Themen / Demokratisierung

Zur Lage der Bürger­rechte – Bemerkungen zum Grund­ge­setz.

01. Juni 1999

Beitrag aus der Woche der Bürgergesellschaft* – 50. Geburtstag des Grundgesetzes:

Mitteilungen Nr. 166, S. 33

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Das sind die Anfangsworte unserer Verfassung. Wir wollen wissen, was in der Verfassungswirklichkeit aus dieser Verheißung geworden ist.
Niemand könnte heute ernsthaft bestreiten, daß wir in einer funktionierenden Demokratie, in einem freien Staat und in einer Gesellschaft leben, die sich der Bedeutung dieser Werte bewußt ist. Wir achten die Verfassung und betonen bei jeder Gelegenheit, daß sie die freieste ist, die es je in Deutschland gab. Gelegentlich wird die Meinung vertreten, unsere Demokratie sei nicht stabil, weil wir sie nicht erkämpft hätten. Das Grundgesetz sei uns von den Besatzungsmächten oktroyiert worden. Das ist so nicht richtig. Der Kampf um eine demokratische Verfassung beginnt nicht erst zum Ende des zweiten Weltkriegs, sondern mit dem 17. März 1848, als der Aufstand der Berliner Demokraten auf dem Schloßplatz zusammengeschossen wurde, spätestens mit dem Zusammentritt des Paulskirchenparlamentes am 18. Mai 1848. Er endete auch nicht mit der Kapitulation von Rastatt am 22. Juli 1849, sondern dauerte 100 blutige Jahre. Es ist richtig, daß die Besatzungsmächte erheblichen Anteil daran hatten, daß das Grundgesetz vor 50 Jahren als Verfassung eines westdeutschen Staates überhaupt zustande kam. Wir wollten eigentlich keinen Teilstaat und akzeptierten ihn schließlich als „Provisorium“, seine Verfassung als „Grundgesetz“. Aber die Struktur der Verfassung, ihr Grundrechtskatalog, ihre föderalistische Organisation entsprach alter deutscher Verfassungstradition.

Im Prinzip ist also bei uns alles in Ordnung. Allerdings tauchen in den internationalen Stellungnahmen zur inneren Lage der Bundesrepublik Schönheitsfehler auf, die wir ganz gerne verdrängen. So wird z.B. im Bericht der UN-Menschenrechtskommission über Deutschland Ende 1996 insbesondere auf Übergriffe der Polizei gegenüber Ausländern, ethnischen Minderheiten und Asylbewerbern hingewiesen. Die Kommission führt dazu aus, es sei offenbar schwer, dazu zuverlässige Stellungnahmen für eine Strafverfolgung zu treffen. Sie drückt ihre Sorge darüber aus, daß es trotz aller Anstrengungen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus gibt. Sie fordert im übrigen eine gerichtliche Entscheidung, wenn eine Einzelhaft länger als drei Monate dauern solle. Es müsse auch mehr Rechtssicherheit in der Frage geben, wann Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes der früheren DDR entlassen werden können, obwohl das Grundgesetz eine Benachteiligung wegen politischer Überzeugungen ausdrücklich verbietet. Der UN-Ausschuß gegen Folter rügt im Mai 98 die erhebliche Anzahl polizeilicher Übergriffe gegen Minderheiten und Ausländer. Er fordert einen weiteren Bericht an über Selbstmorde von Ausländern in Abschiebungshaft, von denen die Bundesregierung für die Jahre 96 bis 98 insgesamt 10 Fälle berichtet. Im Menschenrechtsbericht 1998 des US-Außenministeriums wird zur Bundesrepublik zwar hervorgehoben, daß fremdenfeindliche und antisemitische Übergriffe und Straftaten zurückgegangen seien. Es gebe sie aber auch weiterhin, ebenso wie Diskriminierungen von Ausländern im gesellschaftlichen Bereich.
Wir haben also trotz unserer Verfassungsgewißheit konkrete Veranlassung, Licht und Schatten näher zu betrachten. Wir leben in einer stabilen Demokratie und nicht in einem
Polizeistaat. Es gibt – im Gegensatz zur Weimarer Republik – kein Bürgertum, das den Staat ablehnt und ihn mehr oder weniger offen verhöhnt. Der Anteil der demokratischen Wähler ist mit regelmäßig gut 95% der abgegebenen Stimmen größer und beständiger als bei allen unseren westlichen Nachbarn. Trotz der bestehenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten gibt es einen unvergleichlichen Massenwohlstand und eine langfristige wirtschaftliche Stabilität, die ihresgleichen sucht. Tarifhoheit, Koalitionsfreiheit und Streikrecht sind unbestritten. Die Währung ist stabil, jedenfalls droht keine richtige Inflation. Außenpolitisch sind wir ein geachteter Partner in der Europäischen Union und ausschließlich von befreundeten Demokratien umgeben. Wir haben auf eigene atomare Waffen verzichtet und Angriffskriege als verfassungswidrig verboten. Wir diskutieren keine heimliche Rüstung, sondern die Abschaffung der Wehrpflicht oder die Frage, ob wir zum Schutz elementarer Menschenrechte in anderen Staaten militärische Mittel einsetzen dürfen. Zur Feldherrnhalle marschieren allenfalls Touristen. Es gibt keine bewaffneten Privatarmeen und unser politisches System ist nicht ernsthaft bedroht – übrigens auch nicht von der sogenannten „Organisierten“ oder von der normalen gutbürgerlichen Kriminalität. Für die meisten unserer jüngeren Mitbürger ist das sogenannte „Dritte Reich“ kaum nachvollziehbare Geschichte. Dieses positive Bild ist die eine Seite der Republik. Wir müssen uns aber auch die andere Seite ansehen. Das wird nicht jedem in gleicher Weise gefallen.
Zur Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik gehört auch, daß wir nicht nur rechtsradikale Wähler, sondern fremdenfeindliche, faschistoide Gewalttaten haben, und das nicht erst seit der Wiedervereinigung, aber doch mit einem deutlichen Schwergewicht in den neuen Bundesländern. Das Potential rechtsradikaler Wähler wird – wie bei unseren westlichen Nachbarn – als zweistellig geschätzt. Wir haben Straftaten mit rechtsradikalem Hintergrund erlebt, die wir noch vor kurzem für in Deutschland undenkbar hielten. In Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen, Lübeck, Magdeburg und anderswo leben plötzlich junge Leute Fremdenhaß in einer Umgebung aus, in der es kaum Ausländer gibt.
Manche Erwachsene verharmlosen das und sehen weg. Wo ein festes „Halt“ geboten wäre, lassen sie die Menschenjäger gewähren. Die gehen kurzgeschoren in uniformähnlicher Aufmachung mit der Reichskriegsflagge auf die Straße und sind auf der Suche nach Sündenböcken für ihre eigenen Probleme. Dabei fühlen sie sich als Vollstrecker der wahren Wünsche der Bürger, die von der ‘political correctness‘ daran gehindert werden, sie zu verwirklichen. Da spuken dümmliche Wahlparolen demokratischer Politiker von einer „durchraßten“ oder „multikriminellen“ Gesellschaft in den Köpfen und vom „Mißbrauch des Gastrechts“. Die anheizende Wirkung dieser politischen Parolen ist offensichtlich, wenn sich solche Pogrome in Ländern ereignen, in denen der ausländische Bevölkerungsanteil so minimal ist wie in Sachsen-Anhalt.
Die praktische Politik unseres Staates – von uns selbst als weltoffen und der Menschenwürde verpflichtet gerühmt – beginnt, auf diese Befindlichkeit Rücksicht zu nehmen. Der sozialdemokratische Bundesinnenminister versichert, wir könnten Flüchtlinge nicht mehr aufnehmen. Die Grenzen der Belastbarkeit seien überschritten. Er sagt nicht, wie er diese Grenzen definiert und ermittelt. Er verstärkt den Eindruck vieler Bürger, Ausländer seien Belastungen, die man eigentlich loswerden müsse. Es ist richtig, daß es Integrationslasten gibt und daß diese Integrationslasten in der deutschen Bevölkerung unterschiedlich verteilt sind, je danach, ob der Ausländer als Wettbewerber um Bildung, Arbeitsplatz und Wohnung erscheint oder nicht. Aber der Minister sagt nichts vom Recht der Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Europäischen Union. Er sagt nicht, daß keine europäische Regierung mehr über die Zahl der Ausländer im eigenen Land entscheiden kann. Er sagt nichts darüber, daß wir inzwischen einen negativen Wanderungssaldo haben und daß sich die Zunahme der ausländischen Wohnbevölkerung aus der Familienzusammenführung und aus den Geburten im Inland ergibt. Er sagt nicht, daß diese „Gäste“ dieselben Steuern – einschließlich des Solitaritätszuschlages! – und Sozialabgaben zahlen wie wir auch, und daß ein wesentlicher Teil von ihnen hier geboren wurde – nämlich über 40% aller Ausländer unter 25 Jahren und gut 25% aller überhaupt in Deutschland lebenden Ausländer. Wirtschaftswachstum und Wohlstand könnten nicht erhalten werden, wenn diese „Gäste“ Deutschland verlassen würden. Sie investieren hier ihre Lebensarbeitskraft. Darum wollen sie als Bürger akzeptiert werden und nicht als bewegliche Teile irgendwelcher Maschinen.
Es ist richtig, daß wir mehr Flüchtlinge aufgenommen haben als die anderen europäischen Länder zusammengenommen. Das Asylrecht war unsere Freiheitsstatue im sicheren Hafen unserer Verfassung. Inzwischen haben wir es bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Wer töricht genug ist, sich an den Grenzen als politischer Flüchtling zu erkennen zu geben, wird über die Grenze zurückgeschickt, mag er politisch verfolgt sein oder nicht, gleichviel, es interessiert uns nicht. Da muß man schon mit dem Flugzeug kommen oder mit einem Touristenvisum. In den letzten Jahren haben sich etwa 50 Menschen in Abschiebungshaft das Leben genommen, ohne daß das die Öffentlichkeit wesentlich berührt hätte. Die Bundesregierung hat zwar gegenüber den UN versichert, sie prüfe sorgfältig jeden Einzelfall gemeinsam mit den Ländern und nehme das sehr ernst. Anfang dieses Jahres hat sie auf eine parlamentarische Anfrage im Bundestag hingegen erklärt, und zwar durch den Staatsminister Vollmer von den „Grünen“, das gehe sie nichts an. Es sei Sache der Länder und sie wissen nicht, wie viele es gewesen seien.
Zur Verfassungswirklichkeit der BRD gehört, daß vor allem die moderne Informationstechnik das Verhältnis vom Staat zum Bürger so tiefgreifend verändert hat, daß das Bundesverfassungsgericht sich – anläßlich der Volkszählung – veranlaßt sah, aus dem Grundrecht der Menschenwürde ein verfassungsmäßiges Recht auf informationelle Selbstbestimmung herzuleiten. In meiner Zeit als Innenminister bin ich zum ersten Mal mit Dossiers des Verfassungsschutzes über einzelne Personen bekannt geworden. Sie waren nicht rechtswidrig. Der Verfassungsschutz ist das legitime Kind des Kalten Krieges. Ich war erstaunt, was da alles vorhanden war. Die Unterlagen reichten teilweise bis in die Studentenzeit einzelner Personen, ja bis in ihre Schulzeit zurück. Woher hatte man das? Wieso hat man etwas über Kinder aufgehoben? Ich habe erst 1990, also 15 Jahre später, Vorschriften über einen Minderjährigenschutz durchsetzen und gesetzlich einführen können.
Zusammen mit den Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung bot sich mir eine neue Welt. Während der Staat sonst in einem Wust von Akten untergegangen wäre wie einst das Reichsgericht zu Wetzlar, ermöglicht es die neue Technik, das gesamte staatliche Wissen über eine Person jederzeit verfügbar zu machen, zu nutzen, das Wissen ebenso wie die Irrtümer. Es gibt höchst bemerkenswerte und verdienstvolle Datensammlungen. Moderne Kriminalitätsbekämpfung ist ohne Datenverarbeitung nicht möglich. Aber man speichert nicht nur Tatverdächtige, sondern in geeigneten Fällen auch sogenannte Kontakt- und Begleitpersonen, Zeugen, Hinweisgeber und potentielle Opfer. Der Polizeipräsident in München hatte zeitweise mehr Leute in seiner örtlichen Datei als Straftäter gespeichert, als München Einwohner hat. Im SIS sind ca. 490.000 Personen und 3,8 Mio. Sachen gespeichert, ein System mit Zugriff auf ca. 40.000 Terminals. Das ist legal.
Wir haben heftige Auseinandersetzungen um den maschinenlesbaren Personalausweis gehabt. Wir haben sichergestellt, daß er nichts enthält, was nicht auch augenlesbar ist. Soll der
Bürger sein eigenes polizeiliches Führungszeugnis präsentieren müssen ohne zu wissen, was er offenbart? Nun wird seit Monaten an der sogenannten Asylcard gebastelt, die als Ausweis für Asylbewerber dienen soll und auf deren Chip alles – einschließlich der Fingerabdrücke – gespeichert werden soll, was der Staat über ihn weiß und über ihn entschieden hat. Nicht so schlimm, trifft ja nur Fremde. Aber wenn es funktioniert, dann wäre es ein schönes Vorbild für Bezieher von Sozialleistungen. Technisch fabelhaft und gibt es in diesem Bereich etwa nicht genug Betrug?
Wir haben heftige Auseinandersetzungen um das sogenannte Vermummungsverbot gehabt. In meiner Verfassung steht nicht, daß das Demonstrationsrecht davon abhängt, daß man dabei photographiert, erkannt und registriert werden kann. Vermummungen, gleichzeitig Provokation und Signal der Angst besonders junger Leute vor Verdatung, vor Speicherung auf unbestimmte Zeit und vor Beeinträchtigung ihrer späteren beruflichen Chancen. Die Vermummung wurde schließlich ein Straftatbestand. Heute amüsiert es mich fast, daß ich nicht einen Fall kenne, in dem jemand tatsächlich nur wegen der Vermummung bestraft worden ist. Im Fernsehen sehe ich inzwischen mehr vermummte Polizeibeamte als vermummte Demonstranten. Die Öffentlichkeit war mit der Strafandrohung zufrieden. Sie hat sich auch nicht über den merkwürdigen Tatbestand erheitert, der unter dem Begriff „passive Bewaffnung“ Eingang in das Strafgesetzbuch gefunden hat. Die wasserfeste Jacke als Waffe – das ist ein hübscher Einfall.
Besondere Erfahrungen haben wir mit dem Fernmeldegeheimnis des Art. 10 GG gemacht. Dabei gilt meine Beschwerde nicht mehr dem sogenannten G 10-Gesetz, nachdem schließlich durchgesetzt wurde, daß der Innenminister Telefongespräche nur überwachen kann, wenn eine unabhängige Kommission zuvor der Maßnahme zugestimmt hat, und nachdem schließlich auch die merkwürdige Bestimmung gefallen ist, daß der Betroffene nicht mehr benachrichtigt werden mußte, wenn das fünf Jahre lang nicht möglich war. Dafür haben die Telefonkontrollen mit richterlicher Zustimmung einen bemerkenswerten Umfang angenommen. Die Telefonkontrolle ist inzwischen bei etwa 80 Straftaten zulässig, für 1996 hat die Bundesregierung 6428 Anordnungen über 9002 Anschlüsse angegeben. Man kann demnach davon ausgehen, daß jährlich etwa 500.000 Personen als Gesprächsteilnehmer in eine Telefonkontrolle geraten, ohne es zu wissen oder später darüber benachrichtigt zu werden.
Erst nach der Wiedervereinigung wurde bekannt, daß man heute Telefongespräche über weite Entfernungen mithören kann, die über Richtfunk abgewickelt werden. Das ist die Mehrzahl. Computer und Wortbanken ermöglichen es, aus dem ungeheuren Wortsalat Gespräche herauszufiltern. Für den BND wurde das gesetzlich bei allen Auslandsgesprächen ohne besonderen Anlaß zugelassen. Unsere Bemühungen, dazu ein Berichtswesen einzuführen, das etwa dem amerikanischen Wireless Tape Report entspricht, sind bisher fehlgeschlagen, auch bei Einführung der Wanze.
In diesem Zusammenhang muß ich schließlich die Einführung des sogenannten Großen Lauschangriffs erwähnen, also den Einbruch in eine Wohnung und ihre Verwanzung, um heimlich mithören und aufnehmen zu können, was in ihr gesprochen wird. Es ist ein brutaler Eingriff in die Privatsphäre, die bewußte Ausnutzung der Arglosigkeit des Belauschten. Bei der vom Bundestag beschlossenen Regelung halte ich es für verfassungswidrig, daß sich der Lauschangriff auch gegen Personen richten kann, die nicht einmal verdächtig sind, eine Straftat begangen zu haben, daß auch das Vier-Augen-Gespräch eines Ehepaares in seiner eigenen Wohnung belauscht werden darf und schließlich, daß die Benachrichtigung des Betroffenen auf unabsehbare Zeit verschoben werden kann, und zwar auch aus Gründen, die mit den Ermittlungen im konkreten Fall nichts zu tun haben. Diese Darstellung könnte ich mit vielen Beispielen auch aus dem privaten Bereich der Wirtschaft, des Arbeitslebens oder anderer Bereiche ergänzen.
Ist Datenschutz Täterschutz? Wenn er das wäre, dann würden nicht nur Strafprozeßordnung und Polizeigesetze, sondern weite Teile der Rechtsordnung zu störenden Erblasten liberalistischer Bürgerlichkeit, zu klassischen Bremsklötzen am Siegeswagen des staatlichen Strafanspruchs. Der Datenschutz, also das Recht auf Privatheit, will den Staat nicht dumm machen, sondern nur verhindern, daß er allwissend wird. Ein Staat, der nichts vergißt, was er einmal erfahren hat, gleicht dem Räderwerk einer seelenlosen Maschine. Er wird unmenschlich, allwissend, gottgleich.
Unbestreitbar haben die Überwachungsmöglichkeiten des Staates zu Lasten der Privatheit und der klassischen bürgerlichen Freiheitsrechte drastisch zugenommen. Motor dieser Entwicklungen war nicht die Lust zur Unterdrückung, sondern der Wunsch nach Perfektion, Effektivität und Sicherheit. Die wohlmeinende Entmündigung des Bürgers ist die große Versuchung aller Regierenden. Begründet wurde die Entwicklung stets mit dem Argument, es handele sich um die Abwehr einer dringenden, gegenwärtigen und anders nicht zu behebenden Gefahr. Der Staat war nicht so sehr auf dem Wege zum Bürger, sondern auf der Suche nach einem Gegner: Kommunisten, Terroristen, Kernkraftgegner, Sitzblockierer, Friedensfreunde, Volkszählungsgegner, reisende Gewalttäter, militante Tierschützer, Dealer und schließlich als geniales Passepartout die „Organisierte Kriminalität“. Natürlich gibt es sie alle und natürlich hat der Staat die Verpflichtung, den Bürger vor Gewalt und Straftaten zu bewahren, indem er die Rechtsordnung durchsetzt. Das ist wirklich nicht neu, sondern gilt seit dem Mainzer Ewigen Landfrieden von 1495.
Der Bundesminister des Innern, Schily hat gefragt, wenn es eine Kontinuität der Außenpolitik gebe, warum es denn keine Kontinuität der Innenpolitik geben könne? Die Frage ist schon deswegen bemerkenswert, weil man ja eine neue Regierung normalerweise nicht deswegen wählt, damit sie die Politik der alten Regierung fortsetzt. Die Antwort ist einfach: weil es in den letzten Jahren in der Innenpolitik eine Politik der Aufrüstung ohnegleichen gegeben hat. Wir haben in den letzten drei Legislaturperioden in Bund und Ländern zur Abwehr der angeblich steigenden Bedrohung durch „organisierte Kriminalität“ die Straf- und Strafverfahrensgesetze drastisch verändert. Ich sage deswegen „angeblich steigende Bedrohung“, weil sich aus den internen Lageberichten „Organisierte Kriminalität“ des Bundeskriminalamtes eine solche steigende Bedrohung nicht erkennen läßt und wir eine ganz andere Kriminalitätsproblematik haben, die sich mit gesetzgeberischen Heldentaten nicht bewältigen läßt.

Als Beispiele nenne ich eine ganze gesetzgeberische Heldentatenliste, der Innenpolitischen Aufrüstung, nämlich

– die ständige Verschärfung zahlreicher Strafdrohungen,

– die Ausdehnung der Untersuchungshaft, bei der die klassischen Voraussetzungen Verdunklungs- oder Fluchtgefahr zurückgedrängt werden,

– die polizeirechtliche Vorbeugehaft bis zu 14 Tage für Taten, die man nicht begangen hat, sondern von denen die Polizei fürchtet, daß man sie begehen könnte,

– Kontrollstellen, Rasterfahndung und „beobachtende Fahndung“,

– eine DNA-Datei,

– ein besonderes Ausländerzentralregister und die erkennungsdienstliche Behandlung aller Flüchtlinge und Asylbewerber,

– die Ausdehnung der sogenannten Kronzeugenregelung trotz ihrer Erfolglosigkeit,

– der erweiterte Verfall, also die Einziehung von Gegenständen, auch wenn man nicht genau weiß, ob sie tatsächlich für eine Straftat verwendet wurden,

– die sogenannten Vermögensstrafe, also die völlige Expropriierung des Täters, so daß die Höhe der Strafe nicht mehr von der persönlichen Schuld, sondern vom Umfang des Vermögens des Täters abhängt,

– die Verpflichtung, Geldbeträge ab 30.000,– DM an der Grenze zu deklarieren bei Androhung ihrer Einziehung,

– die ständige Ausdehnung der Telefonkontrolle, in der wir unter den Demokratien inzwischen mengenmäßig Weltmeister sind,

– die Beteiligung des BND an Telefonüberwachungen, für die ein konkreter Verdacht nicht erforderlich ist und für die weder eine richterliche, noch eine parlamentarische Kontrolle vorgesehen wurde,

– das elektronische Belauschen innerhalb und außerhalb von Wohnungen schon bei einfachem Tatverdacht und ohne zwingende Benachrichtigung der belauschten Personen, so daß eine gerichtliche Nachprüfung der Rechtmäßigkeit nicht gesichert ist,

– die strafrechtliche Immunität der Beamten von Europol für Straftaten, die sie im Zusammenhang oder auch nur bei Gelegenheit ihrer dienstlichen Aufgaben begehen. Sie dürfen praktisch nur dann strafrechtlich verfolgt werden, wenn der Direktor von Europol seine Zustimmung gibt. Wir haben übrigens bei dieser Gelegenheit festgestellt, daß alle europäischen Beamten, selbst die des Europäischen Patentamtes in München, diplomatische Immunität genießen,

– die Ausschließung der Anrufung des Europäischen Gerichtshofes bei Datenmißbrauch durch Europol,

– schließlich die sogenannte Schleierfahndung, also das Recht der Polizei, Personen ohne polizeilichen Anlaß anzuhalten und zu identifizieren, was zur Mitnahme und Festhaltung auf der Wache führen kann – jetzt z.B. neu eingeführt für das gesamte Gebiet Sachsens. Das gab es zuletzt im preußischen Polizeirecht von 1850, aber nur nach Verhängung des Belagerungszustandes.

Eine Erfolgsbilanz aller dieser Maßnahmen wurde bisher nicht vorgelegt. Eine spezielle Untersuchung haben die Länder mit der bemerkenswerten Begründung abgelehnt, daß sie „unerwünschte rechtspolitische Folgen“ haben könne. Gegen diese innenpolitische Aufrüstung hat es kaum öffentlichen Widerstand gegeben. Konservative und freidemokratische, neuerdings auch sozialdemokratische Politiker versichern übereinstimmend, es gehe doch nur um den Schutz der Bürger, es treffe ihn also nicht oder höchstens aus Versehen, sozusagen „kollateral“. Man ziele auf den „Ganoven“ und seine Wohnung, auf den organisierten oder sonstigen Kriminellen, also nicht auf den guten Bürger, sondern auf die anderen. „Ich habe nichts zu verbergen“, heißt die Formel des guten Bürgers mit dem guten Gewissen, und „Der Staat sind wir doch schließlich selbst“. Sollten wir Demokraten uns etwa vor uns selbst fürchten?
Wer staatliche Eingriffsrechte nur zu Lasten der anderen verstärken will, der möchte politische Zechprellerei begehen. Natürlich muß der Bürger für die aufgezählten Errungenschaften selbst zahlen, wenn nicht mit dem Verlust der persönlichen, dann zumindest mit dem Verlust an gesellschaftlicher Freiheit.
Es beunruhigt mich, daß die notwendigen Grenzen legitimer staatlicher Machtausübung mit leichter Hand verwischt worden sind, und immer zu Lasten der freiheitlichen und humanitären Substanz unserer Verfassung. Man kann die Werte einer Gesellschaft nicht dadurch verteidigen, daß man sie immer weiter einschränkt. Wir haben uns in den letzten Jahren vom Ideal der Bürgergesellschaft immer weiter entfernt. Es ist notwendig sich diesen Prozeß bewußt zu machen, weil er sonst fortgesetzt werden wird. Wir leben in keinem Polizeistaat. Aber die freiheitliche Substanz unserer Verfassung ist ohne den Nachweis einer zwingenden Notwendigkeit spürbar verringert worden. Man muß leider auch festhalten, daß es nach der Wiedervereinigung und nach bis dahin 40 Jahren gelebter Verfassung nicht gelungen ist, die veränderten Hoffnungen, Erwartungen und unsere eigenen Erfahrungen in das bewährte System des Grundgesetzes aufzunehmen. Die nach der Wiedervereinigung eingeleitete Verfassungsreform ist im
wesentlichen gescheitert.

Ich möchte abschließend 6 Thesen aufstellen:

1. Wir sollten keine weiteren Einschränkungen unserer persönlichen Freiheit und unserer verfassungsmäßigen Rechte mehr akzeptieren. Das sollte auch für einen Europäischen Grundrechtskatalog gelten.

2. In einen modernen Grundrechtskatalog gehören nicht nur die klassischen Freiheitsrechte, sondern auch ein moderner Schutz der Privatheit und als Staatsziele die sozialen Grundwerte, die aus formalen Freiheitsrechten überhaupt erst erlebbare Menschenwürde machen. Ich fordere kein Recht auf Arbeit, aber die verfassungsmäßige Pflicht des Staates, sich um bestimmte soziale Grundlagen zu kümmern, deren Sicherung durch den Generationenvertrag in wenigen Jahren nicht mehr selbstverständlich sein wird. Soziale Gerechtigkeit wird sich auch in Zukunft nicht sozusagen im Selbstlauf als zwangsläufige Folge erfolgreicher Wirtschaftspolitik einstellen. Diesen Glauben werden auch die Neoliberalen aufgeben müssen. Soziale Gerechtigkeit muß staatliche Aufgabe bleiben.

3. Wir müssen die Zuschauerdemokratie überwinden, der Bürger muß mehr Verantwortung für sich und die Gesellschaft übernehmen. Der Bürger kann nicht zu politischer Tätigkeit gezwungen werden, aber er sollte auch nicht gezwungen werden, Berufspolitiker zu werden, wenn er an politischen Entscheidungen mitwirken will. Darum sollten Formen der direkten Demokratie auch in das Grundgesetz aufgenommen werden.

4. Zu mehr Eigenverantwortung und Mitwirkung der Bürger gehört das Recht auf Information. Dazu gehört auch die steuerliche Erleichterung für Stiftungen und für Arbeiten in gemeinnützigen Einrichtungen.

5. Wir müssen mehr für die Integration der unter uns lebenden Ausländer tun. Das ist nicht nur eine Frage der Staatsbürgerschaft und des Wahlrechts oder nur des Gesetzgebers, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Für unbescholtene Staatsangehörige von Ländern der Europäischen Union mit dauerndem Aufenthaltsrecht sollte grundsätzlich auch die doppelte Staatsangehörigkeit hingenommen werden.

6. Wir sollten fremdenfeindlichen und extremistischen Straftaten und Aktionen überall entgegentreten, wo immer wir mit ihnen konfrontiert werden. Wir brauchen weder diese Brandstifter noch die Biedermänner, die ihnen in Wort und Schrift scheinbare Rechtfertigungen liefern. Wir müssen allerdings erheblich mehr dafür tun, die sozialen Ursachen dieser Vorgänge auszuräumen. Dafür bedarf es auch einer nachhaltigen Reform in den Bereichen Bildung und Ausbildung.

Von der Verwirklichung dieser Ziele sind wir noch ziemlich weit entfernt. Aber das Ziel muß die praktische Politik bestimmen. Die zivile Bürgergesellschaft ist das Leitbild unserer Verfassung. Sie muß das Leitbild der Politik werden.

Dr. Burkhard Hirsch

*Der gekürzt dokumentierte Beitrag des HU-Beiratsmitgliedes Dr. Burkhard Hirsch steht stellvertretend für zahlreiche HU-Veranstaltungen zum „runden“ Verfassungstag („40“ + „10“). Die Rede wurde im Rahmen einer Vortragsreihe des HU Ortsverbandes München (in Zusammenarbeit mit der VHS München und der Initiative Bayerischer StrafverteidigerInnen) zur „Woche der Bürgergesellschaft“ vorgetragen.

nach oben