Beitragsbild Stand und Perspektiven direkter Demokratie in Deutschland und Europa
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Stand und Perspek­tiven direkter Demokratie in Deutschland und Europa

11. Juli 2012

Bericht vom 2. Gustav-Heinemann-Forum in Rastatt. Mitteilungen Nr. 217 (Heft 2/2012), S. 18/19

Werner Koep-Kerstin

Stand und Perspektiven direkter Demokratie in Deutschland und Europa

Wie steht es um direkte Demokratie in Deutschland und Europa? Diese Frage beschäftigte das 2. Gustav-Heinemann-Forum der Humanistischen Union in Rastatt am 11./12. Mai 2012. Das vor zwei Jahren in Rastatt neu geschaffene Format greift wichtige verfassungspolitische Fragen auf und will ihnen Öffentlichkeit geben. Die Leiterin der Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte, Frau Dr. Elisabeth Thalhofer, rief in ihrer Begrüßung der Gäste in Erinnerung, dass Gustav Heinemann seinerzeit mit der Einrichtung dieser besonderen Gedenkstätte der deutschen Freiheitstradition einen Ort lebendiger Begegnung geben wollte. Zu den Gästen gehörten auch Engagierte von „Mehr Demokratie“, die ebenso wie der Geschäftsführer des Fördervereins, Dr. Clemens Rehm, Grußworte sprachen. Der Förderverein richtete freundlicherweise den Eröffnungs-Empfang am Freitagabend aus.

Zum Auftakt der Tagung referierten Prof. Michael Th. Greven von der Universität Hamburg und Prof. Rudolf Steinberg von der Goethe-Universität Frankfurt/M. über „Die Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger an der Fortentwicklung der europäischen Integration“.

Greven, ein expliziter Anhänger der europäischen Integration, wies darauf hin, dass die Europäische Einigung von den Bürgern heute nicht mehr als das ursprüngliche Friedensprojekt wahrgenommen wird. Sie sei auch nicht durch die Partizipation der Bürgerinnen und Bürger getragen und weiterentwickelt worden, vielmehr sei sie ein Produkt der Regierungen und von Eliten.

Die seit dem 1. April 2012 neu eingeführte Europäische Bürgerinitiative (EBI) dürfe als direktdemokratisches Instrument zur Herstellung von europäischer Öffentlichkeit nicht überschätzt werden. Mit der EBI können Bürgerinitiativen aus mindestens 7 EU-Ländern und einem relativ niedrigen Quorum von 1 Mio. Stimmen (europaweit) die EU-Kommission dazu bringen, sich mit ihrem Initiativ-Thema zu befassen. Letztlich sei auch die EBI nur ein weiteres Konsultativverfahren, durch das die Mitsprache der zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen und NGOs heutzutage gekennzeichnet sei. Insgesamt, so Greven, fehle eine Massenmobilisierung für eine bürgerfreundliche Europäische Union. Ohne diese aber bleibe es bei technokratischer Konsultativ-Politik.

Schwang bei Prof. Greven schon Skepsis gegen die Möglichkeiten der direkten Demokratie in Europa mit, so konfrontierte Prof. Steinberg den Optimismus der Befürworter direktdemokratischer Verfahren – nicht nur auf europäischer Ebene – mit einer Reihe von ernüchternden Gegenthesen. Dazu gehörten u.a. der Hinweis auf die Missbrauchsanfälligkeit, die Mittelschicht-Dominanz sowie den Minderheiten-Charakter von Volksinitiativen. Internationale Vergleiche, die die Unterstützer direktdemokratischer Beteiligung anführten, müssten kritisch beurteilt werden. Der Blick auf die negativen Folgen direkter Demokratie in Kalifornien, wo aufgrund immenser Verschuldung praktisch keine politischen Gestaltungsräume mehr existieren, sei oft lehrreicher als das häufig zitierte Modellbeispiel Schweiz.

Sachfragen, so Prof. Steinberg, seien für direktdemokratische Verfahren besonders wenig geeignet, da sie nur Ja/Nein-Entscheidungen zuließen; diese seien eher auf kommunaler Ebene angebracht. Im Sinne von Dialog als Strategie müsse die Bürgerbeteiligung bei Planfeststellungsverfahren frühzeitig und transparent erfolgen sowie auch ex post möglich sein. Unabdingbar sei Bürgerbeteiligung bei verfassungswesentlichen Fragen, wie sie beispielsweise im Zusammenhang mit der deutschen Einheit auf der Tagesordnung standen. Insgesamt, so Steinberg, gehe es um die Verbesserung der repräsentativen Demokratie und nicht um direktdemokratische Verfahren auf allen politischen Ebenen.

In der Diskussion der Beiträge stand die für eine Bürgerrechtsorganisation sich aufdrängende Frage im Vordergrund, welche Ansätze es denn für die Mobilisierung einer europäischen Öffentlichkeit gebe. Lässt sich so etwas wie ein neues europäisches Narrativ schaffen, wenn das einst friedenspolitische Projekt in der jungen Generation nicht mehr greift?

Der Vortrag von Prof. Beate Kohler-Koch am Samstagmorgen befasste sich eingehend mit den Problemen des Einflusses der zahlreichen Nichtregierungsorganisationen und zivilgesellschaftlichen Verbände in der Europäischen Union. Die exzellente Europa-Kennerin und seinerzeit erste weibliche Vorsitzende der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaften stellte bereits im Titel einer ihrer jüngsten Veröffentlichungen klar, wie die direktdemokratischen Möglichkeiten in der EU einzuschätzen sind. Er lautet: „Die Entzauberung partizipativer Demokratie. Zur Rolle der Zivilgesellschaft bei der Demokratisierung von EU-Governance“ (2010). Die organisierte Zivilgesellschaft konnte trotz Beteiligung an der Politikgestaltung der EU die Distanz zwischen den Entscheidungsverfahren in Brüssel und den Bürgerinnen und Bürgern in Europa kaum verringern. Eher würden Professionalisierungs- und Abkoppelungstendenzen der bürgergesellschaftlichen Akteure in Brüssel verstärkt und eine Fachelite gefördert. Besonders bedenklich sei die auch bei den zivilgesellschaftlichen Organisationen vorherrrschende Tendenz der Europa-Zentrierung von Sachfragen, die eigentlich sehr wohl im nationalen Rahmen geregelt werden könnten. In der Diskussion plädierte Kohler-Koch für Referenden im Falle der geplanten Ausweitung von EU-Zuständigkeiten; die Politik werde dadurch gezwungen, stärker zu begründen, weshalb mehr Europa notwendig sei.

Wer angesichts von so viel Skepsis in den bisherigen Vorträgen gegenüber direkt-demokratischer Partizipation allzu ernüchert war, dürfte den Vortrag von Prof. Hans Meyer von der Humboldt-Universität zu Berlin über „Blockaden bei der Einführung direkter Demokratieformen auf Bundesebene und die Möglichkeiten ihrer Überwindung“ als überaus erfrischenden Perspektiven-Wechsel wahrgenommen haben. Meyer wies auf Art. 20 GG hin, wonach die Staatsgewalt „vom Volke in Wahlen und Abstimmungen“ ausgeübt werde. Im Gegensatz zum Wahlgesetz habe der Gesetzgeber aber bis heute kein Bundesabstimmungsgesetz verabschiedet, das überfällig sei – mithin gebe es seit 60 Jahren eine „verfassungsfeindliche Praxis des Grundgesetzes“. 

Als positive Charakteristika von Volksentscheidungen nannte Meyer ihre Korrektiv-Funktion, die besonders bei Schwächen des repräsentativen Systems zum Tragen kämen – etwa dann, wenn Steuergesetze von den Eigeninteressen der Parlamentarier geprägt seien. Volksentscheide auch auf Bundesebene hätte zudem eine prophylaktische Wirkung, da sie die Politik anspruchsvoller machten. In seiner Auseinandersetzung mit den Hauptargumenten der Skeptiker der direkten Demokratie griff Meyer u.a. den Vorwurf der Minderheitenbezogenheit von Volksabstimmungen auf und wies darauf hin, dass eine Analyse von Wahlen diesen Vorwurf ebenso rechtfertigen würde.

In der anschließenden Diskussion wurden Möglichkeiten erörtert, wie denn die beiden Legitimationsstränge einer repräsentativ und einer direktdemokratisch zustande gekommenen Entscheidung kompatibel gemacht werden könnten. Soll die jeweils jüngste Entscheidung gelten; sollen Karenzzeiten gelten, in denen keine Änderungen von repräsentativen oder direktdemokratischen Entscheidungen vorgenommen werden können?

Die Humanistische Union wird die Vorträge der Tagung wie bereits beim 1. Heinemann-Forum in einer eigenen Publikation dokumentieren. In Kooperation u.a. mit „Mehr Demokratie“ werden wir die Thematik weiter verfolgen. Die von der Humanistischen Union herausgegebenen vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik erscheinen im Herbst 2012 mit einem Schwerpunkt-Heft „Partizipation“. Gerade die Erinnerungsstätte in Rastatt lehrt uns, dass es oft eines langen Atems und sonderbarer Umwege bedarf, bis politische Ziele zum Durchbruch kommen.

Werner Koep-Kerstin

Eine Online-Dokumentation der Vorträge des 2. Gustav-Heinemann-Forums erscheint in Kürze auf der Webseite der Humanistischen Union: www.humanistische-union.de/shortcuts/ghf.

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