooperation mit dem Staat und ihre Erwartung, über alles herrschen zu können: „Wir beten nämlich für das Heil der Kaiser zu Gott dem Ewigen wir beten allezeit für alle Kaiser um ein langes Leben, um friedvolle Herrschaft, um die Sicherheit ihres Hauses, um ein tapferes Kriegsheer, einen getreuen Senat, um die Ruhe des Erdkreises…  Es besteht aber für uns noch eine andere, weil dringlichere Pflicht für die Kaiser, ja für den Fortbestand des Imperiums und des römischen Staates zu beten: Wir wissen nämlich, dass die der ganzen Welt drohende Endkatastrophe und das Ende der Zeiten mit all seinen dräuenden Schrecken nur durch den Fortbestand des römischen Imperiums aufgehalten wird. Weil wir nun die Zeiten nicht mit erleben wollen und deshalb um ihren Aufschub beten sind wir auch die Freunde Roms und seiner dauernden Wohlfahrt… “ schließlich: „Der Kaiser gehört uns, denn er ist von unserem Gott eingesetzt. Und weil er so mein eigener Kaiser ist, fördere ich sein Heil mehr… “ (Apologetikum 28, 3-33,3: Rahner, 1961, 47-49; Hervorhebung im Zitat von J.N.)
Von solch unverblümter Darstellung der eigenen Interessen führt ein gerader Weg zu Martin Luthers Lehre, dass der Christ der rechtmäßigen Obrigkeit nicht nur zeitlicher Strafen willen gehorchen müsse, sondern weil er sonst Gottes Zorn wecken und sein Seelenheil gefährden würde. Der Christ wird also nach Luthers Meinung dem irdischen Recht mit größerer Gewissenhaftigkeit folgen als ein Heidenaher ist das Christentum die festeste Stütze weltlicher Herrschaft ‚. So gingen denn mit Luthers Ermunterung und Segen die Fürsten gegen die „räuberischen Bauern“, Wiedertäufer und Juden vor. Sie durften sich als „Gottes amptmann und seyns Zornes diener“ wissen (W.A. XVI, 360).
In dieser ungebrochenen christlichen Tradition stehend konnte im Zweiten Weltkrieg Hanns Lilje, der spätere Landesbischof und seit 1953 leitender Bischof der Vereinigten Evangelischen-Lutherischen Kirche Deutschlands, in seiner Schrift mit dem Titel „Der Krieg als geistliche Leistung“ schreiben: „Es muss nicht nur auf den Koppelschlössern der Soldaten, sondern in Herz und Gewissen stehen: Mit Gott! Nur im Namen Gottes kann man dieses Opfer legitimieren.“ (1941, 14) Das stimmt zweifellos: Der verbrecherische Angriffskrieg der Deutschen konnte nur im Namen des Christengottes legitimiert werden, wenn er als Kampf gegen den gottlosen Bolschewismus und das die christliche Sitte zersetzende Judentum dargestellt wurde. Und wer konnte das besser beurteilen, als die Kirchen. Das war gut lutherisch gedacht, denn kein Unrecht der Obrigkeit gibt dem Untertan das Recht zum Aufruhr: „misprauch verstöret das ampt nicht‘. Was allerdings das Recht der evangelischen Fürsten anlangt, so dürfen sie im Fall eines Religionskrieges – aktiven Widerstand leisten gegen den (papistischen) Kaiser, da dieser gegen die reine Lehre vom Evangelium, wie Luther sie versteht, vorgehen will“ . Ein guter Theologe ist, wer aus der Bibel jeden Grundsatz der Macht zu rechtfertigen vermag, sofern er dem eigenen Vorteil dient. Es kommt in einem Konflikt eben immer darauf an, auf welcher Seite das Recht Gottes streitet.

Ganz im Sinne dieser theologischen und kirchlich-machtpolitischen Tradition hatten die Römische Kurie und der Deutsche Episkopat ebenso wie die Evangelischen Landeskirchen der jungen Weimarer Republik weder Entgegenkommen noch gar Wohl-wollen, ja nicht einmal Respekt gezeigt (vgl. zum Ganzen: Neumann 1983, 62-70). Diese Republik hatte es ja gewagt die kirchlichen Privilegien und Machtpositionen, wenn nicht zubeseitigen, so doch in Frage zu stellen. Darum versagten ihr die kirchlichen Repräsentanten jede auch noch so zarte legitimierende Geste mit der sie sonst der staatlichen Gewalt gegenüber nicht geizten. Die protestantischen Landeskirchen, des Fürsten als oberstem Landesbischof beraubt. schufen sich zwar nach demokratischem Muster synodale Organe der Kirchenleitung, trauerten aber den Vorstellungen der alten Einheit von Thron und Altar vielleicht noch stärker nach als die Katholiken, denn sie halten insbesondere in Preußen und Württemberg mit vielen Privilegien aus-gestattete Positionen räumen müssen.
Das Zusammenspiel und die Legitimationskraft der Kirchen gegenüber den staatlichen Institutionen in Deutschland nach 1945 insgesamt und der Bundesrepublik seit 1949, wird man erst dann zu würdigen wissen, wenn man weiß, wie sich die Kirchen den staatlichen Organen während der Weimarer Republik gegenüber verhalten haben. So wurde beispielsweise die von staatlichen Behörden erbetenen empfehlenden Hinweise auf den Verfassungstag (11. August) mit dem Bemerken abgelehnt, „das Ansinnen der bestehenden Verfassung die Treue zu halten“, sei nicht akzeptabel. In diesem Sinn schrieb Kardinal Faulhaber am 23.7.1923 an den Reichsinnenminister Jarres: „Wir Bischöfe können nicht den Geburtstag einer Verfassung feiern, gegen die wir bald nach ihrer Geburt Einspruch erhoben haben, weil vier oder fünf Punkte (Sie.J.N.) der Verfassung mit kirchlichen Gesetzen und Grundsätzen und darum mit dem katholischen Gewissen in Widerspruch stehen.“ (Akten 1, 337) Der Bischof macht sich gar nicht die Mühe die beschwerenden Normen überhaupt zu benennen, es kommt ihm offensichtlich gar nicht auf Einzelheiten an, vielmehr passt ihm die ganze Richtung nicht. Und aus diesen politischen bzw. juristischen Differenzen folgert er, diese Normen – die kirchlichen Grundsätzen widersprachen – würden deshalb mit dem ‚katholischen Gewissen“ in Widerspruch stehen. Der Bischof überschweigt dabei, dass an dem Zustandekommen dieser Verfassung durchaus die katholischen Politiker der Zentrumspartei – aber auch in anderen Parteien – mitgewirkt hatten. In gleicher Weise wurde eine Würdigung des verstorbenen Reichspräsidenten Friedrich Eberl (1671-1925) und ein kirchliches Glockengeläut zum Zeitpunkt seiner Beerdigung vielfach abgelehnt, wenn auch nicht überall so ’schroff wie in Bayern. Dort begründete Kardinal Faulhaber seine ablehnende Haltung seinem Klerus gegenüber wie folgt: „i. Reichspräsident Ebert stand auf dem Boden der Weimarer Verfassung, die grundsätzlich auf eine Trennung von Staat und Kirche abzielte… „.
Außerdem solle mit der  Trauerkundgebung „nur eine Nachbildung der Bestattungsfeierlichkeiten der früheren Reichsoberhäupter“ dargestellt werden (Akten 1, 364). Diesen Gedanken formulierte der Bischof von Passau, Sigismund Felix Freiherr von Ow-Felldorf ganz ungeniert, wenn er schreibt: Ein Trauergeläute käme schon deshalb nicht in Frage, „weil ‚Republik‘ und ‚Staatsoberhaupt‘ doch eigentlich zwei logisch unvereinbare Begriffe sind und es einer Irreführung der öffentlichen Meinung gleichkäme, wenn dem ersten Beamten der Republik die gleichen kirchlichen Ehren erwiesen würden wie dem Oberhaupt eines angestammten Herrscherhauses“ (Akten 1, 365). – Vielleicht ist es gut, sich an dieser Stelle zu vergegenwärtigen, dass es die gleichen Bischöfe waren, die nach den Siegen über das (katholische) Polen und über Frankreich die Kirchenglocken läuten ließen und die bis 1945 zur gehorsamen Pflichterfüllung aufgerufen haben.

Anlässlich der Überführung des toten bayerischen Königspaares nach München im Jahr 1921 erteilte Kardinal Faulhaber der jungen Republik und ihrer ldee von der Volkssouveränität eine klare Absage, als er feststellte: „Könige von Volkesgnaden“ seien „keine Gnade für das Volk‘ vielmehr werde, „wo das Volk sein eigener König ist…  es über kurz oder lang auch sein eigener Totengräber“ (Akten 1, LXII). Seine Ablehnung des demokratischen Staatswesens macht Faulhaber dann noch einmal anlässlich des Katholikentages in München 1922 unmissverständlich deutlich. Dort führte er aus: „Die Revolution war Meineid und Hochverrat. bleibt in der Geschichte erblich belastet, mit dem Kainsmal gezeichnet. Auch wenn der Umsturz ein paar Erfolge brachte, wenn er den Bekennern des katholischen Glaubens den Weg zu höheren Ämtern weit mehr als früher erschloss – ein sittlicher Charakter wertet nicht nach den Erfolgen, eine Untat darf nicht der Erfolge wegen heilig gesprochen werden“ (Akten 1, 278). Das war nicht nur ein Affront gegen die Republik; das war ein Aufruf an alle deutschen Katholiken zur Illoyalität gegenüber der jungen Demokratie, das war eine Desavouierung auch der katholischen Zentrumspartei, die eine der tragenden Kräfte dieser Republik war. Zwar stellte Konrad Adenauer, damaliger Präsident des Katholikentages, in seiner Schlussansprache nachdrücklich fest, dass hinter dieser staatspolitischen Wertung des Erzbischofs von München „die Gesamtheit der deutschen Katholiken nicht stehe,“ doch war damit das Verhältnis von Kirche und Staat In der Weimarer Republik nicht gebessert worden. Adenauer wurde für diese Parteinahme zu Gunsten der Republik von Teilen des Episkopats übel geschmäht (vgl. u.a. Kardinal Faulhaber an Kardinal Pizzardo am 19.9.1922: Akten I, 278). Angesichts solcher Äußerungen der Kirchenführer über die Republik muss es verwundern, dass die deutschen Katholiken überhaupt doch in so großer Zahl zu den demokratischen Wahlen gingen und „ihrer“ Zentrumspartei die Treue hielten. Aber nicht nur das Verhältnis zwischen den Kirchen und der Demokratie war problematisch, vielmehr fanden sich die Kirchen in der geistigen Auseinandersetzung mit ihren Gegnern nur schlecht zurecht. Dass Meinungsfreiheit und öffentliche Auseinandersetzung zu einer lebendigen Demokratie, zu einer demokratischen Gesellschaft, gehören, war für sie unfassbar. Dass das Recht, das man selbst beansprucht auch den anderen gewährt werden müsse, für die Bischöfe war es unvorstellbar Liberalismus, Kommunismus und Sozialismus waren die großen Abfalleimer in die alles geworfen wurde, was der eigenen Ideologie zuwider war. Man kämpfte für die (katholische bzw. evangelische) Bekenntnisschule, für kirchliche Schulaufsicht und Religionsunterricht sowie für die Hoheit der Kirche über die Familie; hier sah man die entscheidenden Konfliktpunkte mit dem jungen Staat und den eigenen Interessen. So orientierte sich denn auch die kirchliche Ablehnung gegenüber dem Nationalsozialismus zunächst nur an seinen kirchenfeindlichen Äußerung, seiner kulturpolitischen Ablehnung des kirchlichen Einflusses auf Politik und Gesellschaft.

Seine wesentlich menschenverachtende, Recht und Grundrechte verletzenden Ideen und Propaganda, standen niemals ernsthaft in der kirchlichen Kritik_ Darum konnten die deutschen katholischen Bischöfe am 28.3.1933 – also nur wenige Tage nachdem der Reichstag mit den Stimmen des (katholischen) Zentrums das verhängnisvolle Ermächtigungsgesetz (14.3.1933) verabschiedet hatte, – feststellen: Der Episkopat „glaube, „das Vertrauen hegen zu können, dass die allgemeinen Verbote und Warnungen (nämlich vor dein Nationalsozialismus: J.N.) nicht mehr als notwendig betrachtet zu werden brauchen.“ Die Bischöfe versichern sodann die Treue der Katholiken gegenüber der neuen, ‚rechtmäßigen Obrigkeit“ und ermahnen die Gläubigen, „einzutreten für Frieden und soziale Wohlfahrt des Volkes, für Schutz der christlichen Religion und Sitte, für Freiheit und Recht der katholischen Kirche und Schutz der konfessionellen Schule und der katholischen Jugendorganisationen.“ Dabei übersahen die Bischöfe geflissentlich, dass die Freiheit, und die Rechte der Kirche untrennbar verwoben waren mit den politischen Rechten aller, sowohl der Gläubigen als auch der nicht gläubigen Menschen insgesamt. Sie vermochten offenbar nicht wahrzunehmen, dass die kirchlichen Jugendorganisationen und Vereine nur gedeihen konnten, wenn auch andere Organisationen frei existieren durften. Sie schienen anzunehmen, die Kirchen könnten in Freiheil existieren, auch wenn andere gesellschaftliche und politische Gruppen, die Sozialisten und Liberalen, die Juden und Freidenker, unterdrückt und eingekerkert würden. Freiheil verstanden sie als „Freiheit für die Wahrheit der katholischen Kirche“) Sie übersahen darum geflissentlich, dass zu jener Zeit bereits zahlreiche sozialistische und kommunistische, aber auch andere, selbst christliche und katholische Politiker ihrer Freiheit, sogar ihres Lebens beraubt worden waren. Wenn damals der katholische Kirchenrechtsprofessor Josef Nenner die von den
Nazis initiierte „Notverordnung des Reichspräsidenten Schutz des deutschen Volkes“ vom 4.2.1933 als energische und zielbewusste Maßnahme der „Regierung der nationalen Erhebung“ im „Kampf gegen die Feinde der deutschen Kultur und christlichen Sitte“ begrüßte, nahm er kaum eine Außenseiter-Position ein. Dem entspricht die Würdigung der sogenannten LaLerverträge des lll. Stuhls mit dein faschistischen Italien von 1929 aus der Feder des Prälaten Ludwig Kaas, dem damaligen Vorsitzenden der Zentrumspartei im Reichstag. Er schrieb, man hoffe, „die konkordatäre Begegnung zwischen dem Vatikan und dem ‚totalitären Staat‘ (werde) nicht. als flüchtige Episode, sondern als lebensfähiges Dauerwerk in die Geschichte übergehen.“ (1933, 522).
Im „gemeinsamen Hirtenbrief der Oberhirten der Diözesen Deutschlands über die Kirche im neuen Reich“ vom 3.6_1933 stellten die Bischöfe fest: „In unserer heiligen katholischen Kirche kommen Wert und Sinn der Autorität besonders zur Geltung…  Es fällt deswegen auch uns Katholiken keineswegs schwer, diese neue starke Betonung der Autorität im deutschen Staatswesen zu würdigen und uns mit jener Bereitschaft ihr zu unterwerfen die sich nicht nur als eine natürliche Tugend, sondern wiederum als eine übernatürliche kennzeichnet…  (Röm. 13, tff). Zu unserer großen Freude haben die führenden Männer des neuen Staates ausdrücklich erklärt, dass sie sich selbst und ihr Werk auf den Boden des Christentums stellen. Es ist ein öffentliches, feierliches Bekenntnis, das den herzlichen Dank aller Katholiken verdient.“ Diese Worte erhalten ihr ganzes Gewicht, wenn man sich vergegenwärtigt, dass zu jenem` Zeitpunkt bereits viele politische Gegner aller Couleur zusammengeschlagen, verschwunden oder In „Schutzhaft“ waren; auch hatte die ersten Pogrome gegen Juden und Kommunisten stattgefunden. Die Bischöfe mussten also wissen, wozu die „führenden Männer des neuen Staates“ fähig waren, die „auf dem Boden des Christentums“ standen. Sie nahmen diese Untaten offenbar billigend in Kauf, hoffend, die katholische Kirche würde durch die Vernichtung ihrer traditionellen Gegner gestärkt. Und könnte überdies vom Heiligen Stuhl geschützt werden.

Dementsprechend fuhren sie auch – geradezu triumphierend – in dem genannten Hirtenbrief fort: „Nicht mehr soll also Unglaube und die von ihm entfesselte Unsittlichkeit das Mark des deutschen Volkes vergiften, nicht mehr der mörderische Bolschewismus mit seinem Gotteshass die deutsche Seele bedrohen und verwüsten… „. Sie schließen den Hirtenbrief mit der Hoffnung, dass es der „Umsicht und Tatkraft der deutschen Führer“ gelingen möge, „alle jene Funken und glimmenden Kohlen zu ersticken, die man da und dort zu furchtbaren Bränden gegen die katholische Kirche anfachen möchte“ (Archiv f. Kath. Kirchenrecht 63, 1933, 530-551). Vor der Gefahr eines „Brandes“ gegen andere hatten die Kirchenführer offenbar ebenso wenig Angst wie vor dem Weltbrand eines großen Krieges. Die Bischöfe wussten zur damaligen Zeit, dass sie zum Unrecht schwiegen; sie schwiegen, weil sie hofften auf diese Weise Wohlwollen für die katholische Kirche, also für ihre Interessen, erkaufen zu können. Sie bringen zwar am Schluss ihres Hirtenbriefes noch die Bitte vor, dass nämlich „die Gerechtigkeit (sic! J.N.) sich nun auch denen gegenüber großmütig bewähre, die bisher unter den Zusammenbrüchen, Umschaltungen und Ausschaltungen unsägliches erlitten haben und die unser innigstes Mitleid verdienen.“ Dieser Vorbehalt ist erstaunlich behutsam formuliert, wenn man bedenkt, was in jenen tagen bereits geschehen war und wie viele Menschen – auch Katholiken – schon „ausgeschaltet“, ja ermordet waren. Diese bischöfliche Unbehutsamkeit wird insbesondere dann unbegreiflich, wenn man vergleicht, wie brüsk die Bischöfe jede Unterstützung der Weimarer Republik, in der die katholische Zentrumspartei meistens mit der SPD Koalitionsregierungen bildete, abgelehnt hatten.Es braucht hier auf die weitere Entwicklung des Verhältnisses der Kirchen zum nationalsozialistischen Deutschland nicht weiter eingegangen zu werden. Es ist heute nicht mehr zu bestreiten, dass der Nationalsozialismus ohne die freudige und tatkräftige, freiwillig geleistete Unterstützung eines Großteils der Christen und fast der Gesamtheit der Kirchenführer beider Konfessionen, sich nicht hätte an die Macht bringen und dort nicht hätte hallen können ).
Während die Kirchen der Republik jegliche legitimatorische Hilfe versagten, priesen sie die reinigende Tatkraft und die sittliche Strenge des Nationalsozialismus: Noch 1937 schrieb der spätere Münchener Domkapitular Dr. Erwin R. von Kienitz, dass die Katholiken „die kirchenzersetzenden Folgen dieses demokratisch-parlamentarischen Gebarens“ ‚(gemeint sind der Konzilzarismus und die Reformation) zwar spät, aber immerhin noch erkannt hätten (1937, 27j. Die innere Affinität des Christentums, besonders in seiner römisch-katholischen Gestalt, zu den Ideen des Nationalsozialismus ist bestürzend: Hier wie dort gilt ein zentralistisch-patriarchalisches Führerprinzip, blinder Gehorsam und unterwürfiger Glaube, wird die Bestrafung aller Abweichler und Sittenstrolche gefordert, werden human-autonome Freiheit und personale Verantwortung als subjektivistische Willkür und Zerfall der Sitten diffamiert. Von KieniLz weist unter vielfachen Bezugnahmen auf alte katholische Texte darauf hin), dass die ständisch gegliederte Kirche eine unitäre und autoritär regierte Monarchie Petri sei, in der allein das Führerprinzip und der Grundsatz der Autorität gelten. In der Kirche, als,Jem Heerlager Gottes gegen die Gottlosigkeit, müsse eiserne Disziplin und absoluter Gehorsam herrschen. „Siege werden nur erfochten, wenn ein Wille befiehlt.‘ (Ebenda 13, 29, 77ff., 209 u.a.)

Besonders deutlich formulierte der Tübinger Dogmatiker Karl Adam die völkisch-rassistische Ideologie. Seine Vorstellungen fanden sich der Sache nach auch bei vielen anderen theologischen Autoren. In seinem Aufsatz „Deutsches Volkstum und katholisches Christentum“ (ThQ 114, 1933, 40-63) pries er den Volkskanzler Adolf Hitler als einen Menschen, „der ganz und gar Volk und nichts als Volk war“. Dieser sei nun gekommen: „Aus dem Süden. aus dem katholischen Süden kam er, aber wir kannten ihn nicht. Denn durch Nut und Gefahr war er hindurchgegangen, und gewaltige Blöcke deutschen Ingrimms hatte er gegen die geschleudert, die wir bislang unsere Führer genannt hatten. So züngelte der Hass um sein Bild und entstellte es. Aber dann kam die Stunde. Da wir ihn sahen und erkannten. Und nun steht er vor uns als der, den die Stimmen unserer Dichter und Weisen gerufen, als der Befreier des deutschen Genius, der die Binden von unseren Augen nahm und uns durch alle politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, konfessionellen Höhen hindurch wieder das eine Wesenhafte sehen ließ: Unsere bluthafte Einheit, unser deutsches Selbst, den homo Germanus“. Karl Adam wollte keineswegs den Katholizismus zum Instrument des Nationalismus oder gar des Nationalsozialismus machen, er wollte vielmehr die ethisch- politische Überlegenheit des Katholizismus anhand der Vitalität des Nationalsozialismus gegenüber dem müde gewordenen Protestantismus belegen. Realitätsfern hoffte er offenbar darauf, durch solche Lobsprüche, den Nationalsozialismus den katholischen Interessen unterzuordnen bzw. der Kirche zu Rehintegrieren. Am Phänomen dieser Bewegung, so meinte er, werde deut1ich, was der scholastische Satz meine, „die Gnade setzt die Natur voraus“. Es zeige sich, dass das „Christentum nicht bloß Tat Gottes, nicht bloß ‚Übernatur“ vielmehr „irgendwie“ auch Natur sei: „Es ist Mensch gewordene Gnade, fleischgewordenes Wort, irgendwie ein von Menschenhänden gebauter Tempel des Heiligen Geistes,“ der „müden Resignation‘ der protestantischen Auffassung vom Verhältnis von Gnade und Natur, Volkstum und Glaube, Blut und Geist, wollte Adam die katholische Harmonie und Größe gegenüberstellen. Für den Katholizismus sei das Christentum ’nicht Übernatur, nicht Geist allein, nicht mystischer Spiritualismus, sondern Geist und Blut oder vielmehr Blut und Geist.“ Deshalb seien „Nationalismus und Katholizismus kein innerer Gegensatz, vielmehr gehörten sie zusammen wie Natur und Übernatur.“ Von dieser Basis ausgehend vermag er dann nicht nur festzustellen dass „der Jude als Semit der Rasse fremd ist und uns rassefremd bleiben wird“, sondern auch die „deutsche Forderung der Blutreinheit“ noch aus der „alttestamentlichen Gottesoffenbarung“ zu begründen. Karl Adam – wie auch andere protestantische und katholische Vertreter dieser Art von politischer Theologie – wurde bald selbst von den Sanktionen dieses „Volkskanzlers aus dem katholischen Süden“ getroffen. Die angekündigte Fortsetzung seines Aufsatzes ist denn auch nie mehr erschienen. Es geht hier somit gar nicht um die Feststellung von persönlichem Politischen Irrtum oder gar um die Zuweisung von individueller Schuld. Dazu ist dieses Problem viel zu komplex. Es geht vielmehr an dieser Stelle um folgendes: Ideologien, also absolutistische Gedankengebäude, und totalitäre Wirklichkeiten sind fast beliebig gegeneinander austauschbar und durcheinander zu ersetzen. Darum ist es kein Zufall, dass katholische Kirchenführer stets eine innere Affinität zu totalitären Regenten haben und islamische Image unmittelbar als politische Tyrannen auftreten. Karl Adam hat das seinerzeit nicht als einsamer politischer Opportunist geschrieben, sondern er konnte das als katholischer Theologe ehrlichen Herzens schreiben, weil er in der katholisch-kirchlichen Tradition dafür eine lückenlose Kette von Belegen nachweisen konnte. Im damaligen deutschen Christentum katholischer wie evangelischer Herkunft lauteten die üblichen Schlagworte:

  • germanische Sitte und Treue
  • deutsches Volkstum und Antisemitismus – Führer und Gefolgschaft

  • Autorität und Gehorsam
  • Schönheit und Glaube
  • Sieg und Weltherrschaft.
  • Das waren in allen bürgerlichen Schichten – die jüdischen makabrerweise keineswegs ausgenommen – weitverbreitete Stereotypen, gleichsam Trostpflaster für die verflossene Monarchie und den verlorenen Krieg. Sie sind von den Theologen und Kirchenführern beider Konfessionen und (fast) aller Richtungen in unterschiedlichen Formen und in verschiedenen Konstellationen durchdekliniert und übernommen worden. Eben darin liegt das Problem: Was ist eine religiöse Ideologie, die sich als sinnstiftende Lehre versteht, wert, wenn sie nicht nur nicht in der Lage ist, ihre Anhänger gegen in humanes Kollektiverhalten und menschenverachtende Theorien von Geist und Blut, von Gott und Rasse, zu feien, sondern sie auch noch theologisch-ideologische Argumente liefert um die Vernichtung von Freiheit und Recht. Menschenleben mit Menschenwürde zu rechtfertigen, wenn sie demokratische Mitbestimmung und republikanische Institutionen als verächtliche Machwerke und Ausschweifungen menschlichen Geistes und als törichtes, unmoralisches Verhallen diffamiert.

    Zweifellos sind auch Wissenschaftler aller Disziplinen nicht nur den Herolden der Unmenschlichkeit begeistert nachgelaufen, sondern haben sie auch beispielsweise die nationalsozialistische Rassenlehre „wissenschaftlich“ begründet und den Angriffskrieg mit „wissenschaftlichen Methoden“ gerechtfertigt. Zwar haben die Universitäten als wissenschaftliche Institutionen und viele Wissenschaftler versagt, doch gab es auch eine nicht geringe Zahl von Wissenschaftlern. die sich dieser Unterwerfung auf die eine oder andere Art entzogen haben, wie sich auch viele katholische und evangelische Christen als Individuen diesem totalitären Zugriff zu entziehen suchten, ja ihm widerstanden haben, widerstanden oft um den Preis ihres Lebens oder wenigstens ihrer Güter 10).
    Es geht hier also nicht darum, das sei nochmals betont bestimmte Personen oder Personengruppen zu verurteilen. Viel mehr wird versucht, zu zeigen, aus welchen geistigen Grundlagen es möglich war, dass Menschen, die sich selbst für gewissenhaft hielten, Verbrechern, wenn nicht applaudierten, so doch deren Untaten durch ihr wohlwollendes Schweigen oft erst ermöglichten. Vor allem aber soll bewusst gemacht werden:
    1. Totalitäre Systeme können erst dann die Herrschaft an sich reißen und gewalttätig werden, wenn sie sich auf eine breite Übereinstimmung mit den Eliten einer Gesellschaft stützen können. Der Durchbruch totalitärer Systeme in den 20er und 30er Jahre unseres Jahrhunderts in fast allen Teilen Europas (von Polen über Italien, Spanien bis nach Portugal) macht deutlich, dass die christliche Lehre und Tradition – vornehmlich in seiner katholischen Ausprägung – offenbar ein geeigneter Nährboden für total ihre Ideologien war.
    2. In dem Augenblick, da sich ein totalitäres System etabliert und die Machtpositionen an sich gerissen hat, ist es für den einfachen Bürger und den normal ausgestatteten Menschen so gut wie unmöglich diesem Gewaltregime zu widerstehen. Allerdings ist eine solche Machtergreifung in der Regel nur unter Zustimmung der gesellschaftlichen Eliten möglich. Wollte der einfache Bürger nach der Etablierung der Gewaltherrschaft noch Widerstand leisten, bezahlt er dies in der Regel mit seinem Leben ohne die Situation jetzt noch ändern zu können. Die Entscheidung fällt also wesentlich früher, nämlich in jener Zeit, da die totalitären Potentiale noch nicht voll zur Herrschaft gelangt sind. Am Ende der Weimarer Republik verhielt es sich so, dass die Führer der Kirchen, nicht auf Seiten der demokratischen Freiheit, nicht auf Seiten des republikanischen Rechtsstaates, nicht auf Seiten der Menschenwürde und nicht auf seilen der Unterdrückten standen, sondern aus vielerlei ideologischen Gründen mit den künftigen, bald siegreichen Machthabern insgeheim sympathisierten.

    Dies zeigt, dass der Kirchen angeblich sinnstiftende Kraft und ihre vorgeblich ethosbildende Bedeutung nicht größer sind als die anderer gesellschaftlichen Gruppen, die für sich keine besonderen Prärogative in bezug auf Glaubwürdigkeit und gesellschaftliche Privilegierung verlangen bzw. erwarten können. Auf dem Hintergrund der Erfahrungen der Geschichte lässt sich der Anspruch der Kirchen, „Wächter‘ der Gesellschaft, Vermittler individuellen Lebenssinns zu sein und soziale Integrität und Lauterkeit zu lehren, nicht stützen. Wir haben hier nicht die Zeit des schrecklichen Versagens der christlichen Kirchen im Drillen Reich zu schildern; wir dürfen diese schlimme Zeit deshalb hier überspringen. Nur soviel sei noch erwähnt: In der Zeit des Dritten Reiches ist tatsächlich niemals eine grundsätzliche Diskrepanz zwischen dem organisierten und institutionalisierten Christentum evangelischer und katholischer Provenienz einerseits und dem Nationalsozialismus andererseits unüberbrückbar deutlich gewordenl1). Die vielfältigen Proteste der christlichen Kirchen, auch der katholischen, richteten sich gegen unmittelbar erlittenes Unrecht, betrafen also stets die eigene Position, die eigenen Mitglieder, interessierten sich aber kaum für die verfolgten Menschen In ihrer Gesamtheit. Juden und Kommunisten, Sozialisten und Freimaurer, homosexuelle und sogar Kriegsdienstverweigerer aus den eigenen Reihen blieben außerhalb der kirchlich-christlichen Fürsprache, selbst dann, wenn es sich bei den Betroffenen um Christen handelte, die um ihrer christlichen Haltung willen verfolgt wurden (Rehmann, 1986, 97)12i.
    Darum verzweifelt gebeten, gegen die Massenvernichtung der Juden zu protestieren, hat Kardinal Bertram geäußert, der Episkopat solle seine Einflussmöglichkeiten ‚zunächst auf andere, kirchlich wichtigere und weittragendere Belange konzentrieren, ganz besonders auf die . . .Frage, wie eine christentums- und kirchenfeindliche Beeinflussung in der Erziehung der katholischen Jugend wirksam zu verhindern ist“ (zitiert nach Denzler-Fabricius 1984, I, 153).
    Kein Geringerer als Konrad Adenauer, 1933 von den Nazis als Oberbürgermeister von Köln abgesetzt, urteilt darum unter dem 23. Februar 1946 in einem Brief an den Donner Pastor Dr. D. Custodis folgendermaßen: „Nach meiner Meinung trägt das deutsche Volk und tragen auch die Bischöfe und der Klerus eine große Schuld Ich glaube, dass wenn die Bischöfe alle miteinander an einem bestimmten Tag öffentlich von den Kanzeln dagegen Stellung genommen hätten, sie vieles hätten verhüten können. Das ist nicht geschehen und dafür gibt es keine Entschuldigung….“ (zitiert nach Denzler, 1984, 125f.). Die katholischen Bischöfe ließen sich nicht einmal – wie die bekennende Kirche, die der Namen der vertriebenen, verhafteten und verfolgten Pfarrer und Gemeindemitglieder gedachte – allgemein für die ermordeten und geschändeten Plenschen beten; nur das Gebet nach der Messe für „Führer, Volk und Vaterland“ wurde treu verrichtet! Kardinal Faulhaber ließ nach dem mißglückten Attentat vom 9. November 1939 in seiner Münchener Bischofskirche Gott ein Loblied für die Errettung Hitlers singen. Als er nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 von der Gestapo verhört wurde, weil sie ihn der Mitwisserschaft verdächtigte, gab er folgende Antwort: „Ich bin erschüttert, weil ich als Bischof das Verbrechen eines Mordplanes und vollends eines Planes gegen das Staatsoberhaupt vor aller Welt verdammen und brandmarken muss.“ Er nannte den ‚Putschversuch, den viele der Beteiligten aus christlicher Verantwortung zu unternehmen geglaubt hatten, „einen solchen Wahnsinn, der unser Volk in das furchtbarste Chaos gestürzt und den Bolschewismus in der radikalsten Form zum Siege geführt hätte“ und vergaß nicht anzufügen, das er sich „persönlich die Verehrung zum Führer seit der langen Aussprache vom 4. November 1936“ bewahrt habe. Mehr kann sich ein Mensch nicht erniedrigen; stärker kann jemand die Institution, der er vorsteht, nicht desavouieren. Trefflich hatte es Pius XII. in seiner Ansprache vom 20. Oktober 1939 formuliert: „Die Not der Gegenwart ist eine Rechtfertigung des Christentums, wie sie erschüttender nicht gedacht werden kann“ (Pius XII., 1946, 142)!

    Dennoch hallen die beiden großen Kirchen den Zusammenbruch des Dritten Reiches als Einrichtungen von starkem Einfluss und ansehnlicher organisatorischer Festigkeit relativ unbeschadet überstanden. Die demokratischen Parteien und die von den Nazis aufgelösten Organisationen, wie die Gewerkschaften, mussten zunächst ihre Apparate wieder aufbauen und neue Programme entwickeln. Andere Organisationen, etwa die verschiedenen Kammern und Verbände, waren ebenso wie die öffentliche Verwaltung durch das Verhalten ihrer Mitglieder bzw. Vertreter im Dritten Reich kompromittiert. Sie alle mussten unter der oftmals weder fachkundigen noch wohlmeinenden Kuratel der Besatzungsmächte mühsam am Nullpunkt beginnen. Dieser organisatorische Wiederaufbau blieb den Kirchen nicht nur erspart, vielmehr hatten sie bis in jedes Dorf hinein ihre „Agenturen“. Vor allem die katholische Kirche fühlte sich nicht nur auf der Seite der Sieger, sondern wurde auch von den Alliierten wie von der Bevölkerung dementsprechend behandelt und geschätzt. Die Kirchen galten – allen Tatsachen der jüngsten Geschichte zum Trotz – als Hort der Freiheit und Zentrum des Widerstands gegen den
    Nationalsozialismus. In den Verfassungen der deutschen Länder konnten sich die Kirchen darum teilweise eine beachtliche Stellung und in der politischen Realität beträchtlichen Einfluss sichern. Die Kirchen und ihre Repräsentanten, vor allem die Bischöfe, wurden generell wie Verfolgte des Naziregimes behandelt, ohne dass das Verhalten der einzelnen Kirchenmänner überprüft wurde. Lediglich offenkundige Sympathisanten des Nationalsozialismus unter den Geistlichen wurden als fatale Einzelgänger aus dem öffentlichen Wirken abgezogen. Das wohlwollende Verhalten vieler Bischöfe und mancher Priester und führender Laien gegenüber dem Nationalsozialismus, als dem Bollwerk christlich-deutschen Volkstums und Vorkämpfer gegen den kulturzersetzenden Bolschewismus, Sozialismus und verjudeten Liberalismus in den entscheidenden Monaten, war verdrängt. Die späteren bzw. verspäteten Bischofsworte und der Kampf der Bekennenden Kirche wurden zum allgemeinen Zeugnis für einen grundsätzlichen, allgemeinen und totalen Widerstand der Kirchen gegen das Naziregime hochstilisiert, obwohl sie fast – ausschließlich gegen Obergriffe, Klosterstürmereien, Konkordatsverletzungen oder Euthanasie (christlicher) Behinderter und gegen die Behinderung der Verkündigung des Evangeliums gerichtet waren; sie galten zunächst der Sicherung der eigenen kirchlichen Interessen. Dennoch wurde der Kampf zwischen „Kreuz und Hakenkreuz“ zum Kampf zwischen Gott und Satan, zwischen Freiheit und Unfreiheit, verfälscht (Neuhäusler 1946, u.a. 1, 11; II, 402f.). Diese kühnen, aber selbstbewusst vorgetragenen Behauptungen verfehlten bei der irritierten, ihrer Idole beraubten deutschen Bevölkerung weithin nicht ihre Wirkung: Damit aber war der Weg zu einer reinigenden Selbstbesinnung verbaut: Die Tatsache, dass der kirchliche Widerstand nicht der nationalsozialistischen Macht als solcher galt, sich vielmehr innerhalb eines gemeinsamen ideologischen Konsenses bewegte, wurde verschwiegen. Der kirchliche Widerstand – abgesehen von der späteren bruderrätlichen Kirche – war eingebettet in eine grundsätzliche Anerkennung der nationalsozialistischen Innen- und Außenpolitik. Allein die Bekennende Kirche versuchte sich radikal am Evangelium zu orientieren und konnte langfristig eine wirksame Neuorientierung in Teilen des deutschen Protestantismus in Gang setzen. Diese Neuorientierung entwickelte eine Langzeitperspektive. die in den Jahren 1988 und 1989 in der Deutschen Demokratischen Republik von entscheidender politischer Bedeutung werden sollte. Aus der protestantischen Gewissensnot, die von keinem Papst entlastet werden konnte, entstand unter dem Einfluss der Theologie Karl Barths ein neues Kirchenverständnis. Diese Theologie hat einen Teil des Protestantismus aus seiner traditionellen Verzahnung mit der Staatsideologie zu lösen vermocht. Als eine Kirche der Verteidigung hatte sie aber keine breite gesellschaftliche und unmittelbare Wirkung; zur Entwicklung eines Volkswiderstandes gegen das verbrecherische System hat ihre Radikalität damals kaum etwas beizutragen vermocht. Sie war zu sehr auf das Ausharren in einer umzingelten Festung fixiert. So nimmt es nicht wunder, dass diese Richtung auch nach 1945 keine Breitenwirksamkeit erzielen konnte. „Als die Pfarrer der bruderrätlichen Bekennenden Kirche von der Front oder aus der Gefangenschaft zurückkehrten, sind die entscheidenden Positionen in den kirchlichen Gremien schon von der konservativen Strömung der Bekenntnisfront besetzt…Die Bekennende Kirche wird in eine geistige Bewegung zurückverwandelt und als Minderheitsströmung in die Behördenkrche reintegriert“ (J. Rehmann 1984, 563; 1986, 137-139). Die in den deutschen Ländern und Kommunen aufzubauende Gewalt bedurfte teilweise nicht nur der kirchlichen Infrastrukturen zur Kommunikation, sondern auch deren geistigen Rückhalt. Darum hüteten sich die politisch Verantwortlichen den von den Kirchen behaupteten Besitzständen zu nahe zu treten. Dies galt auch für solche Regierungen, die den Positionen der Kirchen traditionellerweise fern standen. Sie wollten und konnten sich nicht dem Verdacht aussetzen, die „Kirchenverfolgung“ der Nationalsozialisten fortzuführen. Dazu kam, daß die Besatzungsmächte in den deutschen Kirchen ihre wichtigsten Verbündeten sahen, da sie ihnen bei der Versorgung und der sozialen Beruhigung der Bevölkerung behilflich und (vorzüglich den Amerikanern) bei der Entnazifizierung nützlich sein konnten. In zahllosen Konflikten der örtlichen deutschen Instanzen mit den lokalen Besatzungsmächten fungierten die Geistlichen als Mittelsmänner und legitimierten zivile Amtshandlungen etwa Eidesleistungen. Hinzu kam, dass die Geistlichkeit vielfach als Fürsprecher für politisch belastete Personen auftrat. Krass gesagt verlief das häufig so, dass Nazis, die im Dritten Reich aus den Kirchen ausgetreten waren, nun „reumütig“ zurückkehrten, sich in die Kirche aufnehmen ließen – also kirchensteuerpflichtig wurden – und dafür den „Persilschein“ erhielten, niemals aktive oder gar „böse“ Nazis gewesen zu sein.

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