Beitragsbild Menschen- und Bürgerrechte in Europa. Eine gemeinsame Podiumsdiskussion von Amnesty International und Humanistischer Union
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Menschen- und Bürger­rechte in Europa. Eine gemeinsame Podiums­dis­kus­sion von Amnesty Inter­na­ti­onal und Humanis­ti­scher Union

Mitteilungen205/20609/2009Seite 35-37

Aus: Mitteilungen Nr. 205/206 (2+3/2009), S. 35-37

Menschen- und Bürgerrechte in Europa. Eine gemeinsame Podiumsdiskussion von Amnesty International und Humanistischer Union

Die Köln-Bonner Regionalgruppe der Humanistischen Union (HU) und die örtliche Hochschulgruppe von Amnesty International (ai) hatten zur öffentlichen Podiumsdiskussion eingeladen: Am 22. Mai 2009 kamen die hiesigen Kandidaten zur Europawahl im Saal der evangelischen Studierendengemeinde in der Bonner Südstadt zusammen, um sich den Fragen der interessierten Öffentlichkeit zu stellen. Für die SPD war der stellvertretende Vorsitzende des Unterbezirks Bonn, Ole Erdmann, erschienen.

Für die Grünen nahm die Aachener Kommunalpolitikerin und Bildungsexpertin Karin Schmitt-Promny teil. Die FDP wurde durch den Vizepräsidenten der Europäischen Liberalen Jugend, Alexander Plahr aus Neuss, und die Linke durch die Vorsitzende ihres Bonner Kreisverbandes, Isabelle Casel, vertreten. Trotz intensiver Bemühungen der Veranstalter fand sich kein Teilnehmer der CDU.

Den etwa 35 Teilnehmern bot die Diskussion einen hilfreichen Einblick in die Parteiprogramme. Mit der Teilnehmerzahl waren die Veranstalter übrigens durchaus zufrieden – Veranstaltungen zur Europawahl werden oft kaum angenommen. Die Moderation übernahm der Bonner Politologe Christoph Lövenich, der souverän und professionell durch den Abend führte. Dass es unterhaltsam zuging, war auch den Kandidaten zu verdanken.

Obwohl sie alle von ihren Parteien auf Listenrängen platziert wurden, die ihnen keine Chancen auf einen Einzug in das Europäische Parlament einräumten, beteiligten sie sich leidenschaftlich an der Diskussion und boten ihr ganzes Überzeugungsvermögen auf.

Das Sterben an den Außen­grenzen der EU: Flücht­lings- und Asylpolitik

Erstes Thema des Abends war die Asyl- und Flüchtlingspolitik der EU.

Markus Schopp von der ai-Hochschulgruppe stellte die These in den Raum, dass die EU zur Zeit das Menschenrecht auf Schutz vor Verfolgung nicht hinreichend garantiere. Einer klaren Formulierung der UN-Menschenrechtskonvention stünden sehr unterschiedliche Aufnahmekriterien der Mitgliedsstaaten gegenüber, der Flüchtlingsschutz gerate in der EU zum Glücksspiel für die Betroffenen.

Schopp skizzierte die Leerstellen der europäischen Flüchtlingspolitik: eine fehlende Verteilung der Flüchtlingsströme auf alle europäischen Staaten; menschenunwürdige Zustände in den südlichen Aufnahmeländern; kein gemeinsames Aufnahmeverfahren; militärische Aufrüstung der EU-Außengrenze; das Abdrängen von Bootsflüchtlingen durch die EU-Grenzbehörden…
Alexander Plahr (FDP) stimmte mit dieser Zustandsbeschreibung weitgehend überein.

Es sei „beschämend, dass an Europas Südgrenze tausende Menschen ertrinken“. Für Verbesserungen bedürfe es einer gemeinsamen EU-Asylpolitik – ein Punkt, in dem sich alle Kandidaten einig waren. Aber: Viele der Ankommenden seien ‚Wohlstandsflüchtlinge‘. „Daher müssen wir uns bemühen, die Lebensbedingungen der Menschen in den Herkunftsländern zu verbessern, und zwar mithilfe der Prinzipien des Freihandels“. Ein Ende der EU-Subventionen für landwirtschaftliche Exporte und eine andere Fischereipolitik könnten helfen, den Strom der Flüchtlinge einzudämmen.

Karin Schmitt-Promny kritisierte die Rede von den ‚Wohlstandsflüchtlingen‘ bei Plahr. Das Wohlstandsgefälle sei auch ein Erbe der kolonialen Vergangenheit Europas, deren negative Auswirkungen bis heute andauern. Daneben kritisierte sie die mangelhafte Abgrenzung zu Diktaturen in Afrika.
Ole Erdmann (SPD) sah in der Problemanalyse große Einigkeit zwischen Amnesty International und den Parteien. Der Streit beginne bei der Frage, mit welchen praktischen Schritten eine Verbesserung der Situation zu erzielen sei.

In der EU setzten sich Kommission und Parlament für einen weniger restriktiven Umgang mit Flüchtlingen ein, als dies in vielen nordeuropäischen Staaten der Fall sei. Eine Stärkung der gesamteuropäischen Ebene sei deshalb für den Flüchtlingsschutz gewinnbringend. Zugleich betonte er die Notwendigkeit einer umfassenden europäischen Migrationspolitik: „Europa braucht Einwanderung.“ Dafür müsste aber noch die nötige Akzeptanz in der Bevölkerung erreicht werden.

Isabelle Casel (Die Linke) sprach sich dafür aus, dass alle Flüchtlinge unabhängig von ihren Fluchtgründen aufgenommen und gleichmäßig auf die Mitgliedsstaaten verteilt werden. Der derzeitige Zustand sei nicht hinnehmbar: „Die Linke steht konsequent für das Recht auf Asyl!“ Um die Ursachen der Flucht zu bekämpfen, sollten die Mitgliedsstaaten ihre Etats für Entwicklungshilfe auf 0,7% des Bruttoinlandsprodukts anheben und einen umfassenden Schuldenerlass für die betroffenen Staaten gewähren.

Im Freihandel könne sie jedoch keine Lösung des Problems sehen; sie forderte im Gegenteil „Importzölle in den Entwicklungsländern“, damit sich deren Ökonomien ungehindert entwickeln können. Der Lissaboner Vertrag verschärfe die bisherige Abschottungspolitik der EU, denn in ihm sei sogar vorgesehen, dass „den Auswirkungen der Klimakrise mit militärischen Maßnahmen“ begegnet werden könne, so Casel. Sie kritisierte des weiteren die militärische, bisweilen geheimdienstlich operierende europäische Grenzschutzagentur (FRONTEX).

Diese funktioniere als „Flüchtlings-Abwehragentur“ und gehöre abgeschafft bzw. in eine Aufnahmeagentur transformiert.
Zur Diskussion um die Fluchtgründe wurde aus dem Publikum heraus der ehemalige Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen, Jean Ziegler, mit der Forderung zitiert, man solle künftig Hunger als Asylgrund anerkennen – eine Forderung, die außer Casels alle anderen Kandidaten ablehnten.

Die demokra­ti­sche Legiti­ma­tion der EU

Zweites Thema des Abends waren die Bedeutung der Grundrechte in Europa und die demokratische Legitimation der EU.

Hierbei wurden die Kandidaten zu den Grundlinien der Europapolitik befragt: Wie kann die europäische Integration durch immer neue Vertragswerke gelingen? Welche Rolle spielt das Fehlen einer kritischen Öffentlichkeit auf europäischer Ebene? Warum gab es zum Vertrag von Lissabon keine Volksabstimmung in Deutschland? Wie können weitere Grundrechtseingriffe im Bereich der Innen- und Rechtspolitik verhindert werden?

Ole Erdmann sah im Lissaboner Vertrag einen großen Fortschritt, da er insbesondere zur „Beschleunigung künftiger Entscheidungsprozesse“ beitragen werde. Neben der Legitimität des politischen Handelns auf europäischer Ebene gehe es vorrangig um ‘Output-Legitimation’: „Die Menschen müssen sehen, dass die EU ihnen hilft.“ Der neue Vertrag schaffe erst jene politische Arena, in der dann um Mehrheiten – etwa für eine stärkere Beachtung der Grundrechte – geworben werden könne. Zudem würden die Zuständigkeiten und Entscheidungswege durch den Vertrag von Lissabon vereinfacht, was neben der Stärkung des Europaparlaments zur Bildung einer europäischen Öffentlichkeit beitragen könnte.

Karin Schmitt-Promny stimmte dieser hoffnungsvollen Sicht auf den Vertrag von Lissabon zu: Auch sie wünsche sich eine stärkere kritische Öffentlichkeit; auch sie sei eine leidenschaftliche Befürworterin des vorliegenden Vertragswerks, denn: „Dieser Vertrag stellt nicht das Ende, sondern eine Etappe der europäischen Integration dar. Fortschritte in Sachen Demokratie und Bürgerrechte können bei weiteren Vertragswerken erzielt werden.“
Alexander Plahr ging noch einen Schritt weiter, indem er behauptete, dass das Thema ‘Lissabon-Vertrag’ gar keine Rolle im Europawahlkampf mehr spiele: „Die Entscheidung ist gelaufen.

Der Lissabon-Vertrag steht hier nicht zur Abstimmung.“ Natürlich könne man das Vertragswerk kritisieren, aber der derzeitige Zustand sei noch viel kritikwürdiger. Zur Stärkung der europäischen Öffentlichkeit bedarf es aus seiner Sicht einer Harmonisierung des Wahlrechts. Wenn gleichsam 27 Einzelabstimmungen zum Europaparlament stattfinden, könnten die Gemeinsamkeiten nicht sichtbar werden, eine gesamteuropäische Diskussion sich nicht herausbilden.

Isabelle Casel wandte sich gegen ihre Vorredner, die den Vertrag als das kleinere Übel zur jetzigen Situation akzeptierten. Sie kritisierte vor allem den zu geringen Stellenwert sozialer Grundrechte und eine Tendenz zur Militarisierung der gemeinsamen Außenpolitik. Zudem forderte sie eine systemoffene Beschreibung der europäischen Wirtschaftspolitik, wohingegen der Vertrag die Marktwirtschaft als allein geltende Maxime festschreibe. Sie kritisierte die mangelhafte Gewaltenteilung in der EU und sprach sich für einen neuen Verfassungsentwurf aus, der von einem Konvent „im Dialog mit den Bürgern“ erarbeitet werden solle.

In der anschließenden Fragerunde sprachen sich alle Kandidaten für die Möglichkeit eines europaweiten Volksentscheides aus. Bei der Frage, ob über weitere EU-Verträge durch einen Volksentscheid entschieden werden solle, legte sich jedoch nur Casel fest, die solche Abstimmungen für obligatorisch hielt. Plahr und Erdmann warnten hingegen, dass bei europäischen Volksabstimmungen die Bürger oft nur aus Protest gegen ihre jeweiligen Regierungen die zur Abstimmung stehenden Vorschläge ablehnten.

Europäische Politik und ihre Auswir­kungen auf die Bürger­rechte – Beispiel Datenschutz

Im dritten thematischen Block folgte ein konkretes Fallbeispiel europäischer Politik: die Vorratsdatenspeicherung und mit ihr die Auswirkungen innen- und rechtspolitischen Handelns der EU auf den Datenschutz der Bürger. Rainer Scholl von der Humanistischen Union kritisierte den Entscheidungsweg, der zur entsprechenden EU-Richtlinie geführt hatte.

Ohne Beteiligung der Öffentlichkeit, ohne Rücksicht auf die Bedenken hinsichtlich der Risiken und der mangelnden Wirksamkeit des Vorhabens sei das Vorhaben umgesetzt worden. Die deutsche Bundesregierung habe sich auf ihre Umsetzungspflicht berufen, dabei sei sie selbst auf europäischer Ebene an der Entwicklung der Vorgaben beteiligt gewesen. Hier zeige sich, wie nationale Regierungen die europäische Ebene missbrauchen könnten, indem sie unpopuläre Maßnahmen ‚durch die Hintertür‘ durchsetzen.

Alexander Plahr betonte, dass die FDP die Vorratsdatenspeicherung auf nationaler und europäischer Ebene „entschieden abgelehnt“ habe. Die Europäische Union dürfe jedoch nicht als abstrakter Gegner der Grundrechte betrachtet werden. „Es gibt für derartige Maßnahmen Politiker, die – wie die Bundesregierung – persönlich verantwortlich sind!“, so Plahr.

Problematisch sei, dass auf europäischer Ebene keine klare Trennung von Regierung und Opposition bestehe, was die politische Verantwortlichkeit für einzelne Maßnahmen verschleiere.
Isabelle Casel erinnerte daran, dass die Grundrechte nicht nur von der großen Koalition, sondern auch unter der rot-grünen Vorgängerregierung „massiv beschnitten“ wurden. Einig war sie sich mit Plahr, dass die Regierungen der Mitgliedsstaaten, und nicht die abstrakte Institution EU für diese Entwicklungen verantwortlich zu machen sei. „Wir sind heute die Partei des Grundgesetzes“, erklärte sie augenzwinkernd und verwies auf die Forderungen der Linken, wonach die Speicherung biometrischer Daten abgeschafft und der Arbeitnehmerdatenschutz gesetzlich gestärkt werden sollen.

Ole Erdmann befand sich nach eigenen Angaben bei der Vorratsdatenspeicherung in einer unangenehmen Situation: Die Sozialisten im Europaparlament und die SPD im Bundestag hätten der Vorratsdatenspeicherung zugestimmt. „Aber wir sind als Sozialdemokraten in der Region anderer Meinung, deshalb hat unser Bonner Bundestagsabgeordneter Ulrich Kelber auch dagegen gestimmt“, so Erdmann.

Karin Schmitt-Promny wandte sich gegen die Angriffe an die Adresse der ehemaligen rot-grünen Bundesregierung: „Ich stehe zu den Fehlern von Rot-Grün, aber im Bereich des Datenschutzes und der Bürgerrechte habe ich ein reines Gewissen“. Schmitt-Promny betonte, dass es neben gesetzlichen Maßnahmen für die Stärkung des Datenschutzes auch darauf ankomme, den jungen Menschen Medienkompetenzen zu vermitteln. Niemand wolle auf das Internet verzichten, also müsse man lernen, wie man sicher mit ihm umgehe.

Mehr soziale Bürger­rechte oder
mehr wirtschaft­liche Freiheit?

Zum Abschluss hatten die Zuhörer Gelegenheit, weitere Fragen an die Kandidaten zu formulieren. Außerdem sollten die Kandidaten prägnant zusammenfassen, warum man ausgerechnet ihre Partei wählen solle. Da alle Parteivertreter immer wieder betonten, dass sie die menschen- und bürgerrechtlichen Anliegen von Organisationen wie Amnesty International und Humanistischer Union unterstützten, wurde eher allgemeine Prioritäten der Parteien sichtbar – mehr wirtschaftliche Freiheit oder mehr soziale Bürgerrechte als „zweite Seite der grundrechtlichen Medaille“ war an diesem Abend die Frage.

Ole Erdmann war am ehesten bereit einzugestehen, dass er im politischen Alltagsgeschäft die Bürgerrechte als ein politisches Ziel unter anderen ansehe: „Die Sozialisten in Europa stehen für eine Berücksichtigung dieses Themas, aber wichtig sind uns auch die sozialen Rechte. Der Genuss sozialer Rechte ist für die Menschen geradezu Voraussetzung, um die bürgerlichen Freiheitsrechte überhaupt erst nutzen zu können.“
Karin Schmitt-Promny betonte den Wert der Zivilgesellschaft: „Initiativen wie die ihren sind Voraussetzung unseres politischen Handelns. Wir müssen für eine Stärkung der außerparlamentarischen Bewegungen eintreten und stärker zwischen Politik und Zivilgesellschaft kommunizieren.“ Die Wahrung der Menschen- und Bürgerrechte sei eines von vier politischen Schwerpunkten, die die Grünen im Europawahlkampf neben der Wirtschafts-, Sozial-, und Umweltpolitik gesetzt hätten.

Alexander Plahr reagierte darauf, indem er die Bürgerrechte gleich in einem noch exklusiveren Kreis ansiedeln wollte: „Die Bürgerrechte sind eines zweier liberaler Schwerpunktthemen. Daneben steht die wirtschaftliche Leistung. Wirtschaftliche Leistung und bürgerliche Freiheiten gehen nur zusammen!“ Plahr sah im Übrigen eine Trendwende in der Diskussion um persönliche Freiheiten: „Den Schäubles dieser Welt wird langsam Einhalt geboten.“

Isabelle Casel von der Linken betonte zum Abschluss, dass es notwendig sei, die sozialen Bürgerrechte stärker als in der Vergangenheit auf der europäischen Ebene zu verankern. Ihre Partei stehe für ein Bündnis mit zivilgesellschaftlichen Gruppen und für eine demokratisch legitimierte Politik. „Die EU soll sich als Bündnis für die Menschen und nicht als ein weiteres Verteidigungsbündnis verstehen“, so Casel, was unter anderem durch einen europaweiten Mindestlohn möglich sei.

Insgesamt verlief der Abend aus Sicht der Veranstalter erfolgreich. Neben dem Einblick in die Wahlprogramme und Positionen der Parteien, den das Publikum an diesem Abend erhielt, wurde umgekehrt auch den Kandidat/innen eine Botschaft mitgegeben: Wie wichtig Menschen- und Bürgerrechte für viele Wähler sind. Eine Wiederholung des Veranstaltungsformates bei weiteren in diesem Jahr stattfindenden Wahlen ist deshalb nicht ausgeschlossen.

Florian Beger
vom Regionalverband Köln/Bonn der Humanistischen Union

www.florianbeger.de

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