Themen / Sozialpolitik

Existenz­si­che­rung und Menschen­würde. Tagung der Humanis­ti­schen Union zur Entschei­dung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts

29. Oktober 2010

Mitteilungen Nr. 210 (3/2010), S. 4-5

(Red.) Am 9.2.2010 verwarf das Bundesverfassungsgericht die Regelsätze für existenzsichernde Leistungen an Kinder. Das bisherige Verfahren der Leistungsfestsetzung sei weder sachgerecht noch transparent, so das Gericht, und forderte eine gesetzliche Neuregelung bis zum Jahresende. Welche Auswirkungen diese Entscheidung auf die sozialen Sicherungssysteme hat und in welchem Umfang die Bedürfnisse sozialer Teilhabe zu berücksichtigen sind, dies sind nur einige der Fragen, denen eine gemeinsame Fachtagung von Friedrich-Ebert-Stiftung und Humanistischer Union am 10. Mai nachging. Vorträge und andere Materialien der Tagung dokumentieren wir demnächst auf der HU-Webseite.

1. Verfas­sungs­recht

Die Tagung begann mit dem Panel der Juristen. Dabei ging es um nichts weniger als um die Antwort auf die im Untertitel zur Konferenz gestellte Frage, ob das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung vom 9. Februar 2010 eine Wende in der Sozialpolitik eingeleitet hat. Beide Vortragende, ausgewiesene Verfassungs- und Sozialrechtler, Prof. Dr. Volker Neumann (Humboldt-Universität zu Berlin) und Prof. Dr. Hans Michael Heinig (Georg-August-Universität Göttingen) beantworteten diese Frage gleichlautend: Das Bundesverfassungsgericht habe keine revolutionäre Wende mit seiner Entscheidung vollzogen. Es habe vielmehr seine vorangegangene Entscheidungslinie bestätigt und z. T. auch fortentwickelt. Bestätigt habe es die Verbindung der Menschenwürdenorm des Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz mit dem Sozialstaatsprinzip aus der sich das „Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ (BVerfG-Urteil v. 9.2.2010, Az. 1 BvL 1/09, Rn. 133) ergebe. Der grundrechtliche Anspruch sei zwar für die Verfassungsrechtsprechung neu, aber die Literatur habe seit vielen Jahren so gut wie einstimmig ein solches Recht bejaht, deshalb sei keine revolutionäre Neuerung zu vermelden. Vielmehr entsprechen die Aussagen im Urteil zum Umfang des Existenzminimums ganz und gar den Grundsätzen, die das Bundesverwaltungsgericht und die Literatur zum Sozialhilferecht entwickelt hatten. Neu sei, dass der materielle Grundrechtsschutz durch das Urteil konsequent auf einen Grundrechtsschutz durch Verfahren umgestellt wurde. Der tatsächliche Bedarf des Bedürftigen muss nunmehr durch ein transparentes und sachgerechtes Verfahren zeitgerecht und realitätsgerecht ermittelt werden. Daraus hat das Gericht ein Gebot der Folgerichtigkeit (ebd., Rn. 139) entwickelt und will künftig die Ergebnisse des gewählten Verfahrens zur Ermittlung des Existenzminimums am Maßstab der Folgerichtigkeit überprüfen (ebd., Rn. 140). Zu recht hat deshalb Heinig in seinem Resümee gefragt, ob sich damit der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers nunmehr reduzieren soll auf ein Verfahrenswahlrecht und das Gericht mit dem selbst geschaffenen Maßstab durch intensive Verfahrenskontrolle letztlich eine Ergebniskontrolle vornehmen kann. Beim Nachdenken über die Rolle des Verfassungsgerichts als Sozialgesetzgeber müsse dies im Blick behalten werden.

2. Arbeits­markt

Auf die verfassungsrechtliche Würdigung des Urteils folgte in der zweiten Runde („Recht auf Einkommen, aber kein Recht auf Arbeit?“) die gesellschaftspolitische Gewichtung durch Dr. Ulrich Walwei, Vizedirektor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg, und Professor Michael Opielka von der Fachhochschule Jena. Auch Walwei unterstrich, dass das Gericht ein subjektives Recht auf Einkommen anerkannt habe. Ein Recht auf Arbeit leite sich aus dem Urteil nicht ab, es sei seiner Meinung nach auch nicht durchsetzbar, wohl aber ein „Recht auf Beschäftigungsfähigkeit“. Ausführlicher ging Walwei auf die „extreme Heterogenität“ der Arbeitslosengeld II-Bezieherinen und -Bezieher ein und korrigierte entschieden Bilder von „dem“ Hartz IV-Empfänger: 40 Prozent seien nur kurze Zeit im ALG II-Bezug, 50 Prozent hätten eine abgeschlossene Lehre oder einen Hochschulabschluss. Viele seien erwerbstätig, in Ausbildung, in einer Maßnahme oder mit Pflege oder Betreuung beschäftigt. „Zwei Drittel der Personen gehen Aktivitäten nach“, betonte er. Für 80 Prozent der ALG II-Empfänger sei „das Gefühl, dazu zu gehören“, an Arbeit gebunden und damit „das Wichtigste im Leben“. Dazu seien sie zu weitreichenden Konzessionen bereit. Allerdings hätten nur zwei Drittel der Betroffenen Arbeit gesucht, ein Drittel habe bei Befragungen geantwortet, sie hätten dies nicht getan. Kritisch äußerte sich Walwei über die Professionalität der Betreuer, die zu wenig auf den individuellen Fall einzugehen in der Lage wären. Die Forderungen nach Bürgerarbeit oder Sozialarbeit (staatliche Leistung und individuelle Gegenleistung) beurteilte Walwei skeptisch: Sie stießen in der Marktwirtschaft und auf dem aktuellen Arbeitsmarkt an objektive Grenzen.

Michael Opielka setzte sich kritisch mit dem Menschenbild und den „strafenden Elementen“ im Sozialgesetzbuch II auseinander. Ein „Eingliederungsvertrag“, der mit Sanktionen verbunden sei, schaffe erhebliche Motivationsprobleme. Die zentrale Frage vor und nach dem Urteil wäre: „Die Menschen wollen einen Platz in der Gesellschaft: wie kommt man dahin?“ Er forderte mehr Vertrauen in die Betroffenen. Dazu gehöre der Verzicht auf die „Sanktionsindustrie“ und Zwangsarbeitsmodelle. Soziale Arbeit oder nützliche Bürgerarbeit könnten nur ein Angebot sein. Das Recht auf ein menschenwürdiges Grundeinkommen solle so ausgestaltet werden, dass der Zugang zu Arbeit gefördert und ermöglicht werde. Von einem „bedingungslosen Grundeinkommen“ rückte Opielka mit dem Satz ab: „Mit Geld darf die Sorge der Gesellschaft nicht enden.

3. Existenz­si­che­rung für Kinder und Bildung

Unter dem Motto: „Armut darf sich nicht vererben“ konkretisierte die dritte Runde den existenzminimalen Bedarf von Kindern (hier: einschließlich Jugendliche). Thematisiert wurden Prinzipien sozialer Teilhabe von Kindern und Elemente einer Kindergrundsicherung. Zunächst referierte Andreas Kalbitz vom Deutschen Kinderschutzbund zur Herleitung des individuellen Bedarfs von Kindern. Dabei leitete er folgende Elemente eines Existenzminimums von Kindern ab:

  • Gewährleistung der finanziellen Grundversorgung (Nahrung, Kleidung, Wohnung)
  • Ermöglichung sozialer und kultureller Teilhabe auch im außerschulischen Bereich, als Gestaltungsspielraum für soziale Kontakte zur Eröffnung von Lebenschancen
  • Gewährleistung von Bildung durch Aufnahme von Bildungsausgaben in den Regelsatz.

In jedem Fall habe die Orientierung am kindlichen Bedarf zu erfolgen und könne nicht wie bisher, prozentual von den Erwachsenen abgeleitet werden, wie das BVerfG formulierte: „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen„. Für die Ermittlung der Bedarfe sei zudem eine detaillierte Analyse von Ausgaben der Familienhaushalte und der Notwendigkeiten für die Kinder erforderlich. Wie vom BVerfG vorgegeben, müssen zudem atypische überdurchschnittliche Bedarfe (z.B. chronische Krankheiten) und besondere Einmalleistungen berücksichtigt werden. Hierzu seien die vorhandenen Vorarbeiten der Fachverbände (z.B. Caritas, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband) zur Bestimmung der Kinderregelsätze zu beachten, u.a. eine Berechnung über die bundesweite Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, die nur Haushalte mit Kindern berücksichtigt. Zur Definition des Mindestbedarfs gehörten auch Bewertungen, was kindgerecht sei.

Der Kinderschutzbund schlägt die Einrichtung einer eigenständigen Kindergrundsicherung vor. Unabhängig von der konkreten Umsetzung der Vorgaben des BVerfG bis Ende 2010 mahnte der Referent, die bestehenden Institutionen nicht zu vergessen: Notwenig sei auch der Ausbau von Bildungseinrichtungen und Betreuungsangeboten außerhalb der Familie. Ebenso erforderlich sei die Unterstützung der Eltern und deren sozialer Kompetenz.

Der anschließende Vortrag von Prof. Dr. Johanna Mierendorff beleuchtete die Entwicklung der Debatte zur Kinderarmut und Entwicklungslinien zur Kindergrundsicherung seit Mitte der 90er Jahre. Perspektiven einer elternunabhängigen Grundsicherung wurden der Kinderkommission des Bundestages bereits 1998 vorgestellt. Ausgangsthese war, dass das komplexe Phänomen Kinderarmut in diesem Zeitraum nicht mit der erforderlichen Sorgfalt behandelt wurde. Stattdessen stellte die Referentin eine Themenpolarisierung in Politik und Forschung fest: Diskutiert und politisch behandelt wurden entweder Aspekte materieller Sicherung oder eine Investition in Dienstleistungen außerhalb der Familie. Diese Polarisierung habe eine umfassende Auseinandersetzung zur Kinderarmut und zu den zahlreich vorliegenden Konzepten verhindert. Die Referentin skizzierte drei Phasen der Debatte zur Kinderarmut seit Mitte der 90er Jahre:

  • Die erste Phase war geprägt von Feststellung der „Infantilisierung der Armut“ (R. Hauser); im Vordergrund stand die Erforschung der Ursachen (z.B. Arbeitslosigkeit, Steuerpolitik) und der regionalen Verteilung von Armut. Dominierend waren also Fragen der Verteilungs- bzw. Gerechtigkeitspolitik, weniger die Folgen für die Kinder selbst.
  • Die zweite Phase drehte sich um Diagnosen zu Folgen von Kinderarmut. Hier entwickelte sich eine an Lebenslagen orientierte Forschung, die eine differenziertere Analyse der Situation von Kindern ermöglicht. Eine wichtige Erkenntnis war, dass Eltern unter Armutsbedingungen oft nicht in der Lage sind, die komplexen Alltage zu gestalten.
  • Die dritte Phase (bis heute) betrachtet die konkreten Folgen von Kinderarmut sowie deren weitere Konsequenzen der fehlenden Teilhabe an Bildung, für die kindliche Entwicklung, auch der kognitiven und körperlichen Fähigkeiten.

Die veränderten Fragestellungen wurden von der Referentin so erklärt: In der ersten Phase bewirkten der reformierte Familienlastenausgleich und die deutliche Anhebung des Kindergelds kaum Änderungen an der Kinderarmut. Die komplexere Betrachtung in der Phase zwei führte zwar zu Unterstützungsmaßnahmen, insb. der Träger der Kinder- und Jugendhilfe: z.B. in der Einführung der Tagesbetreuung, Mittagstische usw. Die Bundespolitik und die Länder hätten hierauf jedoch kaum reagiert. Die dritte Phase brachte eine Abkehr vom Aspekt der materiellen Sicherung hin zu einem Ausbau von Infrastruktur und Dienstleistungen, wie z.B. Bildungseinrichtungen für (v.a. kleine) Kinder. Hinzu kam der Ausbau des Kinderschutzes (Frühe Hilfen) mit Blick auf arme Familien.

Rückblickend zeigen die drei Phasen laut Prof. Mierendorff eine Veränderung der Kinderarmutspolitik vom traditionellen Familienlastenausgleich hin zu einer Förderung außerhalb der Familie. Die gewünschte Verbesserung der Erwerbsbeteiligung der Mütter (Phase 2) sei nicht aufgegangen, denn der Ausbau von Tagesbetreuungen usw. habe weder zu einer Verbesserung der Einkommen von Müttern noch zur Reduktion der Kinderarmut geführt. Stattdessen habe die Fülle und Dichte der Organisationsprobleme in der Familie eher zugenommen. Abschließend erinnerte die Referentin daran, dass die Kinderarmutspolitik nicht nur durch die Diskussion der Kindergrundsicherung bestimmt wird. Wichtig sei auch eine ganzheitliche Sicht ohne die bisherige Trennung in Lebens- und Lernbereiche der Kinder. Nötig sei hierbei eher eine Diskussion um die Frage des Aufwachsens, der Teilhabechancen und Bildungsmöglichkeiten von Kindern insgesamt.

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