Beitragsbild Die Humanistische Union fragt Bundesregierung und Bundestag: Wo beginnt der Kernbereich des Rechtsstaats?
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Die Humanis­ti­sche Union fragt Bundes­re­gie­rung und Bundestag: Wo beginnt der Kernbereich des Rechts­s­taats?

08. Juli 2011
Datum: Freitag, 08. Juli 2011

Corinna Spies liest das Memorandum zum Kernbereich des Rechtsstaates von 1978 beim Empfang des RV München-Südbayern zum 50. Geburtstag der Humanistischen Union am 8.Juli 2011

Die Humanistische Union fragt Bundesregierung und Bundestag: Wo beginnt der Kernbereich des Rechtsstaats? Corinna Spies liest das Memorandum zum Kernbereich des Rechtsstaates

Corinna Spies liest das Memorandum zum Kernbereich des Rechtsstaates

Die Bundesregierung hat der UNO ihren „Staatenbericht über bürgerliche und politische Rechte“ vorgelegt und ihn in diesem Frühjahr der Öffentlichkeit zugänglich gemacht Sie vergleicht in ihm die Grundsätze des „Internationalen Paktes“ über den Schutz dieser Rechte mit Gesetzesvorschriften in der Bundesrepublik und kommt dabei zu einem für sie positiven Ergebnis. Demgegenüber ist festzustellen, daß in der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik die bürgerlichen und politischen Rechte zunehmend eingeschränkt werden.

Die der Inneren Sicherheit verpflichteten Rechtsnormen in der Bundesrepublik basierten auf dem Prinzip der Güterabwägung zwischen der Effektivität der Verbrechensbekämpfung und den Schutzrechten für unschuldige oder unter dem Schutz der Unschuldsvermutung stehende Bürger. Seit sechs Jahren wird von der Waagschale der Schutz- und Freiheitsrechte etwas weggenommen und auf die Waagschale der „inneren Sicherheit“ gelegt.

Die in einigen Fällen bis zum Absurden überzogene Überprüfung der politischen „Eignung“  vor der Einstellung in den öffentlichen Dienst erweist sich nicht als Stärkung. sondern als Schwächung unserer Demokratie. Sie trägt zur politischen Abstinenz unserer Jugend bei, führt zu einer autoritätsgläubig angepaßten Beamtenschaft und verschlechtert das geistige und politische Klima in unserer Republik in alarmierender Weise. Dennoch wird diese Überprüfungspraxis fortgesetzt.

Die Verfassungsschutzämter, die verfassungswidrige Bestrebungen ermitteln, analysieren und über ihre Ergebnisse aufklären sollen, werden zu ihr mit herangezogen. In diesen Behörden werden unzulässigerweise auch Daten über legale demokratische Verhaltensweisen registriert – beispielsweise die Teilnahme an polizeilich genehmigten Demonstrationen, Namen und Adressen in Abonnentenkarteien von Zeitschriften, deren Bezug unter das Grundrecht der Informationsfreiheit fällt oder die Ausleihkarten von Benutzern öffentlicher Bibliotheken.

In den kommenden Monaten werden die polizeilichen Befugnisse erweitert Dabei soll der Todesschuß zum kommandierbaren gezielten „aufgewertet“ werden, obwohl das geltende Recht des Schusswaffengebrauchs auch in Krisensituationen ausreicht.
Die Bundesrepublik schickt sich damit an, ihren verfassungsmäßigen Verzicht, über das Leben ihrer Staatsbürger zu verfügen {Art. 2 Abs. 2. und Art. 102 GG}, zu widerrufen.

Die Kompetenzen der Polizei wurden schon in den Änderungen der Strafprozeßordnung, die als „Razziengesetze“ kritisiert werden, unvertretbar ausgeweitet. Diese Gesetze legalisieren erhebliche Eingriffe in die Rechte auch von Unverdächtigen.

Das vom Bundesverfassungsgericht mehrfach bekräftigte und auch im Bericht der Bundesregierung an die UNO hervorgehobene Prinzip der „Waffengleichheit“ im Gerichtssaal ist nahezu außer Kraft gesetzt. Die Zahl der Verteidiger wurde beschränkt, die „Mehrfachverteidigung“ verboten. Von beschuldigten Bürgern selbst ausgewählte Anwälte, die nur durch ihre eigenen Ehrengerichte von der Berufsausübung ausgeschlossen werden konnten, dürfen jetzt durch staatliche Strafrichter aus Strafverfahren entfernt werden, wenn gegen sie auch nur ein geringer Verdacht einer möglichen Tatbeteiligung besteht. Während die Staatsanwaltschaft, ermächtigt wurde, Zeugen zwangsweise, vorzuladen, soll das Beweis-Initiativrecht für Verteidiger beschränkt werden; während die Ausschließung von Verteidigern erleichtert wurde, soll die Ablehnung von Richtern wegen Befangenheit erschwert werden. Die Verhängung einer „Kontaktsperre“ unterbindet nicht nur das vertrauliche Gespräch zwischen Mandanten und Anwalt, es macht Nur-Verdächtige wie Verurteilte über wiederholbare Perioden verteidigerlos.

Der Bericht der Bundesregierung vom November 1977 hebt im Absatz 1 „Menschenrechte durch das Grundgesetz gewährleistet“ hervor: „Würde des Menschen ist oberster Wert.“
Doch auch nicht ausgeschlossene, unverdächtige Verteidiger, die ihre inhaftierten Mandanten besuchen wollen, werden gezwungen, sich auf diskriminierende Aufforderungen hin zu entblößen. Dies ist mit dem Recht auf persönliche Würde unvereinbar. Es kann auch nicht damit gerechtfertigt werden, daß einige Strafverteidiger ihre Berufspflicht verletzt haben sollen oder ganz wenige von ihnen nach Aufgabe ihres Berufes in den Untergrund gingen.
Durch entwürdigende Maßnahmen wie durch Gesetze, die Verteidigerbefugnisse beschneiden, werden nicht nur Anwälte in Terroristenprozessen betroffen. Diese Gesetze gelten fast alle für Verteidiger in jedem Strafprozeß.
Indem sie einen ganzen Berufsstand „unter Verdachtsvorbehalt stellen, verletzen sie nicht etwa berufliche „Privilegien“; sondern Schutzrechte für unschuldige oder unter Unschuldsvermutung stehende Bürger.

Das Datenschutzgesetz sollte vor Mißbrauch von in Computern gespeicherten persönlichen Daten schützen. In seiner verabschiedeten Form hat es jedoch Freiräume von Kontrollen gelassen, die in Versuchung führen könnten, die elektronische Datenverarbeitung zur Anfertigung von Persönlichkeitsprofilen für jeden Bürger zu benutzen und diesen damit der Kontrolle der Sicherheitsdienste zu unterwerfen. Es muß befürchtet werden, daß deren Verwendung auch für vorbeugende Exekutivmaßnahmen, für Maßnahmen, die sich nicht auf einen konkreten Verdacht stützen, mißbraucht werden. – Das geplante Bundesmeldegesetz wäre ein weiterer Schritt auf dem Weg zur umfassenden Überwachung der Bürger.

Im Grundgesetz der Bundesrepublik sind als zentrale Verfassungsprinzipien der Wesensgehalt der Menschen- und Bürgerrechte tatsächlich abgesichert, wie die Bundesregierung in ihrem Rechenschaftsbericht zum Art. 40 des „Internationalen Pakts“ beteuert. Den Autoren unserer Verfassung brannte 1949 noch im Bewußtsein, wie verhängnisvoll sich staatliche Gewalt gegenüber dem Bürger verselbständigen kann. Doch vor allem durch die zweifelsfrei aufgezwungene Auseinandersetzung mit politischen Gewalttätern – aber auch durch die verfassungsrechtlich nicht gedeckte Auseinandersetzung mit nur Unbequemen, die zu „Inneren Feinden“ abgestempelt werden – wurden freiheitliche Prinzipien unserer Rechtsordnung in den vergangenen Jahren ausgehöhlt. Heute wird dem Staat in bestimmten Bereichen und Situationen mit dem fragwürdigen Argument „Streitbare Demokratie“ Vorrang gegenüber dem Bürger und seinen Rechten eingeräumt
Dabei wurde der Verfassungsgrundsatz der Bindung der vollziehenden Gewalt an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) zunehmend- angetastet. Es wurden Gesetze verabschiedet, die, anstelle klarer Bestimmungen der Grenzen staatlichen Handelns, der Exekutive durch Generalklauseln Blankovollmachten erteilen – beispielsweise, daß Nachrichtendienste „nachrichtendienstliche Mittel“ anwenden dürfen. Sie schaffen Grauzonen der Legalität, in denen sich Willkür einnisten kann. Indem der Staat für sich beansprucht, sich bei Bedarf von der gesetzlichen Bindung mit dem dehnbaren Begriff „übergesetzlicher Notstand“ loszusagen, erhebt er diesen zur Globalermächtigungsnorm. Mit dieser kann er sich der durch Recht und Gesetz markierten Schranken entledigen, wenn er sich in einer Notlage glaubt.

Alle hier benannten (punktuell herausgegriffenen) Bürgerrechte reduzierenden Maßnahmen, Gesetze und Gesetzesvorhaben wurden und werden mit der Versicherung von Regierungsvertretern und Parlamentariern beschwichtigt: sie griffen noch längst nicht in den Kernbereich des Rechtsstaates ein.
Dem muß entschieden widersprochen werden. Insbesondere, wenn Repräsentanten der Legislative und Exekutive zur Rechtfertigung der von ihnen zu verantwortenden Freiheitsbeschränkungen einzelne liberale Regelungen unserer staatlichen Ordnung an illiberalen Normen anderer demokratischer Staaten messen und ihre jüngsten Gesetzesverabschiedungen nur diesen anpassen. Macht das weiterhin Schule, würde die jeweils repressivste Einzelregelung in einem anderen westeuropäischen Staat zum Standard unseres „freiheitlichen Rechtsstaates“ mit verhängnisvollen Kettenreaktionen werden.
Wenn bürgerliche Schutz- und Freiheitsrechte entgegen der Intention des Grundgesetzes in dieser beklemmenden Weise weiter abgebaut werden – sei es durch nur mehr formal gültige „rechtsstaatliche“ Einzelgesetze, sei es durch „überverfassungsrechtliche Notstandsbefugnisse“ -, entwickelt sich die Bundesrepublik zu einem „autoritären BesitzverteiIungsstaat“ (Kurt Schumacher), der den Freiheitsraum des Grundgesetzes der jeweiligen Staatsgewalt zur Disposition stellt.

Angesichts dieser Gefahr fragen wir
– alle Verantwortlichen in Regierung und Opposition:

Wo beginnt der unantastbare Kernbereich der freiheitlichen Rechtsordnung in der Bundesrepublik, und wo darf er auch dann nicht angetastet werden, wenn das Risiko der innere Sicherheit z.B. durch den Ausbau weiterer Atomkraftwerke wächst oder sie durch weitere politische Attentate zusätzlich belastet wird?

Angesichts dieser Gefahr appellieren wir
– an den Bundestag und die Parlamente der Länder:

Die Aushöhlung unseres Rechtsstaates zu stoppen und seine bereits legalisierten Gefährdungen rückgängig zu machen.
 
HUMANISTISCHE UNION               München,23. Mai 1978

Stellvertretend für die mehrere Tausend UnterzeichnerInnen sein genannt:

Pfarrer Heinrich Albertz
Carl Amery
Freimut Duve
Jürgen Habermas
Gert Heidenreich
Alexander Mitscherlich
Uta Ranke-Heinemann
Otto Schily

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