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Zwischen den Stühlen – Dankesrede von Günter Grass

Mitteilungen16206/1998Seite 44-45

Mitteilungen Nr. 162, S. 44-45

Als Fritz Bauer im Sommer 1968 starb, zählte ich 40 Jahre. Aus damaliger Sicht verließ uns ein großer alter Mann, heute, da ich ein halbes Jahrzehnt mehr Jahre zähle als der mir dazumal beispielhafte Streiter zwischen den Polen Recht und Gerechtigkeit, Staatsgewalt und Widerstand, Gedächtnis und Vergessen, ist der Altersunterschied wie aufgehoben und sind nunmehr Erfahrungen, gesammelt im Umgang mit der in Deutschland nach wie vor fragilen Demokratie, vergleichbarer geworden. Waren es damals die Notstandsgesetze, denen sein differenziert kritisches Urteil widerfuhr, so sind es heute die Aufhebung des Rechts auf Asyl und kürzlich das Inkrafttreten des Großen Lauschangriffs, die mir anhaltenden Widerspruch abnötigen.

Gewiß, Fritz Bauer sprach und stritt mit anderem Erfahrungshintergrund – Stationen seines Lebens hießen Weimarer Republik, drei Jahre KZ-Haft und Emigration – er bezog sein Rechtsbewußtsein aus langjähriger Praxis als Jurist und nicht zuletzt aus seiner Tätigkeit als hessischer Generalstaatsanwalt, während mir, dem Hitlerjungen von einst, nur die harten Nachkriegslektionen hilfreich werden konnten, zudem gab mir allenfalls der unsichere Standort des Schriftstellers einigen Rückhalt: die Position zwischen den Stühlen. Dennoch ließe sich über die Zeit hinweg immerhin etwas Gemeinsames konstruieren: als Jurist war Fritz Bauer in den 50er und auch noch in den 60er Jahren zwar umgeben von Freunden und dennoch ein Einzelgänger, doch nicht etwa nur ein Solitär aus eigenem Willen, vielmehr jemand, dessen Berufsfeld weitgehend von Juristen besetzt war, deren Karrieren in der Zeit des Nationalsozialismus prägend begonnen hatten und deren Praxis in nicht wenigen Fällen Schrecken verbreitet hatte. Die fließenden Übergänge von einem System zum anderen – es gab keine Stunde Null – und das politische Kalkül der Adenauer-Zeit waren solche äußerlich ungebrochenen Lebensläufen dienlich: nicht nur als Richter und Staatsanwälte, auch als Chefärzte und Universitätsprofessoren oder gar in der Doppelfunktion als Politiker – so der ehemalige Marinerichter und spätere Ministerpräsident Filbinger – erfreuten sie sich allgemeiner Duldung. Lange dauerte es, bis endlich das braune Unterfutter der Bundesrepublik Deutschland abgetragen war.

Ich nehme an, daß sich Fritz Bauer dieser Vereinzelung bewußt gewesen ist und sich zugleich als radikaler Demokrat mehr Mitstreiter gewünscht hat. Nicht das es ihm an einem Freundeskreis gemangelt hätte, wohl aber – und erklärlicherweise – an Unterstützung seiner Bemühungen durch Berufskollegen. Als Vereinzelter hat er unter dem Titel „Was ist Landesverrat“ zur Spiegel-Affäre Stellung bezogen. Ohne ihn und sein profundes Engagement wäre es nicht zum Auschwitz-Prozeß und den nachfolgenden Prozessen gekommen. Vereinzelt und vergeblich kämpfte er für einen modernen Strafvollzug, der auf die traditionelle Vergeltungsstrafe verzichtet. Deshalb wurde er mir und vielen meiner Generation beispielhaft. Deshalb wurde ein Preis nach ihm benannt, den zu empfangen ich heute die Ehre habe. Doch diese Einzigartigkeit hat ihre Schattenseite. Sie ergibt sich aus einer schweigenden Mehrheit. Sie gewinnt an Größe, indem sich andere, sogar insgeheim Gleichgesonnene, aus diesen oder jenen Gründen bedeckt halten. Sie überragt als einsame, vereinsamte Leistung in einer Demokratie, der es chronisch an streitbaren Demokraten mangelt.

Und schon bin ich im Verlauf meiner Dankesworte bei mir oder genauer, bei der Begründung der mich benennenden Preisvergabe angelangt. Sie zählt lobend auf, gegen was ich Einspruch erhoben, aus welchem Anlaß ich mich zwischen die Stühle gesetzt und wann ich zuletzt für jedermann unübersehbare Mißstände, zum Beispiel die dem Rechtsstaat spottende Abschiebehaft, barbarisch genannt habe. Das alles reiht sich als Einzelleistung. Verdienste einer Einmann-Fraktion sollen gepriesen werden. Doch wäre es nicht besser um die bundesdeutsche Gesellschaft bestellt, wenn es eine Vielzahl von Schriftstellern, oder sagen wir: Intellektuellen, gäbe, die bereit wären, unüberhörbar gegen die fortgesetzten Waffenlieferungen in die Türkei Einspruch zu erheben und die sich entschlössen, mit der mehrmals beschädigten Verfassung in der Hand laut anklagend zwischen den Stühlen zu sitzen, also die regierungsamtlichen Vorbeter des Rechtsradikalismus von Stoiber bis Kanther beim Namen zu nennen?

In den vergangenen Jahren, als die Einheit Deutschlands zu einer neuen, diesmal sozialen Spaltung mißriet, kam es mir oft so vor, als sei diese, eine lebendige Demokratie stimulierende Dienstleistung, als Daueraufgabe einzig drei älteren Herren namens Jens, Habermaß, Grass, aufgelastet. Drei austauschbare Namen, mal in dieser, mal in jener Reihenfolge plaziert. Die letzten Mohikaner. Drei bejahrte Musketiere. Also drei Dinosaurier, die einfach nicht anders können. Drei „Ewiggestrige“ stand zu lesen.

Natürlich weiß ich, daß dem Wort Engagement ein altmodisches, an Mottenkugeln erinnerndes Rüchlein anhängt. Mir ist geläufig, bis zu welchem Kältegrad cool zu sein heute die Mode vorschreibt. Zynisches Verhalten gilt nicht nur als Talkshow-Gequassel im allabendlichen SAT1-Programm als telegen. Nur nicht Farbe bekennen, heißt die Devise. Und von allwissendem Lächeln gekräuseltes Schweigen liegt im Trend. Mag die Zahl der Arbeitslosen mit den Börsengewinnen im Wettstreit liegen, wir verhalten uns distanziert.

Doch frage ich mich, wie soll, bei solch beflissener Zurückhaltung, der amtierenden oder einer wünschenswert neuen Regierung ein wirksames Verbot von Waffenlieferungen in die Türkei und in andere Krisengebiete abgenötigt werden? Wo bleibt der gesellschaftliche Druck, der stark genug wäre, endlich einer modernen und die hier geborenen Ausländer einbeziehenden Staatsbürgerschaft zur Gesetzeskraft zu verhelfen? Wer hilft mit, den nicht nur mich, nein, uns alle beschämenden Akt legalisierter Barbarei, die Abschiebelager aus der Welt zu schaffen?

Ich weiß keine Antworten auf diese Fragen, es sei denn, die heute noch junge Generation fände alsbald zu ihrem Ausdruck engagierter Bürgerpflicht.

Lange ist es her. In jenen Jahren, als Fritz Bauer als Jurist und Demokrat für mich beispielhaft tätig war, genau datiert, im Jahr 1965, als ich mich zum ersten Mal, unterstützt nur von wenigen Studenten, unter dem Walt-Whitman-Zitat und Motto „Dich singe ich, Demokratie“ in den Wahlkampf mischte, wurde mir, nach abermals verlorener Bundestagswahl, von der Darmstädter Akademie der Büchner-Preis verliehen. Also schrieb ich, wie es sich gehört, meine Dankesrede. Ich nahm den Büchner des „Hessischen Landboten“, aber auch den Büchner des „Danton“ und des „Woyzeck“ beim Wort. Auch damals herrschte beklommenes Schweigen im Lande. Allenfalls verstand man sich zu Protestresolutionen, unter denen die bekannten Namen standen. Meine Entscheidung, mich tätig einzumischen und vom Manuskript hunderte Kilometer weit Abstand zu nehmen, wurde beschimpft und belobigt. Doch von beiden Seiten her war man bemüht – sei es mit dem Daumen nach unten sei es mit dem Daumen nach oben – das „Einzelgängerische“ meiner Tat zu verhöhnen oder herauszustreichen. Sogar den miltitärischen Titel „Einzelkämpfer“ bekam ich verliehen. Deshalb stand meine Büchner-Preisrede unter dem Titel: „Über das Selbstverständliche“. Denn alles, was ich zuvor und seitdem außerhalb meiner Werkstatt und abseits meiner notorisch egomanischen Schreibübungen und zeichnerischen Verstiegenheiten getan, womöglich geleistet habe, geschah aus mir selbstverständlichem Bürgersinn. Und sicher handelte ich auch aus Gewißheit heraus, daß eine Demokratie nur dann Bestand hat, wenn sie von einer Vielzahl von Bürgern gelebt, erneuert und gegen Anfechtungen verteidigt wird. Diese Lektion hat uns allen der Untergang der Weimarer Republik erteilt: zu viele Feinde von rechts und links haben ihr, angesichts zu weniger Demokraten das Ende bereitet. Es sollte selbstverständlich sein, daraus eine Lehre zu ziehen. Und wenn das mir Selbstverständliche heute geehrt wird, bitte ich Sie, meine relativierenden Fußnoten zu diesem Vorgang dennoch als Dank zu verstehen.

Mein Dank gilt der Hansestadt Lübeck und ihrem Bürgermeister, der Humanistischen Union und sie gilt meinem Lobpreiser, Cem Özdemir, dem ich zum Herbst dieses Jahres ein Direktmandat im Deutschen Bundestag wünsche.

Günter Grass

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