Beitragsbild Laudatio für Joachim Perels anlässlich der Verleihung des Fritz-Bauer-Preises durch die Humanistische Union am 22. September 2012
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Laudatio für Joachim Perels anlässlich der Verleihung des Fritz-­Bau­e­r-­Preises durch die Humanis­ti­sche Union am 22. September 2012

25. September 2012
Datum: Samstag, 22. September 2012

Irmtrud Wojak betonte in ihrer Laudatio die vielen Gemeinsamkeiten zwischen Preisträger und Namensgeber: Bei beiden handle es sich um „Menschen, die wissen, was aufrechter Gang und Zivilcourage ist”, beide zeichne eine ausgesprochene „Zugewandtheit zu den Menschen“ aus.

Laudatio für Joachim Perels anlässlich der Verleihung des Fritz-Bauer-Preises durch die Humanistische Union am 22. September 2012

Lieber Joachim, sehr geehrte Frau Will,
liebe Damen und Herren!

Lassen sie mich mit einer persönlichen Bemerkung beginnen: Tatsächlich kenne ich in den historischen und politischen Wissenschaften, in denen Joachim Perels forscht, lehrt und sich politisch engagiert – also in der juristischen Zeitgeschichte, in den Politik- und Sozialwissenschaften und auch in der Theologie und Religionsphilosophie – wohl keinen, dem der Fritz-Bauer-Preis der Humanistischen Union eher zu verleihen wäre als dir, lieber Joachim. Wer eine solche Behauptung aufstellt, sollte sie auch begründen können. Diesen Versuch wage ich als Biografin Fritz Bauers sehr gerne, ist doch mit der Freude über den Preis zugleich die erwünschte Gelegenheit verbunden, dir, lieber Joachim, in aller Offenheit und auch Öffentlichkeit Dank sagen zu können. Dank für dein unermüdliches Engagement, mit dem du zum Teil unter widrigen Umständen unter anderem zum Entstehen der Fritz-Bauer-Biographie beigetragen hast, und besonders Dank für deine Freundschaft. Du hast mich, trotz aller Widrigkeiten, immer ermutigt und darin bestärkt Fritz Bauers Aufruf für eine humane Rechtsordnung, für die zu kämpfen Fritz Bauer mit dem Mut des Überlebenden aus dem Exil nach Deutschland zurückkehrte, als einen Leitfaden nicht aus dem Auge zu verlieren. Und – so jedenfalls kommt es mir vor – darin siehst du auch nach wie vor eine aktuelle Aufgabe und Chance. Womit wir auch schon beim eigentlichen Thema des heutigen Abends sind, das für dich, Joachim – vergleichbar mit den persönlichen Erfahrungen Fritz Bauers – ein Stück gelebte Geschichte ist.

Ich brauche in diesem Zusammenhang nur an das jüngste Symposium zu denken, das heute vor fünf Monaten im Leibnizhaus in Hannover zu deinen Ehren stattfand. Die Veranstaltung anlässlich deines 70. Geburtstages stand unter dem Titel: „Rechtsstaatliche Demokratie und Erbschaft des Nationalsozialismus in der frühen Bundesrepublik“. Ein in Wissenschaft und Öffentlichkeit, nicht zuletzt auch in der Politik bis heute kontrovers diskutiertes Thema, das meiner Meinung nach schon viel über den heutigen Preisträger sagt. Denn der Titel „Erbschaft des Nationalsozialismus“ war natürlich nicht zufällig gewählt und es war ebenso wenig zufällig, dass der Name Fritz Bauer auf dieser Tagung nicht gerade selten fiel. Offenbar gibt es im Leben und Werk von Fritz Bauer und Joachim Perels Gemeinsamkeiten, ja sogar Übereinstimmungen, nicht nur im Denken, sondern auch im beruflichen und politischen Handeln. Festzuhalten ist jedenfalls, dass beide dies nicht voneinander getrennt haben. Ich würde sogar behaupten: Ihr Leben wurde von dieser Einheit geprägt, als „Homo Politikus“, wie es der große Historiker Theodor Mommsen charakterisierte.

Der Schlimmste aller Fehler ist, wenn man den Rock des Bürgers auszieht, um den Gelehrten-Rock nicht zu kompromittieren. Dieses Prinzip Theodor Mommsens trifft auf beide Juristen, die wir heute ehren, gewiss zu: auf Fritz Bauer, den in erster Linie Praktiker, und auf den Gelehrten, Joachim Perels. Keiner von beiden war bzw. ist sich zu fein für eine journalistische Stellungnahme, die vom demokratischen Standpunkt aus auch immer Stellung gegen reaktionäre und antipluralistische Tendenzen bezieht. Selbst dann, wenn ihnen dies – was historisch besehen leider nicht gerade selten der Fall war und auch heute noch der Fall ist – zum eigenen Nachteil gereichen könnte. Die Rede ist also von zwei Menschen, die wissen, was ein aufrechter Gang und Zivilcourage ist. Die nicht nur so denken, sondern auch so handeln. Beide sind sich im Klaren darüber, dass das Vergangene fortwirkt. Und beiden ist dies wohl umso bewusster, als ihr demokratischer, unverrückbar rechtsstaatlicher Standpunkt aus der eigenen persönlichen Betroffenheit erwachsen ist. Joachim Perels Vater, Friedrich Justus Perels, wurde nach dem 20. Juli 1944 von den Nazis ermordet. Fritz Bauer war im Konzentrationslager und er musste aus Nazi-Deutschland unter das dänische, später unter das schwedische Strohdach fliehen.

Wenn ich nach einem Ausdruck gefragt würde, der dich, lieber Joachim, und Fritz Bauer verbindet bzw. eure Persönlichkeiten zureichend charakterisieren könnte, dann würde ich, auch ohne dass ich Fritz Bauer persönlich kannte, ohne zu Zögern antworten: es ist eure Zugewandtheit zu den Menschen. Ja, ich würde es wagen hier von Menschenliebe zu sprechen und dabei betonen, dass diese Liebe umso merkwürdiger ist, wenn ich mir das Verfolgungsschicksal eurer beider Familien in der Zeit des nationalsozialistischen Regimes vorzustellen versuche; und dann auch noch, als wäre all das Furchtbare nicht schon genug gewesen, die Verdrängung und Abwehr gegenüber dem Erlebten und Erlittenen nach 1945.

Ich habe mich oft gefragt, wie es möglich ist und woher die Kraftquellen kommen, die Menschen weiterhin zu lieben. Die Auschwitz-Überlebende Ruth Klüger überschrieb ihre Autobiographie bezeichnenderweise „Weiter Leben“ – wenn man dem Konzentrationslager entkommen ist und ermordet werden sollte. Ist es möglich anderen Menschen weiter herzlich zugewandt zu sein, wenn der Vater wegen seiner Mitwisserschaft am Attentat des 20. Juli von einem Sonderkommando des Reichssicherheitshauptamts ermordet wurde? Denn das geschah ja in der Nacht vom 22. auf den 23. April 1945, als du, Joachim, gerade erst zwei Jahre alt warst und dein Vater, zusammen mit Klaus Bonhoeffer, Rüdiger Schleicher sowie anderen nach dem Attentat inhaftierten und vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilten, zum Prinz-Albrecht-Palais gebracht werden sollte. Als Justiziar hatte dein Vater die bekennende Kirche unterstützt und er hatte die verfolgten Opfer der Nazis anwaltlich beraten und ihnen geholfen. Wie lange hatten er und deine Mutter bereits in Angst, jedenfalls doch in Sorge um das eigene Leben und damit natürlich auch um deines gelebt. Du hast – so denke ich – das Erbe deines Vaters angenommen, indem du trotz aller Kritik und auch Anfeindungen immer noch eine offene Auseinandersetzung mit den Ursachen und Folgen des Nationalsozialismus anregst. Auch weil damit die Aufforderung verbunden ist, die eigene Geschichte und das eigene Handeln neu zu durchdenken und in Frage zu stellen. Du hast in dieses Erbe des Widerstands und der vielen Opfer eingewilligt, indem du gerade dieses Thema in allen Facetten deines gelehrten und politischen Lebens zu deiner Hauptaufgabe gemacht hast.

Oskar Negt, dein politischer Weggefährte und Freund, hat über diese Motive des Erinnerns und Aufarbeitens als bestimmende Faktoren für dein Leben und Werk in der Kritischen Justiz (KJ), die du mit Fritz Bauer, Jan Gehlen und anderen gegründet hast und deren Redaktion du heute noch angehörst, berichtet. Negt schreibt, dass du dein wissenschaftliches und politisches Leben den Opfern der Geschichte in einer Weise gewidmet hast, und ich zitiere ihn, „wie das nur selten in der akademischen Welt anzutreffen ist“. In der Geschichtsschreibung beispielsweise – dies ließe sich aus Sicht der historischen Wissenschaft hier anfügen – sind es vor allem die jüdischen Historiker, die unser historisches Narrativ, das noch immer von der Sicht der Täter bestimmt ist, um die Erfahrung der Opfer und Überlebenden ergänzen und erweitern. Es sind die Historiker jüdischer Herkunft oder ein Jurist wie Fritz Bauer, die über die Gegenwart der Vergangenheit in der eigenen Geschichte reflektieren. Sie sehen das eigene Werk als Teil einer historischen oder gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die bedeutenden autobiographischen Werke von Fritz Stern, Saul Friedländer, George L. Moses, Peter Gay und anderen. Auch du hast diese emanzipatorischen jüdischen Wurzeln und auch deshalb hat die berührende Würdigung Oskar Negts zu deinem 70. Geburtstag mich zu neuem Nachdenken über dein Werk, lieber Joachim, angeregt, insbesondere über die Frage nach dem Sinn des Opfers. Die enge Verknüpfung von Sinn und Opfer, schreibt Oskar Negt, die er in deinen juristischen und politikwissenschaftlichen Schriften wahrnehme, könne nur gelingen, ich zitiere ihn, wenn die Gesellschaftsanalysen mit einem Schuss religiösen Bewusstsein versetzt seien. Tatsächlich steht ähnlich wie bei Fritz Bauer, der ein Überlebender ist, die Frage nach dem Sinn des Opfers im Zentrum deines Forschens und Lehrens sowie deines politischen Lebens. Negt schreibt auch, Joachim Perels, ich zitiere noch einmal, ist kein „Davongekommener“, kein Überlebender im Sinne Giordanos. Er ist 1942 geboren, ein Kriegskind mit allen Schreckenserfahrungen damaliger Kindheit.

Zurückblickend auf unsere gemeinsame wissenschaftliche Arbeit und die gemeinsamen Erlebnisse und damit verbundenen Erfahrungen hat dies für mich die Frage aufkommen lassen: Wer ist eigentlich Opfer und Überlebender? Wir nennen sie ja meist zurecht in einem Atemzug „Opfer und Überlebende“. Gehört das Kind eines Opfers des 20. Juli 1944 wirklich nicht zu den „Davongekommenen“ im Sinne Giordanos, sondern zur Gemeinschaft der sogenannten Kriegskinder? Was ja auch eine generationsbedingte Zuschreibung ist, die erst in jüngerer Zeit aufkam. Warum ist das überhaupt so eine wichtige Frage? Weil die mit Nachdruck eingeforderte geschichtliche Erinnerung an die Opfer und Überlebenden, auf deren Seite du, Joachim, stehst, auffällig ist in dem Sinne, dass der Grundton der Verwundung und der Empathie, der aus deinen Schriften spricht, sonst nur, wie Oskar Negt schreibt, aus einem Schuldgefühl derer entsteht, die die Hölle – also Auschwitz – überlebt haben.

Ich stelle diese Fragen auch, weil mir unverständlich geblieben ist, warum die Opfer und Überlebenden sich gegenüber den Ermordeten eigentlich schuldig fühlen sollten. Ich denke vielmehr, ihnen wurde nicht selten ein Schuldkomplex und schlechtes Gewissen unterstellt; das sogenannte „Überlebendensyndrom“, das aus ihrem eigenen Überleben resultieren sollte. Der Wunsch der Überlebenden Zeugnis abzulegen, wurde vielfach psycho-pathologisch gedeutet, weil sie darauf bestanden, sich der Ermordeten in ihrem Leiden und Sterben zu erinnern. Die Wissenschaft erfand hierfür den sogenannten „Überlebendenkomplex“ und flüchtete sich in einen Begriffshimmel; gelobt wurden die trotzdem erkennbaren, beeindruckenden Bewältigungsstrategien und auch die enormen Integrationsleistungen der Überlebenden. Man könnte auch deutlicher formulieren und sagen: Was für eine Infamie! Hier werden Opfer noch nachträglich zu Sündenböcken gemacht und dann nachträglich auch noch in diesem Sinne bemitleidet. Ihnen wird bescheinigt, sich letztlich doch wieder gut eingefügt und sich an die vorherrschende Meinung angepasst zu haben.

Denn schließlich war es ja umgekehrt und die Wirklichkeit der Überlebenden wurde von uns verdrängt. Wir haben ihnen einen Komplex, eine Art schlechtes Gewissen unterstellt, weil dies den eigenen Wunschvorstellungen entgegenkam und uns das Leben leichter machte. Denn es gab und gibt ja keinen Grund für ein schlechtes Gewissen und Schuldgefühle auf Seiten der Opfer, weil sie das Unrechtssystem der Nazis überlebt haben. Davongekommen zu sein, wie es Giordano nennt, bedeutet ja schließlich, dabei gewesen zu sein. Und als Opfer überlebt zu haben, als das Gewaltsystem der Nationalsozialisten, als Auschwitz Wirklichkeit wurde, heißt Widerstand geleistet zu haben mit dem nackten Leben, das eben nicht bloß Leben ist, sondern das Kostbarste, was es gibt. Was wir den Überlebenden nicht zugestehen und nicht eingestehen wollten – vielleicht manche sich noch immer nicht eingestehen können oder wollen – ist das peinliche Schamgefühl und der eigene uneingestandene Schmerz, nämlich erlebt zu haben und für alle Zukunft zu wissen, was wir Menschen unseren Mitmenschen antun. Der Psychoanalytiker Arno Grün, 1923 in Berlin geboren, 1936 über Polen und Dänemark in die USA emigriert, heute in der Schweiz lebend, hat in seinen Forschungen über die menschliche Destruktivität die Unfähigkeit, sich mit der Sinnlosigkeit des Schmerzes auseinanderzusetzen, als Teil der Bewusstseinsspaltung unserer Natur erklärt, die Schmerz ignoriert und verleugnet.

Auch Fritz Bauer spürte dies und er formulierte 1966 hinsichtlich der Nazi-Täter, dass es in den NS-Prozessen, in denen es an belastenden Dokumenten und Zeugen nicht gefehlt hat und ein Geständnis ihre prozessuale Situation nicht erschwert, sondern eher erweitert hätte, häufig an jedem Respekt vor den überlebenden Opfern der Grausamkeiten fehlte. In der juristischen Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen nach 1945 kam diese Leugnung der eigenen Beteiligung und Mitwirkung an den Gräueltaten, aber auch die Abwehr des Mitwissens, in der sogenannten Gehilfenrechtsprechung und einer Überdehnung der subjektiven Teilnahmelehre zum Ausdruck, die die willigen Vollstrecker des Naziregimes in harmlose Gehilfen eines ihnen angeblich fremden Geschehens verwandelte. Als wären sie nicht wirklich dabei gewesen und als ließe sich im Namen des Unrechts Recht sprechen. Auf intellektueller Ebene nehmen wir den Schmerz wahr, doch, so formulierte es Arno Grün: „Wir begegnen dem Zeugnis des Überlebenden mit Lippenbekenntnissen. Zugleich verkennen wir den Schmerz, indem wir ihn als neurotisch abtun.“ Eine Abwehr oder ein Selbstschutzmechanismus, der auch in der von Saul Friedländer zurecht kritisierten Behauptung einer „mythischen Erinnerung der Überlebenden“ zum Ausdruck kommt, die angeblich, ich zitiere Friedländer, „einer rationalen deutschen Geschichtsschreibung ein Hindernis in den Weg legen.“ Darin kommt zwar eine Hochachtung gegenüber den Überlebenden zum Ausdruck, sie dient jedoch mehr einem abstrakten Prinzip und negiert unser Leben auf Erden zugunsten eines anderen, höheren Lebens, das woanders stattfindet. Doch Auschwitz und die Morde nach dem 20. Juli 1944 fanden ja nicht in der Hölle statt, sondern hier auf der Erde, ausgelöst und durchgeführt von uns Menschen.

Was ich mit diesen Überlegungen zum Ausdruck bringen möchte und mich in unserer langjährigen Zusammenarbeit am meisten bewegt hat, lieber Joachim, ist die Tatsache, dass du dich auch hier wieder, wie Fritz Bauer es getan hat, immer als Teil dieser unserer Gemeinschaft gesehen hast, in der Auschwitz möglich wurde und dies obwohl dein Vater von den Nazis ermordet wurde. Für mich hast du gerade deshalb immer zu den Überlebenden gehört, an Ihrer Seite gestanden. Warum sonst diese Zurückhaltung in der Preisgabe deiner eigenen Geschichte? Ich habe oft erlebt, wie du dich bemühtest, uns nicht die Dramatik und den Schmerz der in frühester Kindheit erlebten Verluste, mit allen ihren Folgen für dich und deine Familie, spüren zu lassen. Viel zu oft bekamst du das schlechte Gewissen derer zu spüren, die mit Abwehr und Wut auf deine Geschichte reagierten. Wir haben nicht oft darüber gesprochen, doch dass mit diesen Erlebnissen immer wieder Zerreißproben verbunden sind, lässt sich nachempfinden. Ich selber habe eine davon miterlebt, und ich gestehe, es ist mir erst in jüngerer Zeit bewusst geworden, dass ich dir, als es um Fritz Bauers Biographie und dann vor allem um den Auschwitz-Prozess ging, auch zugestimmt habe, ja, sogar versucht habe dich darin zu bestärken, die eigene Geschichte nicht preiszugeben und oder zur Sprache zu bringen, wenn es um unser Thema, den Auschwitz-Prozess, ging. Warum konnte ich mir nicht eingestehen, wie sinnlos das ist, weil es ja genau dieses Entsorgen unserer Geschichte ist, gegen das du ankämpfst? In den Auseinandersetzungen um das Auschwitz-Urteil und die 2004 realisierte Ausstellung über den Auschwitz-Prozess kamen immer wieder unsere Unfähigkeit und unsere Ablehnung zum Ausdruck, die Geschichte mit den Augen der Anderen, der Opfer und Überlebenden, zu betrachten. Dabei konnte jeder sehen, was diese Ablehnung, die dir damals entgegenschlug, bei dir auslöste.

Lieber Joachim, lass mich das an dieser Stelle sagen: Was ich damals empfand, war bestimmt Mitgefühl. Aber es gab eben auch mein Versagen gegenüber der Zumutung des eigenen Schmerzes, indem ich dich darin zu bestärken versuchte, deine eigene Geschichte in diesem Zusammenhang möglichst nicht zu erwähnen. Die einzig aufrichtige, richtige Haltung wäre gewesen, zu deiner Geschichte zu stehen, sie notwendigerweise immer wieder neu aufzugreifen, weil darin unsere politische und mitmenschliche Verantwortung besteht. Denn deine Geschichte – so sehe ich es – ist unsere Geschichte.

Lieber Joachim, mit diesen persönlichen Bemerkungen möchte ich zum Schluss kommen. Die Vergangenheit ist lebendig! Es sind die Minderheitspositionen und erzwungenen Außenseiterrollen, mit denen wir uns auseinandersetzen sollten, ja müssen, wenn wir die eigene Geschichte verstehen wollen. Es geht darum, Geschichte zu erleben und sie immer auch mit den Augen der Anderen zu sehen, was weniger eine historische Aufgabe, sondern vielmehr eine Gegenwarts- und Zukunftsaufgabe ist. Wichtiger noch als das Erkennen der eigenen Opferrollen ist der eingangs erwähnte, womöglich unerfüllbare Aufruf Fritz Bauers zu einer wahrhaft humanen Rechtsordnung. Vielleicht dringender noch als 1963, als ein Überlebender wie Fritz Bauer uns in einer Gedenkrede für das jüdische Mädchen Anne Frank aufforderte, unsere Geschichte auch mit den Augen der unschuldigen Opfer und der Kinder zu sehen, müssen wir heute die Zeit vor und nach 1945 erforschen und nach der Welt- und Lebenssicht der Anderen fragen. Wir sollten endlich lernen, uns auf eine Begegnung mit dem Fremden einzulassen. Erlebte Geschichte neu zu durchdenken und die eigenen Vorurteilsstrukturen aufzubrechen bedeutet, den Verlust und den Schmerz anzuerkennen und sich nicht länger hinter gewiss peinlich empfundener Scham zu verstecken. Es wäre dies die Anerkennung und der notwendige Respekt vor dem „Nie wieder!“ der Opfer und Überlebenden. Und gerade von uns Deutschen wäre dies das Bekenntnis zu einer veränderten, erwachsen gewordenen Welt.

Lieber Joachim, lass mich damit schließen: Du hast in einer Aufsatzsammlung über die Konfliktlinien im Umgang mit dem Hitlerregime, die du unter dem Titel „Entsorgung der NS-Herrschaft“ veröffentlicht und die du dem Juristen Fritz Bauer nicht aus Ordnungs-, sondern aus Freiheitssinn gewidmet hast, seine Worte zitiert und gesagt: „Wir können aus der Erde keinen Himmel machen, aber jeder von uns kann etwas tun, dass sie nicht zur Hölle wird.“ Dein wissenschaftliches wie politisches Leben, das du wie Fritz Bauer der Aufarbeitung der Staatsverbrechen des NS-Regimes gewidmet hast, ist die notwendige positive Kehrseite und das positive Tun im Sinne des Juristen aus Freiheitssinn, das dich für den Fritz-Bauer-Preis der Humanistischen Union so sehr auszeichnet. Es ist dein Lebenswerk, das historisch und ebenso politisch das Widerstandsrecht, aber auch die Widerstandspflicht eines jeden vergegenwärtigt. Für dieses Werk danken wir dir. Wir haben dir, Fritz Bauer und allen Überlebenden weit mehr zu verdanken, als dies bisher wohl den meisten Menschen bewusst ist.

Sie können die Laudatio von Frau Wojak hier auch nachhören (Dauer: ca. 23 Minuten):

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