Themen / Staat / Religion / Weltanschauung / Religiöse Symbole

Die nächste Stufe des Verhül­lungs­ver­bots: in deutschen Gerichts­sälen

22. November 2018

Sven Lüders

in: vorgänge Nr. 224 (4/2018), S. 148-159

Bayern und Nordrhein-Westfalen haben einen Gesetzentwurf zur Einführung eines Verhüllungsverbotes im Gerichtssaal in den Bundesrat eingebracht. Der „Entwurf eines Gesetzes zum Verbot der Gesichtsverhüllung während der Gerichtsverhandlung“ (BR-Drs. 408/18 v. 27.8.2018) sieht einen neuen § 176 Abs. 2 für das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) mit folgendem Wortlaut vor:

Bei der Verhandlung beteiligte Personen dürfen ihr Gesicht während der Sitzung weder ganz noch teilweise verhüllen. Der Vorsitzende wirkt auf die Einhaltung des Verbots hin.

Die Antragsteller wollen mit ihrem Vorschlag mehr Rechtssicherheit für die Prozessbeteiligten schaffen. Bisher hätte sich keine einheitliche Praxis bzw. Rechtsprechung dafür herausgebildet, ob Vorsitzende Richter darauf bestehen sollten bzw. dürfen, dass während einer Verhandlung Niqab oder Burka abzulegen sind – und ob dafür die bestehenden gesetzlichen Regelungen zur Sicherstellung eines ungestörten Sitzungsablaufs (in §176 GVG) eine ausreichende Rechtsgrundlage darstellen. Zu den Prozessbeteiligten, auf die sich der Entwurf bezieht, gehören u.a. Angeklagte, Prozessbevollmächtigte (Anwälte), Gutachter/ Sachverständige und Zeugen – nicht jedoch die Zuschauer einer Verhandlung.

Der Vorschlag bezieht sich zur verfassungsrechtlichen Legitimation auf die aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Forderung nach einer umfassenden, alle Erkenntnismöglichkeiten einbeziehenden Ermittlung der Tatsachen während einer Gerichtsverhandlung  (Art. 20 Abs. 3, Art. 92 GG). In der Praxis bedeute dies: „Das Gericht muss sämtliche Erkenntnismittel einschließlich der Mimik der bei der Verhandlung beteiligten Personen ausschöpfen können, um den Sachverhalt bestmöglich aufzuklären. Die Beurteilung der Glaubwürdigkeit einer Person oder der Glaubhaftigkeit einer Tatsachenbehauptung ist, wenn die Person ihr Gesicht verschleiert, nicht zuverlässig möglich. Die offene, auch nonverbale Kommunikation ist damit ein zentrales Element der Gerichtsverhandlung.“ (S. 4) Zudem müssten die Beteiligten eindeutig identifizierbar sein.

Kirsten Wiese hat für die Humanistische Union zu dem Gesetzentwurf Stellung genommen. Ihre Stellungnahme bezweifelt, dass für dieses Problem ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf bestehe. Für die letzten Jahre finden sich in der Rechtsprechung bzw. in den Medien nur zwei für Deutschland dokumentierte Fälle, in denen die Verschleierung vor Gericht verfahrensrelevant war. In einem Fall einigte sich die verhandlungsführende Richterin mit der betroffenen Klägerin; im anderen Fall verweigerte ein Richter einer Zeugin die Aussagemöglichkeit, weil sie nicht bereit war, ihr Kopftuch abzulegen. Das Ausmaß der von den Antragstellern behaupteten Rechtsunsicherheit lasse sich daher kaum beurteilen, auch die Begründung des Antrags enthalte keine weiteren Fakten – weder dazu, wie oft Richter mit verhüllten Verfahrensbeteiligten konfrontiert sind; noch dazu, wie oft dies zum Problem werde.

Interessanterweise konzentriert sich die Begründung des Antrags weniger auf die empirische Frage, ob und wie ein generelles Verhüllungsverbot sich auf die Effektivität der Rechtspflege konkret auswirkt, sondern arbeitet zum Teil mit kontrafaktischen Setzungen und moralischen Wertungen, mit denen das Prinzip der Kommunikation „von Angesicht zu Angesicht“ legitimiert und durchgesetzt werden soll – ganz so, als sei das Ziel des Gesetzgebers die Durchsetzung dieser Form der Kommunikation (und nicht die Effektivität des Gerichtsverfahrens). [9] Einerseits wird nämlich behauptet, die unverhüllte Kommunikation sei eine unumgängliche Voraussetzung für ein effektives Verfahren (s.o.) – nur um kurz darauf zu betonen: „Die Kommunikation ‚von Angesicht zu Angesicht‘ ist ein zentrales Element im rechtsstaatlichen Gerichtsverfahren auch dann, wenn der Sachverhalt vollständig aufgeklärt ist und nur noch Rechtsfragen zu erörtern sind.“ (S. 5) Ebenso unbeirrt von der faktischen Wirkung eines Verbots wird auch behauptet, ein ausnahmsloses Verbot sei für die Beteiligten weniger konfliktreich als eine Regelung, die bei mangelnder Relevanz für das Verfahren auf die Durchsetzung des Verbotes verzichte: „Der Ausnahmetatbestand würde neues Konfliktpotential im Einzelfall schaffen, das durch die Verbotsvorschrift gerade vermieden wird.“ (S. 4) Dabei ist den Autoren sehr wohl bewusst, dass es eine ganze Reihe von Gerichtsverfahren gibt, in denen keinerlei Zweifel am tatsächlichen Handlungsablauf, an der Glaubwürdigkeit von Zeugen oder anderen Aussagen bestehen und die Durchsetzung eines Verhüllungsverbots für den Erfolg des Verfahrens bedeutungslos (bzw. juristisch gesprochen: nicht erforderlich) ist. Dies gilt beispielsweise auch – so Kirsten Wiese – für blinde Richter, die an deutschen Gerichten tätig sein können und deren Möglichkeiten zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Prozessbeteiligten der Antrag strikt ausblendet. [10]

Das Gutachten weist darauf hin, dass für die in der Praxis relevanten Situationen (die Identifizierung der Beteiligten; Zweifel an der Glaubwürdigkeit einzelner Aussagen/Beteiligter etc.) auch grundrechtsschonendere Alternativen bestehen, die in anderen Lebensbereichen (etwa bei Personenkontrollen durch die Polizei; bei der Aussage schützenswerter Zeugen) längst etabliert sind. Allein der Gesetzentwurf bemüht sich nicht einmal darum, den Eingriff in die Religionsfreiheit der betroffenen Frauen (bzw. der Berufsausübungsfreiheit aus Artikel 12 Abs. 1 S. 1 GG, sofern Sachverständige und Anwältinnen betroffen sind) möglichst gering zu halten. Das spiegelt sich allein schon darin wieder, dass die mehrere Seiten umfassende Begründung des Entwurfs ganze sieben Zeilen auf die Erörterung des Eingriffs in die Religionsfreiheit verwendet, die sich im Übrigen darauf beschränken, dass der Eingriff nur geringfügig und hinzunehmen sei, weil er zeitlich begrenzt (für die Verhandlungsdauer) und vor einem geschlossenen Publikumskreis erfolge. Dies wird dem Stellenwert der Religionsfreiheit für die betroffenen Frauen keineswegs gerecht. (Man stelle sich nur einmal vor, mit der gleichen Argumentation würde ein Gebot der nackten Teilnahme an Gerichtsverhandlungen begründet, dass keine Rücksicht auf die westliche Kultur der Scham nimmt.) Der Gesetzentwurf und seine Begründung lässt jegliche Sensibilität für die Wirkungen einer solchen Regelung bei den Betroffenen vermissen. So thematisiert der Entwurf lediglich die Folgen der Verschleierung auf andere Verfahrensbeteiligte („Hemmungen“, S. 5), nicht aber die Folgen eines Entschleierungsgebots für die zuvor verschleierten Frauen.

Die Stellungnahme der HU weist darauf hin, dass die Wirkung des Gesetzes – jenseits der wenigen zu erwartenden Anwendungsfälle – kontraproduktiv sein kann: Ein generelles Verhüllungsverbot vor Gericht kann dazu führen, dass verschleierte Frauen ihre verbrieften Rechte weniger in Anspruch nehmen (wollen) und eine stärker distanzierende Haltung zum Rechtsstaat einnehmen. Ein solches Verbot baut für sie eine neue Hürde in ihrem Zugang zum Recht auf, was die soziale und kulturelle Diskriminierung dieser Frauen eher verstärken als abbauen dürfte. Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat vor geraumer Zeit auf die Probleme hingewiesen, die sich für manche Gruppen ergeben, wenn es um ihren tatsächlichen Zugang zum Recht in Deutschland geht. Davon sind auch verschleierte Frauen betroffen, für die eine effektive Anwendung und Durchsetzung ihrer Rechte bisher nicht gewährleistet ist: [11]

* Schätzungsweise nur 5 bis 11 Prozent der Frauen, die sexuelle Gewalt erfahren haben, bringen diese auch zur Anzeige.

* Nur jeder zehnte Fall einer (mutmaßlichen) Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität wird behördlich gemeldet.

* Vom Menschenhandel Betroffene können häufig ihre Ansprüche auf Entschädigung und vorenthaltenen Lohn in Deutschland nicht gerichtlich durchsetzen.


Dr. Kirsten Wiese: Stellungnahme zum Gesetzesantrag der Länder Nordrhein-Westfalen, Bayern „Entwurf eines Gesetzes zum Verbot der Gesichtsverhüllung während der Gerichtsverhandlung“ (BR-Drs. 408/18) vom 9.10.2018, unter
www.humanistische-union.de/fileadmin/hu_upload/doku/2018/HU2018-10-09_BR-Gesichtsverhuellung.pdf.

Anmerkungen:

9 Eine vergleichbare Argumentation fand sich bereits im Gesetz zu bereichsspezifischen Regelungen der Gesichtsverhüllung, das seit Juni 2017 gilt (s. BGBl. I 2017, S. 1570), mit dem ein Verhüllungsverbot für Beamte, Soldat*innen, Wahlhelfer*innen sowie im Straßenverkehr eingeführt wurde (vgl. vorgänge Nr. 216 [4/2016], S. 85f.).

10 Der Bundesgerichtshof hat sich schon mehrfach mit dem Einsatz blinder Richter befasst, so bereits 1954 (BGHSt 5, 354 – Entscheidung v. 5.3.1954, 5 StR 661) in der Weise, dass die Beteiligung blinder Richter in einem Kollegialgericht keine Verletzung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit darstelle, weil blinde Menschen über kompensatorische Fähigkeiten verfügen, mit denen sie den fehlenden Sehsinn ausgleichen und die Authentizität von Aussagen beurteilen können (s. Die Zeit Nr. 18/1954). Zur Debatte s. Jens-Uwe Voigt, Der blinde Richter in der strafprozessualen Hauptverhandlung. Möglichkeiten und Grenzen Blinder und Sehender aus der Sicht verschiedener Wahrnehmungsmodelle. Baden-Baden 2014 (Diss. Universität Hamburg).

11 Beispiele nach: Beate Rudolph, Rechte haben – Recht bekommen. Das Menschenrecht auf Zugang zum Recht. Hrsg. vom Deutschen Institut für Menschenrechte, Berlin 2014, S. 16f.

nach oben