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Struk­tu­relle Defizite, Reform­be­darf und Alter­na­tiven

Mitteilungen21010/2010Seite 14-16

Tagung der Humanistischen Union zu aktuellen Problemen des Strafvollzuges. Mitteilungen Nr. 210 (3/2010), S. 14-16

Strukturelle Defizite, Reformbedarf und Alternativen

Am 17. und 18. September 2010 veranstaltete die Humanistische Union eine Tagung zu aktuellen Problemen des Strafvollzuges. Ihr Titel – „Chancenlos, rechtlos und ausgeliefert“ – enthielt bereits den kritischen Befund, der die Tagung prägte. An der Tagung nahmen nahezu 100 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Praktikerinnen und Praktiker aus ganz Deutschland teil. Sie diskutierten grundlegende Entwicklungen und Veränderungen im Strafvollzug anhand von drei Oberthemen: Exklusion, Bürgerrechte und Gewalt.

Ein kurzer Blick auf die empirischen Daten zum Freiheitsentzug in Deutschland im Jahre 2010 weist auf die Probleme hin: Die Entwicklung der Gefangenenzahlen im Strafvollzug, aber auch bei den weiteren Formen der Inhaftierung – etwa der Sicherungsverwahrung und dem Maßregelvollzug – ist bedenklich. Unter dem Leitbild von mehr Sicherheit durch Wegsperren (und weniger Bemühungen um Resozialisierungen) ist die Anzahl der Inhaftierten seit der Wiedervereinigung insgesamt dramatisch gestiegen. Zwar gingen in den letzten Jahren die Gefangenenzahlen zurück. Dieser Rückgang ist jedoch vornehmlich dem Umstand geschuldet, dass weniger Personen in Untersuchungshaft genommen werden. Auch die Gefangenenzahlen im Bereich des Vollzugs der Freiheitsstrafe sind leicht rückläufig. Das geschieht jedoch ausschließlich zu Lasten des offenen Vollzuges, während die Anzahl der Personen im geschlossenen Vollzug auf konstant hohem Niveau bleibt. Dem Rückgang der Gefangenenzahlen steht zudem eine Ausweitung der anderen freiheitsentziehenden Maßnahmen gegenüber: So hat sich die Zahl der Sicherungsverwahrten und der aufgrund richterlicher Anordnung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt Untergebrachten seit Mitte der 1990er Jahre mehr als verdoppelt.

Der erste Abschnitt der Tagung – die „Exklusion des Anderen“ – thematisierte, wie der Strafvollzug die Betroffenen ausgrenzt und nachhaltig von der gesellschaftlichen Teilhabe ausschließt. Klaus Jünschke beschrieb etwa, mit welchen psychischen Auswirkungen die Isolation in Einzelhaft einhergeht und welche desintegrativen Folgen die hohen Arbeitslosenquoten in Gefängnissen haben. Zudem kritisierte er die exkludierenden Effekte, die über die Zeit der Inhaftierung hinauswirken und darin bestehen, dass die Gefangenen oft mit ihren sozialen, psychischen und finanziellen Problemen allein gelassen werden und sich die Gesellschaft einer Integration meist verschließt. Alternativen zum strafrechtlichen Urteil und dem Freiheitsentzug, die ohne Strafe auskommen, stellte Gaby Temme beispielsweise mit Ansätzen der „Restorative Justice“ vor. Dabei sollen vor allem die Betroffenen selbst über die Art und Weise des Umgangs mit ihren Konflikten entscheiden können.

„Bürgerrechte im Strafvollzug“ waren Thema des zweiten Abschnitts. Johannes Feest vertrat die These, dass ein humanistisches Weltbild die Abschaffung der Institution Strafvollzug beinhalte. Bis dahin ist es freilich noch ein weiter Weg, kurzfristig müssten daher zumindest die Missstände im Strafvollzug systematisch angegangen werden. Wie weit das aus der Sicht eines Praktikers möglich ist, beschrieb Harald Preusker. Nach seiner Meinung genügen internationale und nationale Vereinbarungen sowie politische Zusagen allein nicht, um die Menschenwürde und die Bürgerrechte der Gefangenen zu garantieren. Vielmehr ist die Gesetzeslage umzusetzen, dass außer den für die Freiheitsentziehung absolut unentbehrlichen Einschränkungen Grundrechte auch für Gefangene umfassend zu bewahren sind. Der Vollzug sei so auszugestalten, dass die grundgesetzlich verankerten Freiheiten ausgeübt werden können und ihre Ausübung gefördert werde.

Im dritten Themenbereich wurde über „Gewalt im Strafvollzug“ referiert und diskutiert. Jochen Goerdeler wies auf die strukturellen Probleme der „totalen Institution“ Strafvollzug hin, die die Gewaltbereitschaft bei Insassen wie Personal befördern. Um der Gewalt vorzubeugen, müssten deshalb die Gefängnisorganisation und der Umgang mit Gefangenen verbessert werden. So sind etwa die nach wie vor anzutreffende menschenunwürdige Unterbringung in kleinsten Zellen fast ohne Tageslicht, die erzwungene Gemeinschaftsunterbringung und die langen Einschlusszeiten abzuschaffen. Wie sich strukturelle Gewaltbereitschaft, institutionelle Versäumnisse und mangelnde Sensibilität für gewalttätige Übergriffe gegenseitig verstärken, zeigte Ingke Goeckenjan in ihrem eindringlichen Bericht, in den sie den Foltermord in der Siegburger Jugendhaftanstalt (2006) und vor allem die staatlichen Reaktionen hierauf genau analysierte. Ihre Bilanz der politischen und institutionellen Lehren, die aus dem Ereignis gezogen wurden, fiel nüchtern aus: Die Untersuchungsberichte konzentrierten sich vornehmlich auf die Schuldfragen, die bestehenden Defizite bei der Prävention von und der Reaktion auf Gewalt in den Anstalten wurden hingegen vernachlässigt.

Die Bremer Fachtagung war ein erster Schritt, die Probleme des Strafvollzugs und der Freiheitsentziehung wieder stärker in den Fokus der Humanistischen Union zu rücken. In ihren Beiträgen wiesen Rosemarie Will und Johannes Feest darauf hin, welche lange Tradition das Ringen um einen humaneren Strafvollzug bzw. um eine humanere Lösung als den Strafvollzug in unserem Verein hat. Das zeigt bereits die Liste der Fritz-Bauer-Preisträger/innen, unter denen sich viele Vertreter der Strafvollzugsreform wiederfinden: Helga Einsele, Peggy Parnass, Heinz D. Stark und Birgitta Wolf.

Als erstes Resultat der Tagung stellt die Humanistische Union hier zehn Forderungen zur Diskussion. Ihre Umsetzung ist aus unserer Sicht zwingend geboten, um das Leid der Inhaftierten zu reduzieren und ihre Eingliederung in die Gesellschaft zu erleichtern. Die Forderungen sind größtenteils nicht neu, dennoch aber hoch aktuell. Ihr Vorbild finden sie in einer Petition zum Strafvollzug, welche die HU bereits 1967 verfasst hat (nachzulesen in vorgänge 11/1967, S. 404-406 bzw. der Online-Ausgabe der Mitteilungen).

Jens Puschke
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Freiburger Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht und im Bundesvorstand der Humanistischen Union für die Themen Strafrecht & Strafvollzug zuständig

Eine schriftliche Dokumentation der Tagung ist geplant. Über ihr Erscheinen werden wir in einer der nächsten Ausgaben berichten. Die meisten Referate der Tagung dokumentieren wir auf der HU-Webseite unter: https://www.humanistische-union.de/veranstaltungen/berichte/.

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