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Zur Überwa­chungs­ge­schichte der Bundes­re­pu­blik Deutschland und den notwendigen Konse­quenzen

10. Februar 2015
Datum: Mittwoch, 07. Dezember 2011

Preisrede zur Verleihung des Fritz-Bauer-Preises 2014 an Edward Snowden

Zur Überwachungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland und den notwendigen Konsequenzen

Die lange Tradition geheimdienstlicher Überwachung in der Bundesrepublik Deutschland lässt sich in vier Punkten zusammenfassen:

1. Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist nicht nur die Geschichte einer gelungenen Demokratie. Sie ist auch die Geschichte einer fortgesetzten Umgehung, Missachtung und Verletzung grundlegender verfassungsmäßiger und rechtsstaatlicher Prinzipien.

2. Die Geschichte der Überwachung der Bundesrepublik ist eine Geschichte der engsten Zusammenarbeit zwischen den alliierten und deutschen Geheimdiensten. Sie sind miteinander groß geworden und aneinander gewachsen. So ist im Westen ein gigantischer geheimdienstlicher Komplex entstanden.

3. Die Geschichte der Überwachung ist die Geschichte der machtpolitischen Eindämmung und Selbsteindämmung der Bundesrepublik. So wurde die Bundesrepublik zum wichtigen Frontstaat im Kalten Krieg und zum machtpolitischen Zentrum im vereinten Europa. Das machte die Bundesrepublik zum am meisten überwachten Land in Europa.

4. Der kurze Weg nach Westen prägte die äußere und innere Entwicklung, begrenzte die Souveränität mit nachhaltigen positiven, aber auch negativen Folgen für die rechtsstaatliche Entwicklung wie die Geschichte des überwachten Deutschlands zeigt. Die Grundrechte haben nur da noch eine Bedeutung, wo sie dem staatlich definierten Sicherheitsinteresse nicht im Wege stehen.

Was sind die notwendigen Konsequenzen, die aus der Geschichte des überwachten Deutschlands zu ziehen sind?

Der Rechtsstaat wurde aus der leidvollen Erfahrung erfunden, dass Macht immer dazu neigt, missbraucht zu werden. Ein Rechtsstaat ist ein Staat, der sich in seinem Handeln dem Recht unterwirft. Das reicht jedoch für einen freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat nicht aus. Wesen eines solchen Staates ist vielmehr die Anerkennung überpositiven Rechts, der Menschen- und Grundrechte. Die Grundrechte sind die obersten Prinzipien der gesamten Rechtsordnung. „Die Grundrechte sind Abwehrrechte des Einzelnen vor Übergriffen des Staates”, schrieb das Bundesverfassungsgericht schon 1958 in seinem berühmten Lüth-Urteil. Sie erschöpfen sich aber nicht darin, wie die Richter schrieben „sondern gebieten auch, Schutzvorkehrungen zu treffen, sobald die Freiheit von 3. Seite bedroht wird“.

Man könnte Urteil an Urteil reihen, um weitere schöne Sätze für einen Festvortrag über die Bedeutung der Grundrechte zu finden. Die Wirklichkeit staatlichen Handelns sah und sieht anders aus. Wir brauchen dringend – und das wäre schon die erste notwendige Konsequenz – eine politische und gesellschaftliche Debatte, die unsere Verfassung vom Kopf wieder auf die Füße stellt und das, was oben ist auch wirklich als höchsten zu schützenden Wert benennt. Nicht die Sicherheit des Staates oder das, was man dafür hält, sind die höchsten Werte unserer Verfassung, sondern die Grundrechte und Grundfreiheiten der Bürgerinnen und Bürger, von denen alle Macht im Staate ausgeht. …

Hieraus ergibt sich eine zweite notwendige Konsequenz: die Überprüfung sicherheitsrelevanter Gesetze, Verträge und Vereinbarungen einschließlich noch gültiger geheimer Zusatzvereinbarungen auf ihre Vereinbarkeit mit den grundlegenden verfassungsrechtlichen und rechtsstaatlichen Prinzipien. Dies gilt insbesondere für die Fortgeltung alliierten Rechts und alliierter Interessen in deutschen Gesetzen. Ein Beispiel: Artikel 38 des Zusatzvertrags zum NATO-Truppenstatut verpflichtet bis heute zur Gleichbehandlung alliierter und deutscher Amtsgeheimnisse und zu strikter Geheimhaltung. Droht ein derartiges Geheimnis etwa im Rahmen eines Gerichtsverfahrens bekannt zu werden, ist der amerikanische Geheimdienst befugt, unmittelbar auf die deutsche Justiz einzuwirken. Erhebt die NSA in einem derartigen Fall Einwände, „so trifft das Gericht oder die Behörde alle in ihrer Macht stehenden Maßnahmen …, um die Preisgabe zu verhüten”.

Hieraus ergibt sich die dritte, wohl wichtigste Konsequenz hinsichtlich der Wiederherstellung verfassungsrechtlicher und rechtsstaatlicher Prinzipien: Die im Mai 1968 beschlossene Änderung von Artikel 10 GG muss dringend revidiert werden. Der damals ergänzte Absatz 2 dürfte nach heutiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – im Unterschied zur 5 zu 3-Entscheidung von 1970 – eine gewisse Chance haben, als verfassungswidrig zurückgewiesen zu werden. Und zwar wegen der Bestimmung, dass Überwachungsmaßnahmen zu geheimdienstlichen Zwecken „dem Betroffenen nicht mitgeteilt” zu werden brauchen und „dass an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt“.

Die Nichtinformation der Betroffenen und die Ausschaltung des Rechtsweges sind ihrem Wesen nach verfassungswidrig. Mit Beschluss … vom 7. Dezember 2011 stellte das Bundesverfassungsgericht fest:

Der Anspruch auf Benachrichtigung von verdeckten Ermittlungsmaßnahmen gehört zu den wesentlichen Voraussetzungen effektiven Grundrechtsschutzes. Ohne zumindest nachträgliche Kenntnis können die Betroffenen weder eine Unrechtmäßigkeit der durchgeführten Ermittlungsmaßnahme noch etwaige Rechte auf Löschung, Berichtigung oder Genugtuung geltend machen.

Wenn ein Anspruch auf „Kenntniserlangung” von Überwachungsmaßnahmen besteht, dann kann der grundgesetzlich garantierte Anspruch auf rechtliche Überprüfung behördlicher Entscheidung auf dem Rechtsweg nicht mehr verweigert werden. Die Entscheidung einer im Geheimen tagenden vierköpfigen G 10-Kommission kann die Entscheidung eines ordentlichen Gerichtes nicht ersetzen. Die Aufhebung der Gewaltenteilung ist eine fundamentale Beeinträchtigung und Verletzung des Rechtsstaates. Die Verweigerung der Information der von Überwachungsmaßnahmen Betroffenen ist ebenso wie der Ausschluss des Rechtsweges verfassungswidrig und muss aus Artikel 10 Grundgesetz getilgt werden.

Wird Artikel 10, Absatz 2 als verfassungswidrig erkannt, sind die Revision des G 10-Gesetzes und des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut ebenfalls unerlässlich. Ein wirksamer Schutz der Grundrechte, so das Fazit, ist nur durch eine Wiederherstellung der Gewaltenteilung im Bereich der Überwachung zu geheimdienstlichen Zwecken möglich – durch eine Wiederherstellung und Stärkung der gerichtlichen, aber auch der parlamentarischen Kontrolle, des Parlaments insgesamt, aber auch des einzelnen Abgeordneten.

Und damit wäre ich bei der vierten und letzten notwendigen Konsequenz, der Stärkung der Gewissensentscheidung der Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Auch hier hilft der Blick in die Geschichte. Im Strafgesetzbuch befand sich … bis zum 8. Strafrechtsänderungsgesetz im Juni 1968 – man beachte die zeitgleiche Beratung und Beschlussfassung mit der Notstands- und Überwachungsgesetzgebung – ein § 100 (Landesverrat), der im dritten Absatz folgende bemerkenswerte Regelung enthielt:

„Ein Abgeordneter des Bundestages, der nach gewissenhafter Prüfung der Sach- und Rechtslage und sorgfältiger Abwägung der widerstreitenden Interessen, sich für verpflichtet hält, einen Verstoß gegen die verfassungsmäßige Ordnung des Bundes oder eines Landes im Bundestag oder in einer seiner Ausschüsse zu rügen, und dadurch ein Staatsgeheimnis öffentlich bekannt macht, handelt nicht rechtswidrig, wenn er mit der Rüge beabsichtigt einen Bruch des Grundgesetzes oder der Verfassung eines Landes abzuwehren.“

Dieser Paragraph wurde 1968 ersatzlos gestrichen, nachdem sich die Besatzungsmächte und die Bundesregierung bereits 1954 im Truppenvertrag darauf verständigt hatten, dass die Abgeordneten-Regelung auf militärische Geheimnisse keine Anwendung findet. Da für die Amerikaner alle geheimdienstlichen Geheimnisse militärische Geheimnisse waren und sind, galt und gilt diese Regelung auch und vor allem für die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs, des E-Mail- und Internetverkehrs und welche Form der elektronischen Kommunikation auch immer. …

Ein Staat, dessen Exekutive vom Tun und Lassen seiner Geheimdienste nichts weiß und somit nicht kontrolliert, dessen Legislative eine wirksame Kontrolle in Form einer vierköpfigen G 10-Kommission und elfköpfigen Parlamentarischen Kontrollkommission gar nicht wirklich ausüben kann und darf, dessen Gerichte von einer unabhängigen Kontrolle per Gesetz und Verfassung ausgeschlossen sind, und deren Parlamentarier sogar ein Verfahren wegen Landesverrats riskieren, wenn sie ein geheimdienstliches Geheimnis öffentlich machen, um einen Bruch des Grundgesetzes zu verhindern, ein solcher Staat hat in Sachen Überwachung zu geheimdienstlichen Zwecken seinen freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Charakter verloren und ist ein Überwachungsstaat geworden.

Ein Einzelner, dessen Mut und Einsatz für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wir heute ehren, hat uns wachgerüttelt. Jetzt ist es Aufgabe der Zivilgesellschaft daraus Konsequenzen zu ziehen und den vielleicht wichtigsten Satz unserer Verfassung wieder voll zur Geltung zu bringen: Die Grundrechte sind „unmittelbar geltendes Recht“ (Artikel 1 Absatz 3 Grundgesetz).

Prof. Dr. Josef Foschepoth (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) hat mit seinem viel beachteten Buch „Überwachtes Deutschland“, das neun Monate vor Beginn der NSA-Affäre erschien, eine erste Geschichte der Überwachung in der Bundesrepublik vorgelegt. Da der Laudator aus familiären Gründen leider kurzfristig seine Teilnahme absagen musste, wurde sein Text beim Festakt zur Preisverleihung von Anja Heinrich und Mara Kunz verlesen. Sie können den Vortrag hier nachhören:

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