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NRW: "Richter Mundtot" - eine Veran­stal­tung zum "Fall von Renesse"

Mitteilungen23805/2019Seite 19 - 20

In: Mitteilungen 238 (1/2019), S. 19 – 20

Der Skandal um den Essener Sozialrichter Jan-Robert von Renesse, der wegen seines Engagements für die Bezieher*innen von Ghettorenten von Justiz und Politik ausgebremst und diskriminiert wurde und wird, machte in den letzten Jahren bundesweit Schlagzeilen: Da nahm einer seine Ermittlungspflichten ernst, holte historische Gutachten zur Ghettoarbeit ein, führte Anhörungen mit den Antragsteller*innen durch – und formelle und informelle Diskriminierungen verdeutlichten schnell, dass eine Ablehnungsquote von mehr als 90 % weiterhin erwünscht und geboten sei. Der in einer Petition erhobene Vorwurf, dass „in der NRW-Justiz Absprachen und Handlungen getroffen werden, um bewusst Holocaustüberlebenden zu schaden“, führte Renesse nach stillschweigender und mit einem weitgehenden Maulkorb verbundener Einstellung eines Disziplinarverfahrens ins berufliche Abseits.

Eine Veranstaltung am 21. März 2019 in Hamm versuchte, noch einmal systematisch Licht in die Verhältnisse zu bringen, die solche Abläufe ermöglichen; Junge Liberale Westfalen-Süd und Humanistische Union NRW diskutierten mit dem Betroffenen und zwei Experten das Thema „Unabhängigkeit der Justiz“ an diesem Beispiel.

Das „Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto“ reagierte auf eine neue Rechtsprechung ab 1997 und beschäftigte von Renesse seit 2006; die Hürden für Rentenzahlungen sind hoch, weil dort von „Freiwilligkeit“ und Entlohnung der Arbeit die Rede ist. Der Versuch, die Interessen der Antragsteller zu ergründen, führte schnell zu einer Konfrontation, an der u.a. auch der damalige SPD-Justizminister Kutschaty teilhatte. Kolleg*innen suspendierten Verfahrensentscheidungen, es fanden „Informationsgespräche“ mit der Deutschen Rentenversicherung (unter Ausschluss Renesses) statt, man beschloss (im Angesicht von hochaltrigen Bedürftigen!) ein Moratorium von 6 Monaten.

Als „Staat im Staate“ war die DRV offenbar sehr empfindlich gegenüber den neuen Zahlungspflichten. Zwei ehemalige Bundesrichter – Prof. Wolfgang Meyer vom Bundessozialgericht und Prof. Franz-J. Düwell vom Bundesarbeitsgericht – kommentierten diese Vorgänge vor ihrem Erfahrungshintergrund: Sie berichteten über politische Weisungen und informelle Einflussnahme, den Konformitätsdruck des kollegialen Milieus, den unglaublichen Erledigungsdruck (500 Verfahren pro Jahr und Richter) der Sozialgerichte. Auch in anderen Kontexten wurden richterliche Zuständigkeiten rabiat verschoben, um eine „zu teure Rechtsprechung“ zu vermeiden. Dass die Sozialgerichte erst seit 1954 aus der Verwaltung herausgelöst wurden, sei bis heute spürbar im staatsähnlich-autoritären Gebaren der Rentenversicherung, die Richtlinien im Einvernehmen mit dem Finanzministerium herausgebe.

Dass hier ein extrem später Versuch von Teil-„Wiedergutmachung“ so erbärmlich und mit höchstem politischem Segen abgewürgt wurde, ist kein Ruhmesblatt der NRW-Justiz, zumal die Verfahren in anderen Bundesländern weniger restriktiv geführt wurden. Der Preis für eine unabhängige Verfahrensführung bleibt hoch.

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