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Massen­über­wa­chung oder automa­ti­sches Filtern?

20. Juni 2014

Ein Streitgespräch zur Überwachungspraxis des BND, den internationalen Datenaustausch zwischen den Geheimdiensten, den Grenzen der parlamentarischen und gerichtlichen Kontrolle sowie den staatlichen Schutzpflichten. (Gekürzte Textfassung und Audiomitschnitt)

Kurt Graulich, Martin Kutscha und Rosemarie Will

Massenüberwachung oder automatisches Filtern?

Es diskutieren Kurt Graulich, Richter am Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, und Martin Kutscha, emeritierter Professor für Staats- und Verwaltungsrecht der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht, moderiert von Rosemarie Will. Das Gespräch fand im Rahmen des dritten Gustav-Heinemann-Forums am 20. Juni 2014 in Rastatt statt. Auszüge aus dem Gespräch wurden veröffentlicht in: vorgänge Nr. 206/207 (Heft 2-3/2014), S. 22-30.

Rosemarie Will:   Gibt es Defizite in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, die wir beheben müssen, damit wir solchen Ausspähungen wie denen der NSA entgegenwirken können? Inwieweit kann eine nationale Rechtsordnung das überhaupt leisten? Muss sie durch europäisches Recht ergänzt werden?

Kurt Graulich:   Was für Situationen von Ausspähungen sieht sich ein Bürger der Bundesrepublik gegenüber? Wenn wir das an den Institutionen festmachen, ist in jüngster Zeit der Bundesnachrichtendienst besonders in die Aufmerksamkeit geraten; durch Abhörmaßnahmen, die deutsche Staatsbürger vor allem bei grenzüberschreitendem Telekommunikationsverkehr betreffen. Wenn man auf die Treffer abstellt, ist das zum größeren Teil Sprachtelefonie und zum geringerem Teil Internet- oder Mailverkehr.

Diese Abhörmaßnahmen sind eingehegt in einem besonderen Verfahren, bei dem die G 10-Kommission (ein besonderer Parlamentsausschuss) sowohl bei der Genehmigung der Maßnahmen, wie auch bei der Kontrolle und der Nachkontrolle eingespannt ist. Die Funktion dieser G 10-Kommission ersetzt die Gerichtskontrolle, das ist in der Verfassung in Artikel 10 Abs. 2 Grundgesetz geregelt. Das Aufkommen an tatsächlich ausgewerteter Kommunikation ist relativ klein, mein Senat hat sich vor drei Wochen damit beschäftigt. Im Jahr 2010 waren es 213 Telefongespräche, die im einzelnen angeschaut wurden und 12 E-Mails. Der zweite Bereich, in dem der Bundesnachrichtendienst tätig ist, ist die reine Auslandskommunikation. Das ist ein großes Dunkelfeld. Durch einen Aufsatz von Berthold Huber(1) ist klar geworden, dass der größere Teil der Telekommunikationsüberwachung in diesem Bereich stattfindet. Eine Befugnisnorm dafür, vergleichbar wie die im G 10-Gesetz, findet man nicht. In einem Gutachten von Hoffmann-Riem(2) war nachzulesen, das sich die Bundesregierung vorsichtig auf § 1 des Bundesnachrichtendienstgesetzes beruft. Man kann darüber streiten, ob das eine Befugnisnorm oder eine Aufgabenbeschreibung ist. Mehr ist uns über die Rechtsgrundlagen dazu bis jetzt nicht bekannt. Wir wissen auch nichts von den Quantitäten, da wir keine Statistiken dazu haben. Über den Bereich, der unter das G 10-Kontrollregime fällt, haben wir dagegen jährliche Berichte des parlamentarischen Kontrollgremiums mit Zahlen.

Das dritte Feld, wenn wir von Aushorchung sprechen, sind die von der Justiz angeordneten Maßnahmen. Die werden jährlich dokumentiert. Die Fallzahlen sind dort stark gestiegen, in den letzten 15 Jahren haben die sich verdreifacht und liegen derzeit bei um die 50.000 Überwachungsanordnungen pro Jahr. Bei den meisten handelt es sich um Anträge von Staatsanwaltschaften, die von Gerichten genehmigt werden.

Der Unterschied zwischen dem, was der Bundesnachrichtendienst macht und dem, was die Justiz macht, ist der, dass der Bundesnachrichtendienst die Kommunikationsdaten automatenmäßig erfasst und sofort löscht, was nicht den Suchbegriffen entspricht, sodass nur ein kleiner Teil übrig bleibt. Das ist ein qualitativer Unterschied zu den Abhörmaßnahmen der Justiz, wo ganze Leitz-Ordner von ausgedruckten und abgeschriebenen Protokollen anfallen.

Ein weiterer Bereich, in dem ausgespäht wird, sind jede Menge Überwachungsmaßnahmen durch ausländische Dienste. Die nehmen wir, wenn ich es salopp sagen darf, hin. Wenn es keine verbündeten Dienste sind, lebt man damit, dass man von anderen Ländern überwacht wird. Prekär wird das Ganze, und das ist ja durch Edward Snowden bekannt geworden, wenn das Partnerdienste sind. Wenn man auf die von ihm vorgelegten Zahlen sieht, fragt man sich, ob damit nicht das ganze Rechtssystem umgestürzt wird. Im Raum steht der Vorwurf, dass es eine Datendurchstecherei gibt dank Datenübermittlung. Ein großer Teil der Probleme, über die man sich beim Rechtsschutz von Bürgern unterhalten sollte, scheint mir in den Übermittlungsvorschriften zu liegen, die es in den Nachrichtendienstgesetzen und in den Polizeigesetzen gibt. Dagegen ist im Grunde genommen kein ausreichender Schutz vorgesehen.

Martin Kutscha:   Sprechen wir zunächst über eine neue Entscheidung des 6. Senats des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG), dem Herr Graulich angehört. Der Senat hat kürzlich eine Klage des Berliner Anwalts Niko Härting gegen die Überwachung der grenzüberschreitenden Telekommunikation durch den Bundesnachrichtendienst (BND) als unzulässig zurückgewiesen, weil der Kläger – Herr Härting – ja nicht nachgewiesen hätte, dass er selbst überwacht wird.(3) In der Pressemitteilung über diese Entscheidung kann man lesen, dass der Bundesnachrichtendienst die Telekommunikation ins Ausland anhand von 634 Suchbegriffen auswertet und dabei im Jahre 2010 allein 37 Millionen „Treffer“ erzielte. Das heißt: eine große Anzahl von Menschen gelangen erst einmal in das Visier des Bundesnachrichtendienstes, sind im rechtlichen Sinne Betroffene dieses Grundrechtseingriffs, bevor sie dann – auf welche Weise auch immer – weiter abgeklärt werden. Bei so vielen Betroffenen wird dann einem Kläger gesagt: ‚Du musst uns nachweisen, dass du selber betroffen bist, um ein subjektives Klagerecht zu haben.’ Angesichts der NSA-Überwachung, über die wir täglich in der Zeitung lesen und über das Mitwirken des BND daran, hätte man sich gewünscht, dass das Bundesverwaltungsgericht sagt, die Klage ist zulässig, weil eine Betroffenheit durchaus als möglich erscheint, und es dann in der Sache prüft.

Ich habe den Eindruck, dass BVerwG wollte den „Schwarzen Peter“ lieber dem Bundesverfassungsgericht zuschieben. Natürlich kann man sagen, die Übermittlungsregelung im Bundesnachrichtendienstgesetz geht viel zu weit, wie Sie es ja angesprochen haben. Aber der Verweis des Bundesverwaltungsgerichts auf die zuständige G 10-Kommission ist, wie es mein Kollege Gusy gesagt hat, der Verweis auf „blinde Wächter ohne Schwert“. Diese Kommission erfährt das, was ihr vorgelegt wird; aber was die Alltagspraxis der Nachrichtendienste anbetrifft, stochert sie im Nebel herum. Und selbst wenn die Mitglieder der Kommission etwas finden, dürfen sie es nicht an die Öffentlichkeit geben. Deshalb sind die Skandale immer von anderer Seite, von dritter Seite, ans Tageslicht gebracht worden, in keinem einzigen Fall durch diese Kommission. Ihre Mitglieder sind wirklich blinde Wächter ohne Schwert, auch wenn man in den letzten Jahren ganz behutsam die Kompetenzen dieser Kommission ein wenig erweitert hat. Zudem ist es immer die parlamentarische Mehrheit, die in diesen Kommissionen das Sagen hat. Die hat gar kein Interesse daran, dass grundsätzlich diskutiert wird über die Rolle der Nachrichtendienste in Deutschland.

Will:   Ich finde es schwierig, über eine Zulässigkeitsfrage hier zu diskutieren. Es ist auch nicht üblich, dass ein Richter sein Urteil öffentlich kommentiert, er spricht durch das Urteil.

Graulich:   Ich hab keine Schwierigkeiten, mit solcher Urteilskritik umzugehen. Ich bin Abiturjahrgang 1968, wir sind mit diesen Themen bestens vertraut.

Will:   Dann fangen wir an mit der Frage nach der G 10-Kommission. Herr Graulich hat gesagt, dieses Verfahren sei geerdet. Martin Kutscha hält dagegen die G 10-Kommission für blinde Wächter ohne Schwert und konstatiert ein großes Defizit. Wie kommen Sie dazu zu sagen, dass sei ein geerdetes Verfahren?

Graulich:   Also noch mal zu der tatsächlichen Seite der strategischen Auslandsaufklärung des BND. Ich bin nicht der Auffassung, dass der technische Vorgang, der dort stattfindet, als massenhaftes Ausspähverfahren zutreffend beschrieben wird. Von den 37 Millionen automatisch durchsuchten Gesprächen sind am Ende nur 213 Sprachtelefonievorgänge aufgezeichnet und gespeichert worden. Nur diese 213 Gespräche und 12 E-Mails sind von Mitarbeiter_innen des BND zur Kenntnis genommen worden. Der ganze Rest wurde maschinell abgearbeitet, den hat niemand zur Kenntnis genommen. Das G 10-Gesetz sieht ganz enge Löschungsvorschriften vor, einschließlich der Protokolldaten über die Löschung. Das Gericht hat keine Möglichkeit gehabt, im Nachhinein zu rekonstruieren, was 2010 dort abgelaufen ist. Man mag das als massenhafte Ausspähung bezeichnen. Aber dann müssten Sie, wenn Sie an irgendwelchen Geschwindigkeitsmessgeräten mit dem Auto vorbei fahren, das in der selben Weise als Ausspähung bezeichnen.

Ich bleibe dabei: Ich halte das für ein geerdetes Verfahren. Die G 10-Kommission steht am Anfang des Verfahrens. Wenn der Bundesnachrichtendienst einen Suchbegriff einführen will, muss er das parlamentarische Kontrollgremium über das Innenministerium um Erlaubnis fragen. Jeder einzelne Suchbegriff wird von dieser Kommission genehmigt. „Blinde Wächter ohne Schwert“ scheint mir dafür nicht angemessen zu sein, wenn die G 10-Kommission am Anfang dieses gesamten Verfahrens als Genehmigungsbehörde steht. Der Bundesnachrichtendienst muss auch bei Verlängerungen nachfragen. Und er muss der G 10-Kommission Rechenschaft ablegen, was er eben für „Treffer-Erfolge“ erzielt hat oder nicht. Außerdem hat die G 10-Kommission vollständigen Einblick in alle geheimen Unterlagen. Es gibt kein Gericht dieser Republik, das einen solchen Einblick hat, mit der einzigen Ausnahme des Fachsenats beim BVerwG nach § 99 Verwaltungsgerichtsordnung. Mein Senat, der ein ganz normaler Gerichtssenat ist, würde nie in diese Unterlagen reinschauen dürfen. Deshalb meine ich, dass das in Artikel 10 GG angelegte Verfahren eigentlich besser ist als eine gerichtliche Kontrolle.

Will:   Was ist mit der Zusammensetzung der G 10-Kommission? Die ist ja spiegelbildlich den Verhältnissen im Parlament nachgebildet. Das heißt, wir haben die regierungstragenden Kräfte und – wenn wir vom derzeitigen Zustand ausgehen – eine schwache Opposition. Die Frage des inneren Verfahrens, also was dann wie genehmigt wird, wird dort mit Regierungsmehrheiten entschieden. Und das ist, so habe ich Martin Kutscha verstanden, durchaus ein Problem. Wie setzt sich die Minderheit, also die Opposition tatsächlich im G 10-Ausschuss durch?

Graulich:   Also ich kann nur das sagen, was ich in einer Reihe von offenen Veranstaltungen, einschließlich unserer Gerichtsverhandlungen, zu dieser Kommission gehört habe: Dort sind ja keine Primärpolitiker drin. Mein Kollege Huber zum Beispiel, der gehört der Kommission seit 14 Jahren an und ist, glaube ich, das dienstälteste Mitglied; der ist gelernter Richter, sonst gar nichts. Er gehört keiner Partei an. Die Herkunft der Anderen kenne ich nicht. Mir ist nicht bekannt, dass dort wirklich nach politischen Mehrheiten abgestimmt würde, ob ein bestimmter Suchbegriff in die Liste aufgenommen wird oder nicht. Wenn man politisch diskutiert, müsste man beim Parlamentarischen Kontrollgremium ansetzen. Das parlamentarische Kontrollgremium für die Nachrichtendienste ist aus Abgeordneten des Bundestages zusammengesetzt, und zwar proportional zu den Parteien. Dieses parlamentarische Kontrollgremium wählt die Mitglieder der G 10-Kommission. Die sind typischer Weise keine Abgeordneten. Das parlamentarische Kontrollgremium hat die Aufgabe, die politische Vermittlungsarbeit zu leisten zwischen der G 10-Ebene und dem Parlament.

Die G 10-Kommission äußert sich nie. Die unterliegt ganz strengen Geheimhaltungen. Ihren Mitgliedern ist es verboten, über den Inhalt ihrer Tätigkeit zu sprechen. Das parlamentarische Kontrollgremium unterliegt im weiteren Sinne auch der Geheimhaltung, aber seine Mitglieder dürfen das, was nicht ausgesprochen werden darf, in politischen Sätze formulieren. Gleichwohl gibt es ganz offensichtlich ein Vermittlungsdefizit der Öffentlichkeit gegenüber. Aber sagen wir es doch mal offen: Wer hat sich bis zum Erscheinen des Buches von Foschepoth(4)und bis zum Auftreten von Edward Snowden eigentlich für diese Dinge interessiert? Wir haben jetzt ein Interesse an diesen Dingen von dem ich hoffe, dass es zu einer besseren Sprachfähigkeit und Vermittlungsfähigkeit in diesem Bereich führt.

Will:   Also da kann ich nur sagen, wir – die Humanistische Union – haben uns immer dafür interessiert, was seit der Verfassungsänderung von Artikel 10 Grundgesetz stattgefunden hat.

Kutscha:   Ich sehe das ganz anders als Herr Graulich. Ich erlebe in vielen Diskussionen, gerade mit jungen Menschen, eine starke Resignation. Die sagen: Wir können uns nicht dagegen wehren, es sei denn, wir verzichten auf die moderne Telekommunikation. Dazu sind die meisten nicht bereit. Als Bürgerrechtsbewegung sind wir aber in unserem Land eine Minderheit. Wir müssen leider zur Kenntnis nehmen, dass die Mehrheit sich nicht aktiv gegen diese Missstände wehrt.

Die Bundesregierung ist inaktiv. Aus ihrer Schutzpflicht für die Grundrechte folgt aber ihre Aufgabe, die Staatsbürger_innen zu schützen! Was passiert? Nichts, da man selber offenbar ganz gut über den BND teilhat an den Ergebnissen der Überwachungswut.

Ich will bei einem anderen Punkt noch einhaken: Sie haben es etwas verharmlosend dargestellt, dass es bei der Telekommunikationsüberwachung durch den BND im Grunde um eine rein maschinelle Erfassung geht. Da würde ich Ihnen widersprechen. Tatsächlich ist es so, dass die meisten Überwachungen maschinell ablaufen. Auch bei Facebook und Google sind es keine Menschen, die sich anschauen, wer welche Mitteilungen verfasst. Das erledigen alles Algorithmen, die automatisch Informationen verschiedener Art zusammenfügen und auf diese Weise Persönlichkeitsprofile erstellen. Das ist doch das Gefährliche in dieser Situation: Es sind scheinbar irgendwelche belanglose Daten, die aber in der Verkettung mit anderen Daten den Menschen transparent machen; auf eine Weise transparent machen, über deren Folgen man bis heute nur spekulieren kann. Zum Beispiel bekommen junge Leute Einreiseverbote in den USA, weil sie in ihren E-Mails irgendetwas geschrieben haben, was erst auf der letzten Stufe Menschen auswerten. Zunächst werten hochentwickelte Systeme von Algorithmen eine Fülle von Datenspuren aus, die die Menschen hinterlassen, und machen sie durchschaubar. Das Bundesverfassungsgericht sagt in einer seiner jüngeren Entscheidungen, es gehöre zur verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschlands, „dass die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht total erfasst und registriert werden darf.“(5) Der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bedeutet, dass ich nicht ständig damit rechnen muss, überwacht zu werden in meiner Kommunikation. Dies müssen wir verteidigen.

Graulich:   Darf ich nur kurz etwas zu den Tatsachen sagen. Der Bundesnachrichtendienst zeichnet, im Unterschied zu dem was Edward Snowden über die NSA berichtet, keine Telekommunikationsinhalte auf. Bei der sogenannten strategischen Fernmeldeaufklärung wurden im Jahr 2013 die genannten 213 Sprachtelefonate und 12 E-Mails aufgezeichnet, ansonsten wird nichts aufgezeichnet. Wenn wir über Persönlichkeitsprofile und diese Dinge reden, ist das nichts, was bei der strategischen Überwachung überhaupt einschlägig ist; jedenfalls nicht bei dem, was in Deutschland läuft.

Will:   Ich denke, dass wir im Bezug auf die strategische Fernmeldeüberwachung nach dem G 10-Gesetz hier die Differenzen nicht ausräumen können. Relativ deutlich aber ist, dass bei der Zusammenarbeit mit ausländischen Diensten ein ziemlich großer Graubereich gesehen wird. Die Übermittlungsvorschriften geben keinen klaren Maßstab vor, was erlaubt und was verboten ist. Wir sind uns alle darin einig, dass, wenn es um massenhafte Ausspähungen geht, wir die Dinge meinen, die die NSA veranstaltet hat. Die Frage ist nun: Ist so etwas unter dem Grundgesetz hier in der Bundesrepublik möglich? Und wir müssen uns fragen: Haben die deutschen Nachrichtendienste von den NSA-Überwachungen partizipiert? Reichen unsere verfassungsrechtlichen Maßstäbe, um dies zu verhindern oder brauchen wir zusätzliche, neue Regelungen?

Kutscha:   Viele kennen die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts des letzten Jahrzehntes, die in bestimmten Punkten eine Korrektur der Überwachungspraxis durchaus eingeleitet haben. Was ich kritisiere, ist die Brisanz der neuen Überwachungsmethoden, z.B. der Vorratsdatenspeicherung: was man beispielsweise aus sogenannten Verbindungsdaten oder Metadaten alles herauslesen kann.

Aber das Bundesverfassungsgericht ist immer vor der letzten Konsequenz zurück geschreckt, klar zu sagen: dieses Überwachungsinstrument ist so eingriffsintensiv, dass es gegen die Menschenwürde verstößt, weil es den absolut geschützten Kernbereich unserer Lebensgestaltung ausleuchtet, und soll als Instrument per se verboten sein. So weit ist das Bundesverfassungsgericht nie gegangen. Lediglich in einem Minderheitenvotum des Urteils zum Großen Lauschangriff haben zwei Richterinnen einmal gesagt: ‚Hier ist Schluss!’, konnten sich aber nicht durchsetzen.(6) Seitdem haben wir bei verfassungsgerichtlichen Entscheidungen zu Überwachungsgesetzen immer wieder die Situation, dass gesagt wird, diese oder jene Maßnahme sei bedenklich. Dann wird aber der große juristische Weichspüler, das Verhältnismäßigkeitsprinzip, eingesetzt. Mit diesem Verhältnismäßigkeitsprinzip kann man im Grunde genommen alles begründen. Es wird betont, man müsse Vorsicht walten lassen, nur in Ausnahmefällen sei die Überwachung erlaubt. Was nur für die Ausnahme zugelassen wird, entwickelt sich dann aber mehr und mehr zur Normalität – das ist das Problem.

Mich selber hat ja das jetzt bekannt gewordene Ausmaß der Überwachung überrascht. Das Schlimme aber ist: sie wird gerechtfertigt als notwendiges Instrument im Kampf gegen den Terrorismus. Nur ist kein Terrorist durch die Telefonüberwachung etwa der Amerikaner enttarnt worden. Das Bundesverfassungsgericht muss seine Schutzpflicht wahrnehmen und eine Grenze setzen: bis hierher und nicht weiter. Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung sollte den Mut haben, zum Schutz der Bürger_innen absolute Grenzen der Überwachung festzulegen.

Will:   Du würdest also sagen, beim Recht auf informationelle Selbstbestimmung gibt es eine Schutzpflicht des Staates. Ich lehre das so und bin prompt von meinen Studenten gefragt worden: „Glauben Sie, dass die Bundesrepublik dem genügt hat mit den bestehenden gesetzlichen Regelungen?“ Die deutschen Nachrichtendienste haben vermutlich vom Datenabsaugen durch die Amerikaner und Engländer partizipiert. Wenn es diese Schutzpflicht gibt – was hätte man tun müssen, um ihr zu genügen?

Kutscha:   Ich bin mit dieser Idee der Schutzpflicht überhaupt nicht alleine. Im NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestages sind drei Gutachter aufgetreten. Alle drei – nämlich Hoffmann-Riem, Bäcker und Papier – haben sinngemäß gesagt: ‚Ihr müsst mehr tun zur Erfüllung dieser Schutzpflicht, sie muss ernst genommen werden.’(7) Das ist die richtige Linie, die Schutzpflicht muss eine konkrete Gestalt gewinnen.

Will:   Aber welche, das ist doch die große Frage! Wenn wir konstatieren: es gibt die Schutzpflicht; die Bundesrepublik hat sie nicht erfüllt; dann sind die Gesetze zu benennen, die es jetzt braucht.

Kutscha:   Es sind natürlich bessere Gesetze, die wir brauchen, das ist völlig klar. Wenn wir uns das Verfassungsschutzgesetz des Bundes anschauen oder auch das Bundesnachrichtendienstgesetz, sehen wir, dass wir mit Generalklauseln abgespeist werden. Wenn wir die Geschichte betrachten, sehen wir den Bundesnachrichtendienst, der säckeweise Post und Briefe nach „drüben“ gelesen hat, als es die DDR noch gab. Im Grunde gab es immer schon eine gezielte Überwachung.

Die Diskussion um die Schutzpflicht fängt damit an, dass man diskutiert, ob man auf den Verfassungsschutz verzichten kann. Das ist eine Forderung der Humanistische Union, die wir hier nicht ausdiskutieren können. Das man einfach die Befugnisse viel enger schneidert, um dieser Schutzpflicht Genüge zu tun, reicht natürlich nicht aus, weil mit einem deutschen Gesetz die NSA nicht in den Griff zu bekommen ist. Es geht darum, politischen Einfluss auszuüben auf die Regierung der befreundeten Staaten. Wir sollten deren Überwachungsaktivitäten nicht weiter hinnehmen, sondern beispielsweise erklären: ‚Wenn ihr das weiter macht, dann sperren wir uns beim Transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP.’ Die Druckmittel, die unsere Regierung hat, müssen im Interesse des Grundrechtsschutzes der Bevölkerung in Deutschland wirklich eingesetzt werden. Das muss nicht immer ein neues Gesetz sein. Es gibt mehrere Möglichkeiten um einen Schlusspunkt zu setzten, damit es so nicht weiter geht. Es genügt nicht, wenn die Regierung der USA uns zusichert, dass sie nicht mehr das Handy von Frau Merkel überwachen lässt. Frau Merkel ist nicht die Bundesrepublik Deutschland.

Will:  Ich habe Herrn Graulich so verstanden, dass das eigentliche Problem in den Übermittlungsvorschriften liegt, in denen die Maßstäbe geregelt werden für das, was deutsche Nachrichtendienste von ausländischen überhaupt entgegen nehmen dürfen, um es dann weiter zu verarbeiten; das wäre die zu schließende Lücke im Sinne der Schutzpflicht. Aber das ist ein weites Feld, das wir angesichts der fortgeschrittenen Zeit nicht weiter bearbeiten können. An alle, die heute Abend hier zugehört und mitdiskutiert haben: Vielen Dank für Ihr Interesse!

Anmerkungen:

(1) Huber, Die strategische Rasterfahndung des Bundesnachrichtendienstes – Eingriffsbefugnisse und Regelungsdefizite, Neue Juristische Wochenschrift 2013, S. 2572 ff. S. auch den Beitrag von Huber in diesem Heft.

(2) Die Information selbst stammt aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage des SPD-Fraktion, s. BT-Drs. 17/14560 v. 14.8.2013

(3) Urteil vom 28.05.2014, Az.: BVerwG 6 A 1.13.

(4) Josef Foschepoth, Überwachtes Deutschland – Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik. Vandenhoeck & Ruprecht, November 2012.

(5) S. Urteil des BVerfG v. 02.03.2010 – 1 BvR 256/08 u.a. („Vorratsdatenspeicherung“), Rn. 218.

(6) S. Abweichende Meinung der Richterinnen Jaeger und Hohmann-Dennhardt zum Urteil des Ersten Senats vom 3. März 2004 – 1 BvR 2378/98 und 1 BvR 1084/99 -, Rn. 355ff.

(7) Vgl. den Beitrag von Lüders über Rechtspositionen zur Überwachungsaffäre in diesem Heft.

Das vollständige Gespräch können Sie hier nachhören (Dauer: ca. 44 Minuten):

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