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Die Kopftuch-­De­batte geht weiter

Kirsten Wiese

Grundrechte-Report 2002, S. 95-96

Das muslimische Kopftuch bleibt ein Zankapfel – nicht nur in Deutschland: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg entschied im Februar 2001, dass einer Lehrerin in Genf untersagt werden darf, mit muslimischem Kopftuch in einer Grundschule zu unterrichten. Zur Begründung führte er an, dieses «Kopftuchverbot » verstoße weder gegen die in Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) garantierte Religionsfreiheit noch gegen das durch Art. 14 EMRK festgeschriebene Verbot der Diskriminierung auf Grund des Geschlechts.

Die Genfer Volksschullehrerin trug seit ihrer Konversion zum Islam ein Kopftuch und legte es auch im Unterricht nicht ab. Es kam weder vonseiten der Schüler noch der Eltern zu Beanstandungen. Auf Grund der Meldung einer Schulinspektorin gaben die Schulbehörden der Lehrerin dennoch unter Hinweis auf die laizistische Ausrichtung der Genfer Kantonsverfassung auf, das Kopftuch im Unterricht nicht mehr zu tragen. Diese Entscheidung wurde vom Schweizerischen Bundesgerichtshof 1998 abgesegnet.

Der EGMR musste prüfen, ob das schweizerische Gericht das «Kopftuchverbot » mit stichhaltigen und verhältnismäßigen Gründen gerechtfertigt hatte. Für die Straßburger lag das Tragen des Kopftuches zwar innerhalb des Bekenntnisrechtes der Lehrerin. Zugleich sahen sie aber den Grundsatz der Neutralität in der Schule durch die Unausweichlichkeit des Anblicks der kopftuchbekleideten Lehrerin verletzt. Auch religiöse Gefühle von Schülern und Eltern seien durch das Kopftuch betroffen. Diese Einschätzung erfolgte erstaunlicherweise, obwohl die Lehrerin ungefähr drei Jahre das Kopftuch getragen hatte, ohne dass die Schulleitung oder die Eltern Einwände erhoben hätten. Das Verbot diene der Wahrung des Religionsfriedens in der Schule und sei demnach eine notwendige Maßnahme «in einer demokratischen Gesellschaft».

Einen Verstoß gegen das Verbot der Diskriminierung auf Grund des Geschlechts hielt das Gericht ebenfalls für nicht gegeben, weil das Verbot nicht auf die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht ziele: «Eine solche Maßnahme könne sich auch gegen einen Mann richten, der unter den gleichen Umständen in offenkundiger Weise Kleidung trage, die einer anderen Religion eigen sind.»

Für die deutsche Rechtsprechung über das Tragen von Kopftüchern ist die Entscheidung des EGMR nicht ohne Folgen: Zwar binden Entscheidungen des Straßburger Gerichts deutsche Richter nicht in ihren Urteilen; diese haben aber bei der Auslegung deutschen Rechts eine Auslegung zu bevorzugen, die konform ist zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Fest steht nach der europäischen Kopftuchentscheidung, dass ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen in Deutschland Art. 9 EMRK nicht verletzt. Das hat der Verwaltungsgerichtshof Mannheim im Juni 2001 im Fall Ludin auch so gesehen: Die Mannheimer Richter entschieden in zweiter Instanz – unter Verweis auf die Straßburger Entscheidung –, dass Frau Ludin nicht geeignet für das Lehramt sei, weil sie im Unterricht ein muslimisches Kopftuch tragen wolle (Siehe Grundrechte-Report 1999, S. 72–77; 2001 S. 85–90).

Nicht nur in Mannheim wurde 2001 das Recht der Musliminnen auf ihr Kopftuch eingeschränkt. Das hessische Landesarbeitsgericht kam im Juni 2001 zu dem Schluss, dass ein Arbeitgeber einer muslimischen Verkäuferin verbieten darf, ein Kopftuch zu tragen. Ein mittelhessisches Kaufhaus hatte verlangt, dass das Verkaufspersonal Kleidung ohne «auffällige, provozierende oder fremdartige Akzente» trage. Ein Kopftuch, das lediglich das Gesicht erkennen lasse, entspreche nicht dem «Stil des Hauses» in der Kleinstadt. Das Gericht entschied, dass eine vertragliche Nebenpflicht der Arbeitnehmerin bestehe, sich hinsichtlich ihrer äußeren Erscheinung in den üblichen Rahmen einzuordnen, und die personenbedingte Kündigung zulässig sei. Die Entscheidungen sind Teil einer Kopftuchdebatte, die in Deutschland seit 1998 geführt wird, als Frau Ludin in Baden- Württemberg mit Kopftuch eingestellt werden wollte. Diese Debatte ist eine Metapher für Spannungen und Spaltungen in den zunehmend ethnisch und religiös vielfältigen europäischen Gesellschaften. In den genannten Urteilen werden diese Spannungen zugunsten der (noch) christlichen Mehrheitsreligion aufgelöst. Das widerspricht aber dem Charakter der Religionsfreiheit als Recht zum Schutz von Minderheiten. Ebenso schreibt das eng mit der Religionsfreiheit verknüpfte Toleranzprinzip gerade der Mehrheit Toleranz gegenüber der Minderheit vor. Religiöser Frieden kann in einer pluralistischen Gesellschaft nur dann gesichert werden, wenn die verschiedenen religiösen und nichtre ligiösen Gruppierungen gleichberechtigt am demokratischen Prozess teilhaben können. Der Lehrerin mit Kopftuch kommt insofern eine besondere Bedeutung zu. Die Schule gilt nämlich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht als Ort, an dem «die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft vornehmlich tradiert und erneuert werden». Die sich auch äußerlich zum Islam bekennende Lehrerin könnte garantieren, dass die gesellschaftlichen Grundlagen nicht ohne Berücksichtigung des Islams erneuert werden.

Noch sind die Gerichte Kopftuchträgerinnen gegenüber ablehnend eingestellt – schon aber wächst die Einsicht, dass Europa sich nicht allein aus einer christlich-jüdischen Tradition heraus betrachten kann, sondern sich mit seiner in vielerlei Hinsicht heterogenen und insbesondere auch muslimischen Gegenwart auseinander setzen muss. Das Bundesverfassungsgericht hat im Januar 2002 jedenfalls ein positives Signal für die religiöse Gleichberechtigung von Muslimen gesetzt: Die Karlsruher Richter haben entschieden, dass Muslime schächten (betäubungslos schlachten) dürfen. Das durften bis dahin nur jüdische Religionsgemeinschaften in Deutschland. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts im Fall Ludin muss zwar noch gesprochen werden, die Religionsfreiheit lässt aber nur ein Ergebnis zu: Religiöser Frieden kann dauerhaft nur bestehen, wenn das «Kopftuchverbot » für Lehrerinnen aufgehoben wird.

Literatur

EGMR NJW 2001, 2871

VGH Mannheim, NJW 2001, 2899

LAG Hessen, NJW 2001, 3650

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