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Sterberecht und Sterbe­hil­fe­praxis im inter­na­ti­o­nalen Vergleich - Bericht von der Fachtagung "Die Freiheit zu sterben II“

Sven Lüders

Mitteilungen Nr. 213 (2/2011)

Sterberecht und Sterbehilfepraxis im internationalen Vergleich - Bericht von der Fachtagung

Vor zwei Jahren verabschiedete der Bundestag eine Reform des Betreuungsrechts, mit der Patientenverfügungen endlich als verbindlich anerkannt wurden. In der Praxis bleiben jedoch viele Fragen offen: Was darf in einer Patientenverfügung alles festgelegt werden? Ob und wann ist ein Behandlungsabbruch zulässig? Wie weit dürfen eine palliativmedizinische Versorgung oder eine aktive Sterbebegleitung gehen? Bei diesen vor allem im Strafrecht zu klärenden Fragen herrscht immer noch große Rechtsunsicherheit. Das zeigen nicht zuletzt die wiederkehrenden Verfahren, die sich bis vor die obersten Gerichte hinziehen und in denen selbst zwischen Fachjuristen erstaunliche Meinungsunterschiede in der Bewertung einer konkreten Behandlungssituation zutage treten, von den beteiligten Ärzten und Angehörigen ganz zu schweigen. Dabei könnte bereits eine einfache Änderung des § 216 Strafgesetzbuch (StGB) die Verwirrung darüber, ob ein ärztlicher Eingriff nun passive, indirekte oder aktive Sterbehilfe sei, auflösen. Die HU hat einen entsprechenden Vorschlag bereits 2007 vorgelegt, er sieht auch die Legalisierung aktiver Sterbehilfe vor. Diese Forderung, obwohl in der Bevölkerung seit langem populär, mag bisher keine der im Bundestag vertretenen Parteien aufgreifen. Unisono warnen sie vor einem Dammbruch, der mit einer Freigabe der aktiven Sterbehilfe eingeleitet würde. Angesichts eines unterfinanzierten Gesundheitssystems und schwindender familiärer Bindungen fürchte man, dass Alte und Kranke zunehmend in den Tod gedrängt würden. Unter solchen Bedingungen könne von autonomen, selbstbestimmten Entscheidungen zum Sterben keine Rede sein. 

Doch wie groß ist die Gefahr eines solchen Dammbruchs  wirklich? Welche Formen von Sterbehilfe sind mit dem deutschen Verfassungsrecht vereinbar? Und welche Bedeutung hat das Recht überhaupt, wenn es um humane Bedingungen des Sterbens geht? Das waren Fragen, denen sich die Tagung „Die Freiheit zu sterben II“ widmete. Sie fand am 14. April 2011 in Berlin statt und setzte eine unter gleichem Titel vor vier Jahren begonnene Kooperation zwischen Heinrich-Böll-Stiftung und Humanistischer Union fort. Diesmal wurde die Veranstaltung gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben ausgerichtet.

Das Tötungstabu – eine legitime Recht­fer­ti­gung?

Jörg Antoine stellte den verfassungsrechtlichen Konflikt um die Sterbehilfe als Abwägung vor zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Sterbewilligen und der Schutzpflicht des Gesetzgebers für das Leben, welches durch die Aufweichung des Tötungstabus bedroht werde. Hierbei gehe es um Leben und Tod. Da könne niemand vom Gesetzgeber verlangen, „das Experiment einer Freigabe der Tötung auf Verlangen“ einzugehen, wenn das Risiko eines Missbrauchs vorab nicht zu erfassen ist. Doch ein solches Experiment braucht es nicht, dazu genügt ein Blick über die Landesgrenzen: In der Schweiz und den Benelux-Staaten werden verschiedene Formen der Sterbehilfe praktiziert, die damit verbundenen Risiken sind also empirisch kontrollierbar – genau das hatte sich die Tagung vorgenommen.

Zuvor wies Reinhard Merkel noch auf einige Missverständnisse in der normativen Begründungslogik des Sterbehilfe-Verbotes hin: Der § 216 StGB schütze nicht das Lebensrecht (Artikel 2 Grundgesetz) des Sterbewilligen – in dieses Grundrecht werde bei einer Tötung auf Verlangen nämlich gar nicht eingegriffen: „Wohl zerstört ein Suizident sein biologisches Leben. Aber sein Recht auf Leben verletzt er nicht dabei. Das kann er gar nicht verletzen. Das schützt Ihn gegen Andere, nicht gegen sich selbst.“ Das gleiche gelte für den Fall, dass er einen Anderen ausdrücklich mit seiner Tötung beauftrage. Ebenso zweifelhaft ist für Reinhard Merkel aber auch die Begründung, der § 216 StGB diene der Aufrechterhaltung des Tötungstabus. Mit dem Dammbruch-Argument werde ein „strikter Utilitarismus auf Kosten des Individuums“ gepflegt, den er für „moralisch verwerflich“ hält.

Der rationale Kern und damit der eigentliche legitime Grund des Verbots einer Tötung auf Verlangen (für dessen Erhalt sich Merkel übrigens aussprach) liege vielmehr im Schutz des „biologischen Am-Leben-Seins des Menschen“ vor übereilten, irreversiblen Suizid-Entscheidungen. Der § 216 StGB ziele auf den 19-jährigen Jugendlichen, der heute aus Liebeskummer aus dem Leben scheiden will und seinen Freund bittet: ‘Schieß mir eine Kugel in den Kopf’ – und morgen froh sei, dass der Freund es nicht getan habe. Glaubt man der Suizidforschung, dann ist die Mehrzahl der Überlebenden eines Suizidversuches später froh darüber, dass ihr Versuch misslang. Nur eine Minderheit der jährlich etwa 9.500 Suizide in Deutschland erfülle die (umstrittenen) Kriterien eines Bilanzsuizids, bei dem man von einer freien, später nicht zu widerrufenden Entscheidung ausgehen könne. Ein „Übereilungsschutz“ ist unter diesen Gesichtspunkten sinnvoll.

Wenn sich der Schutzgehalt des § 216 StGB jedoch auf den Schutz vor übereilten Entscheidungen beschränkt, weist das zugleich den Weg für eine begrenzte Freigabe des Verbotes: Allein schon durch ein zeitlich gestrecktes Verfahren der Sterbehilfe ließen sich Kurzschlusshandlungen ausschließen. Die Prüfung der Nachhaltigkeit eines Sterbewunsches gehört deshalb zu den Kriterien, die allen auf der Tagung vorgestellten oder vorgeschlagenen Verfahren der Sterbehilfe gemeinsam sind.

Reinhard Merkel lieferte schließlich noch die normativen Rechtfertigungsgründe, unter welchen Umständen nach seiner Auffassung die aktive Sterbehilfe bereits mit dem heutigen Strafrecht zu vereinbaren sei: den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB). Die Ermöglichung eines würdevollen und schmerzfreien Todes sei u.U. ein höherwertiges Rechtsgut als die Aussicht, unter schwersten Schmerzen noch kurze Zeit weiter leben zu müssen, dass nicht nur die indirekte Sterbehilfe (also die Schmerzlinderung mit Inkaufnahme des vorzeitigen Todes), sondern in extremen Situationen auch die gezielte, aktive Tötung gestatte.

Pallia­tiv­me­dizin eine Alternative zur Sterbe­hilfe? 

Nach den verfassungsrechtlichen und normtheoretischen Erörtungen ging die Tagung zur Praxis über. Hier wird den Befürwortern von Sterbehilfe und assistiertem Suizid immer wieder entgegengehalten, der Wunsch nach Sterbehilfe beruhe auf falschen Vorstellungen vom Krankheitserleben („Apparatemedizin“) und einer mangelnden Kenntnis bzw. einem mangelnden Angebot palliativmedizinischer Möglichkeiten. Rücke man beides zurecht, erledige sich der Wunsch quasi von selbst. Dem widersprach der Berliner Palliativmediziner Michael de Ridder vehement: Nicht jedes Leiden lasse sich auf ein erträgliches Maß reduzieren, manche Patienten fänden trotz aller Bemühungen nicht zum Lebenssinn zurück. „Palliativmedizin und ärztlich assistierter Suizid verhalten sich eben nicht antagonistisch, sondern im Prinzip komplementär zueinander. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass auch der ärztlich assistierte Suizid zu einer äußersten Maßnahme palliativer Medizin werden kann.“ Er verwies in diesem Zusammenhang auf die Erfahrungen im US-Bundesstaat Oregon. Der hatte 1997 eine gesetzliche Regelung zum ärztlich assistierten Suizid erlassen. In den ersten acht Jahren nahmen 390 Patienten dieses Recht in Anspruch und unterzogen sich den vorgeschriebenen Beratungen und Begutachtungen, um sich das todbringende Barbiturat verschreiben zu lassen. Über ein Drittel dieser Sterbewilligen nahm das Mittel am Ende jedoch nicht ein – ihnen genügte offenbar die Gewissheit, jederzeit selbst über den richtigen Zeitpunkt ihres Sterbens bestimmen zu können.

Das Beispiel Oregon ist auch in anderer Hinsicht aufschlussreich, weil dort Sozialdaten und Motive der Sterbewilligen erfasst werden. Diese Daten relativieren die Befürchtung vor einem sozialdarwinistischen Abdrängen der Armen in die Sterbehilfe: Zwischen 1998 und 2005 wurden in Oregon 246 assistierte Suizide tatsächlich ausgeführt, dies entsprach einem Promille aller Sterbenden. Die Sterbewilligen lagen sowohl in ihrem Ausbildungsgrad als auch in ihrem Krankenversicherungsstatus deutlich über dem Bevölkerungsdurchschnitt. Bei den Motiven für den Sterbewunsch spielte das unvermeidbare Leiden nur bei 22 Prozent der Betroffenen eine Rolle; weitaus wichtiger waren der drohende Autonomie- und Würdeverlust sowie ein Verlust, jene Dinge tun zu können, die ein lebenswertes Leben ausmachen (jeweils über 80 Prozent, vgl. Dahl 2006).

Formales Recht und ärztliche Praxis

Wenn es um die Erfüllung von Sterbewünschen geht, blicken viele Menschen in Deutschland auf die Schweiz. Nicht erst seit Daniel Kehlmanns Erzählung „Ruhm“ ist das Problem des deutsch-schweizerischen Sterbetourismus präsent. Worin aber unterscheiden sich die Rahmenbedingungen bei unseren Nachbarn, dass dort möglich wird, was hierzulande nicht geht? Der von Karl-Ludwig Kunz vorgetragene Rechtsvergleich präsentierte Überraschendes: In strafrechtlicher Hinsicht gebe es keine Unterschiede zwischen Deutschland und der Schweiz, mit denen sich die unterschiedliche Sterbehilfepraxis erklären ließe. Aktive Sterbehilfe ist hier wie dort verboten, in der Beihilfe zum Suizid ist das Schweizer Recht gar deutlich restriktiver. So ist die Anstiftung oder Verleitung zum Selbstmord in der Schweiz strafbar, sofern sie aus selbstsüchtigen Motiven erfolgt (Art. 115 StGB). Die Unterschiede finden sich außerhalb der Gesetze: Zum einen kennt die Schweiz keine der Spruchpraxis des deutschen Bundesgerichtshofes (BGH) vergleichbare Rechtsprechung, die einen dem Suizid beiwohnenden Arzt nicht aus der Garantenstellung entlässt („Fall Wittig“, BGH 3 StR 96/84 v. 4.7.1984) – eine Praxis, die auch Torsten Verrel als überholt und revisionswürdig bezeichnete.

Ausschlaggebender dürfte aber sein, dass die Schweizer ÄrztInnen den palliativmedizinischen Handlungsspielraum weiter auslegen als ihre deutschen KollegInnen. Sie würden ein größeres Risiko der Lebensverkürzung in Kauf nehmen, was in der Praxis zu einem „exzessiven Einsatz palliativer Techniken“ und einer rechtlichen Grauzone führt, so Kunz. Auch wenn es bereits Versuche gegeben habe, mit Hilfe von Rahmenvereinbarungen zwischen Staatsanwaltschaft und Sterbehilfeorganisationen gewisse Sorgfaltskriterien zu etablieren, fehle bisher – mit Ausnahme des o.g. Beihilfeverbotes – jede rechtliche Regulierung der Sterbehilfepraxis. Das Modell basiere auf dem Vertrauen in die ärztlichen Entscheidungen. Aufgrund der weiten Auslegung ihres palliativen Auftrages kann man nach Kunz davon ausgehen, dass in der Schweiz „jeder ernsthaft Suizidwillige letztlich einen Arzt finden wird, der zur Verschreibung dieses Mittels bereit ist.“ Eine Änderung sei jedoch mit dem noch für dieses Jahr erwarteten Gesetzentwurf zur organisierten Suizidbeihilfe in Sicht.

Im Gegensatz dazu existiert in den Niederlanden seit 2002 eine detaillierte rechtliche Regelung für die Voraussetzungen straffreier ärztlicher Sterbe- und Suizidbeihilfe. Erhard Blankenburg betonte jedoch, dass diese Praxis im vorrechtlichen Raum entstanden sei. Das niederländische Sterberecht sei auch nicht einfach liberal, sondern eher pragmatisch einzustufen. Es gehe auf eine Initiative der ÄrztInnen zurück, „die die Juristen aus ihren Krankenhäusern heraus haben wollten“, betonte Blankenburg. Dahinter steht die Erfahrung, dass viele gerichtliche Auseinandersetzungen um die Rechte Sterbender auf sekundäre Konflikte zurückgehen (z.B. Rivalitäten zwischen dem Personal) und die Verfahren für die Sterbewilligen und ihre Angehörigen oft eine unzumutbare Belastung sind. Um einer restriktiven Verrechtlichung des Sterbens vorzubeugen, haben sich 1995 die Ärzt-Innen auf Rahmenbedingungen geeinigt, mit denen sie ihrer Sorgfaltspflicht bei der Sterbehilfe nachkommen wollen. Dazu gehören die Diagnose eines aussichtlosen Leidens, die Konsultation eines/einer zweiten KollegIn, die Nachhaltigkeit des Sterbewunsches (dieser muss in mehreren Beratungen vorgetragen werden) und eine ärztliche Kontrollkommission für Streitfälle. Diese Sorgfaltspflichten wurden 2002 in die gesetzliche Regelung übernommen. Sie dienen seitdem oft als Vorbild für eine regulierte Freigabe der Sterbe(bei)hilfe, wie gegenwärtig in der Schweizer Diskussion.

Mit der Tagung wurde einmal mehr der rechtliche Gestaltungsspielraum für ein selbstbestimmtes Sterben abgesteckt. Kurz gesagt: Unser Grundgesetz lässt offen, ob die aktive Sterbehilfe verboten bleiben oder doch legalisiert werden kann. Beides scheint mit unserer Verfassung vereinbar zu sein. Es bleibt daher dem Gesetzgeber überlassen, ob und welche Freiräume er für die individuellen Vorstellungen vom guten Sterben schafft.

Mit ihrem internationalen Rechts- und Praxisvergleich hat die Veranstaltung zugleich deutlich gemacht, wie groß der Gestaltungsspielraum jenseits des Rechts ist. Hierbei kommt es besonders auf das Selbstverständnis der ÄrztInnen an – wie weit sie ihren palliativen Auftrag wahrnehmen, und in welchem Maße sie die Entscheidung zum Sterben den Wünschen und Wertvorstellungen ihrer PatientInnen überlassen. Die am 1. Juni verabschiedeten neuen Richtlinien der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung stellen einen umso größeren Rückschritt dar. Ein Berufsverband, der ÄrztInnen jegliche Hilfe zur Selbsttötung untersagt, agiert gegen die Erwartungen und Vorstellungen vieler PatientInnen und überlässt die Sterbewilligen ihrem Schicksal. Von einem toleranten Umgang mit den Sterbewünschen scheint die deutsche Gesellschaft weit entfernt.

Sven Lüders

Gesetzentwurf der Humanistischen Union
zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts
kranker und sterbewilliger Menschen

§ 216 StGB wird wie folgt geändert:

㤠216 Sterbehilfe
(1)  Sofern dies dem Willen des Betroffenen entspricht, sind Handlungen nicht rechtswidrig in Fällen
1. des Unterlassens oder Beendens einer lebenserhaltenden Maßnahme oder
2. der Anwendung einer medizinisch angezeigten leidmindernden Maßnahme, die das Leben als nicht beabsichtigte Nebenwirkung verkürzt.
(2) Nicht rechtswidrig ist die Tötung eines anderen Menschen auf Grund seines ausdrücklichen und ernstlichen Verlangens.“

Informationen:

Bundesärztekammer: Änderungen der (Muster-)Berufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte. Beschluss des 114. Deutschen Ärztetages in Kiel v. 31.5.-3.6.2011, unter http://baek.de/downloads/114DAETBeschlussAnlageIII-01.pdf

Edgar Dahl: Dem Tod zur Hand gehen, in: Spektrum der Wissenschaft 7/2006, S. 116 ff., abrufbar unter http://www.wissenschaft-online.de/spektrum/pdf/leseprobe/SDW_06_07_S116.pdf.

Eine gedruckte Dokumentation der Tagung ist in Vorbereitung und kann nach Erscheinen über die Geschäftsstelle bzw. den Onlineshop der HU bezogen werden. Die Audiodokumentation der Referate findet sich unter: www.humanistische-union.de/themen/bioethik/sterben2.

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