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"Helmut Kramer nachzu­spüren ist wie ein Aufklä­rungs­roman über die bundes­deut­sche Justiz"

09. Oktober 2010
Datum: Samstag, 09. Oktober 2010

Laudatio von Michael Plöse für Helmut Kramer anlässlich der Verleihung des Fritz-Bauer-Preises am 9. Oktober 2010

Hatten Sie schon mal einen Anruf von Helmut Kramer? Kennen Sie das, wenn sich der Anrufer mit zurückhaltender Stimme zunächst vorsichtig erkundigt, ob er kurz ein paar Minuten Ihrer Zeit – Ihrer kostbaren Zeit – in Anspruch nehmen könne? Von so manchem Callcenter-Agenten würde man sich so viel ausgesuchte, ehrliche Höflichkeit erhoffen. Doch wenn Herr Kramer anruft, will er Sie nicht über die neuesten Tarifoptionen Ihres Telefonvertrages aufklären, sondern bringt schnell und eloquent einen rechts- oder justizpolitischen Knaller nach dem anderen zur Sprache. Ach, sagt er dann, das habe ich Ihnen wohl noch gar nicht erzählt. Das ist dann der Zeitpunkt, an dem sie sich besser setzen und einen Stift zur Hand nehmen sollten. Ich habe in der Vergangenheit leider viel zu selten einen Stift zur Hand genommen, obwohl ich einige dieser wertvollen Anrufe erhalten habe.

Als er mich Anfang August anrief und mir die Ehre antrug, hier bei Ihnen heute anlässlich der Verleihung des Fritz-Bauer-Preises durch die Humanistische Union die Laudatio für ihn zu halten, stellte er mich dadurch auch vor manche Peinlichkeiten. Nicht nur, weil ich vieles von dem, was sich bei solcher Gelegenheit zu sagen gehört, eigentlich schon hätte wissen müssen, nun aber noch mal nachlesen musste. Auch verrate ich Ihnen nicht, was er über die gelegentliche Metamorphose von Laudatoren zu späteren Fritz-Bauer-Preisträgern erwähnt hat. Es sollte wohl darum gehen, ein paar frische Ideen in den guten ehrwürdigen Kreis einzubringen. In diesem Sinne also eine Übergabe des Staffelstabs an die nächste Generation. Auch das ist offensichtlich eine weitere Kampagne von Helmut Kramer. Weiterhin solle in dieser Laudatio nicht so viel über ihn gesagt werden, das sei schon bei anderer Gelegenheit genug getan worden. Ich soll das Forum lieber nutzen, um etwas über die Jurist_innenausbildung zu erzählen. Dazu sei zwar auch schon viel gesagt worden, aber offensichtlich noch nicht genug. „Naja, Sie wissen ja, wie das ist mit dem Nachwuchs“, setzt er dann an, „man kann sich ja gar nicht vorstellen heutzutage – wo sind sie überhaupt, ich höre so viele Kinderstimmen im Hintergrund. Habe ich Sie etwa im Ferienlager gestört?“ Das hatte er. Und mit seiner Nachfrage wurde ich mir eines Umstands bewusst, der vielleicht nur linguistischer Natur ist, aber doch nicht trivial.

Denn als Herr Kramer mich anrief und mir von Fritz Bauer erzählte, war ich gerade damit beschäftigt, in einem Ferienlager im osterzgebirgischen Stammwähler_innenland der NPD, in der Funktion eines Lagerleiters sogenannte Transportlisten zu erstellen. Ist das nun die Gnade der späten Geburt, wie sie der vier Tage nach Kramer geborene Helmut Kohl für sich in Anspruch nahm, dass ich mir um solche wenigen, vielleicht nur sprachlichen Parallelitäten bisher keine Gedanken gemacht habe? Sicherlich, das Wenigste von dem, was wir tun, mag verdächtig sein, den Handlungen jener Schreibtischtäter auch nur äußerlich zu entsprechen, welche die an und von den Massen begangenen Verbrechen des Nationalsozialismus erst ermöglicht haben – wie Auschwitz, die Euthanasie, Zwangsarbeit, aber vorher auch schon die Rechtlosstellung von Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten, Homosexuellen, Sinti und Roma. Es gibt Menschen, die sich in Kenntnis solcher Parallelitäten der Gefahr erst gar nicht aussetzen, in entsprechende Positionen zu gelangen. Andere entwickeln eine solche Sensibilität erst im Amt, das ihnen Macht verleiht; Macht über andere zu entscheiden. Helmut Kramer wurde aktiv aus und in Verantwortung seines Amtes als Richter.

Dem Wunsch des Geehrten folgend, werde ich nun also über Jurist_innenausbildung sprechen und zwar darüber, warum die Humanistische Union, indem sie Dr. Helmut Kramer mit dem Fritz-Bauer-Preis auszeichnet, einen wichtigen Beitrag zur juristischen Ausbildung leistet.

Die Humanistische Union hat nach Bauers Tod – Frau Will hat es gerade erwähnt – den Fritz-Bauer-Preis gestiftet für Verdienste – besser: Taten – um die Humanisierung des Rechts auf dem Gebiet der Verteidigung der Grundrechte, der Erneuerung des Strafrechts, Strafprozessrechts und Strafvollzugsrechts. Eine vorherige Laudatorin, Charlotte Mark, hat es anlässlich der Verleihung des Fritz-Bauer-Preises 1976 – also weit vor mir, ein paar Jahre – an Werner Hill folgendermaßen ausgeführt: „Damit zeichnet die Humanistische Union Frauen und Männer aus, die Vernunft und lebendigen Herzschlag in sich vereinen.“ Wie Fritz Bauer selbst die Voraussetzungen für humanes Handeln in einem letztlich öffentlichen Vortrag charakterisierte: „Sich einsetzen für die Humanisierung und Liberalisierung des Strafrechts, des Strafvollzugs und die Demokratisierung des Rechtswesens.“ Damit – so möchte man meinen – die Preise allgemein diese Tendenz haben, will die Humanistische Union vor allem Selbstähnlichkeiten in ihren Preisträgerinnen und Preisträgern suchen.

Ich greife zu einem noch älteren Menschen, der der Arbeit von Herrn Kramer oft entgegengehalten wurde: Immanuel Kant, auf den sich viele Juristen bezogen haben, wenn sie sich auf Treue und Pflichterfüllung beriefen und, auf preußische Tugenden pochend, von ihrem Unrecht keine Kenntnis nehmen wollten. Immanuel Kant schreibt also über Vorbilder und was sie uns sagen können: „Man könnte (…) der Sittlichkeit nicht übler raten, als wenn man sie von Beispielen entlehnen wollte. Denn jedes Beispiel, was mir davon vorgestellt wird, muß selbst zuvor nach Prinzipien der Moralität beurteilt werden, ob es auch würdig sei, zum ursprünglichen Beispiel, das ist zum Muster zu dienen, (…).“ Weiter unten: „Nachahmung findet im Sittlichen gar nicht statt, und Beispiele dienen nur zur Aufmunterung, das ist sie setzen die Tunlichkeit dessen, was das Gesetz gebietet, außer Zweifel, sie machen das, was die praktische Regel allgemeiner ausdrückt, anschaulich, können aber niemals berechtigen, ihr wahres Original, das in der Vernunft liegt, bei Seite zu setzen und sich nach Beispielen zu richten.“ Ja „(s)elbst der Heilige des Evangelii muß“ in diesem Punkt „(…) mit unserm Ideal der sittlichen Vollkommenheit verglichen werden, ehe man ihn dafür erkennt.“ Nun ist die Humanistische Union nicht dafür bekannt, sich sozusagen mit heiligen Evangelii zu schmücken oder dort ihre Ideen zu suchen. Ich war gestern auch in Wustrau und soll hier auch die herzlichsten Grüße vom Forum Justizgeschichte, das noch zur Sprache kommen wird, übermitteln. Deren Teilnehmer_innen wären hier sicherlich geschlossen anwesend, wenn nicht gerade jetzt, durch ungünstige Planung in einer Parallelwelt mit vielen Terminen, dessen Tagung stattfinden würde. Wir haben gestern Abend den Fritz-Bauer-Film gesehen – ich glaube, Sie auch. Vielleicht erinnern Sie sich noch an das Beispiel, wie der sechseinhalbjährige Fritz Bauer zu seiner Mutter kommt und fragt: „Du Mutti, was ist Gott?“ Sie konnte es nicht beantworten und gab ihm nur einen Rat, den wir als Goldene Regel kennen: „Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu.“ Das erinnert auch an Kant. An Kants Überlegungen zum sittlichen Handeln, wonach wir unser Handeln nach Maximen ausrichten sollen, von denen wir wissen wollen – oder wollen können sollen -, dass auch diese zum allgemeinen Gesetz werden.

Schauen wir uns nun zunächst nach den Maximen um, denen Helmut Kramer in seinem Leben und seiner Arbeit gefolgt ist und fragen wir uns anschließend, welche Vorbildfunktion er – indem er sich treu blieb – nicht nur für die Humanistische Union, sondern auch für eine ernstgemeinte Juristinnenausbildung, inwiefern er als Maxime dienen kann. Dabei wollen wir uns also nicht mit den Details des Bologna-Burn-Outs, wie Modularisierung, Clusterbildung oder Creditpoints-System aufhalten, sondern nach den Leitbildern für die Jurist_innenausbildung Ausschau halten.

Das Arbeitsfeld, das Helmut Kramer bestellt hat, ist reich besät. Den Spuren eines Juristen zu folgen, die nicht die eigenen sein können und die auch nicht auf gemeinsamen Erfahrungen und Lebenswelten basieren, ist eine Übung in Gerechtigkeit. Es gilt, die Dinge in den Kontexten zu betrachten, in die sie hineingeworfen wurden, in denen sie stecken und sich verhalten; zu lernen, nicht gleich zu urteilen, sondern zu begreifen. Ich habe versucht, all die vielen Texte, die über Helmut Kramer geschrieben wurden und die ich Ihrer Aufmerksamkeit empfehle, weswegen ich sie nicht wiederhole – insbesondere von Ingo Müller, aber auch von Peter Derleder und Kollegen –, darauf hin wahrzunehmen, was wohl die wichtigen Grundsätze für Helmut Kramer sind.

Das Eine scheint mir zentral: das ist die Gleichheit vor dem Gesetz, und zwar vor allem als Rechtsanwendungsgleichheit. Hier sind ebenso sein Bemühen, ich nenne es jetzt mal provokativ „im Kampf gegen die Klassenjustiz“ – wie sie sich in Fangprämien bei Ladendiebstählen, im Familienrecht ausdrückt, aber auch bei der Hartz-IV-Gesetzgebung zu sehen; wie sein Einsatz für Bürgerrechtler_innen gemeint, die mit anderen Maßstäben gemessen werden als ihre westdeutschen Kolleginnen und Kollegen viele Jahre vorher. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an sein Engagement im Fall Daniela Dahn, die in Brandenburg Landesverfassungsrichterin werden sollte – das aber nicht wurde wegen einer Äußerung zum Waldheim-Prozess, die Herr Kramer nicht gebilligt, aber kontextualisiert hat, womit er seinem alten Förderer und späteren Kontrahenten Rudolf Wassermann das Wasser abgrub.

Das Zweite ist seine Motivation, Recht als Maß der Macht zu nehmen, nicht nur als Mittel, und vor allem, sich als Richter seiner Position bewusst zu sein, als Schutzgarant der Schwachen, und ein Verständnis für die eigenen Amtspflichten zu haben. Der Fall von Erna Wazinski ist hier zentral, für den sich wahrscheinlich sonst niemand so hätte einsetzen können. Aber auch alle anderen Tätigkeiten mit Kampagnencharakter, die Helmut Kramer angestoßen hat, wären wohl kaum möglich gewesen, wenn nicht Helmut Kramer, immerhin ein Richter am Oberlandesgericht, sie angestoßen hätte. Es gibt einen Abstand zwischen Querulantentum und berechtigtem Einsatz als professioneller direkter Aktion – wie sie sich viele Anwältinnen und Anwälte als Vorbild nehmen können. Diese professionelle direkte Aktion braucht einen Schirm, und das ist der Schirm des Amtes; den hat Herr Kramer zu nutzen gewusst.

Das dritte Element, das ich gesehen habe, ist Verantwortung und Versöhnung. Seine Gedenkstättenarbeit mit einem Schwerpunkt nicht nur auf dem Gedenken der Opfer, sondern auch auf dem Handeln der Täter; nicht nur kontextualisiert im Zeitpunkt der Tat, sondern im tatnachfolgenden, nämlich in der Bundesrepublik Deutschland begangenen Wirken – das zeichnet ihn aus und speziell seine Forderung nach entsprechenden Gedenkstätten, die es noch nicht zur Genüge gibt. Aber auch seine Versuche einen Kontakt mit der DDR herzustellen, die Hoffnung auf einen dritten Weg – die er heute für naiv erklärt – und auch seine Versöhnungsreise nach Polen mit seiner früheren Frau Helga Weigert; all das zeichnet sein Versöhnungs- und Verantwortungsbewusstsein genauso aus wie die Reisen in die Türkei, wo politische Strafjustiz unter einem Militärregime noch auf der Tagesordnung stand.

Der vierte Punkt ist die Frage danach, was ich zurückgeben muss? Wie hätte ich gehandelt? Das scheint mir zentral und das ist die Frage, die sich jede Juristin und jeder Jurist stellen muss, wenn sie sich mit dem Nationalsozialismus, aber auch mit der politischen Strafjustiz in der DDR oder der BRD auseinandersetzen. Diese Verantwortung brachte ihn vor die Tore von Mutlangen, machte ihn aber auch zum Verteidiger von Wehrdienstverweigerern – mit den bekannten Auswirkungen, auf die ich gleich noch eingehen werde.

Das alles ist lange Zeit nur als Einzelkämpfertum möglich gewesen, welches viele der Fritz-Bauer-Preisträgerinnen und Preisträger auszeichnet. Bis in sein 40. Lebensjahr hinein hat er allein darum gerungen, mehr vom Zufall angeleitet und unterstützt von seiner Familie. Das änderte sich erst durch Freunde wie den Richter Ulrich Vultejus, der als Ein-Mann-Amtsgericht über eine gewisse Unabhängigkeit verfügte und über einen Willen, nicht die Karriere zum Maßstab der Dinge zu machen. Diese Einstellung teilten Kramer und Vultejus, der nicht umsonst auch den Fritz-Bauer-Preis erhalten hat. Das Argument der Karriere war ein Nicht-Argument für Helmut Kramer und, wie dieser Preis, vor allem ein Mittel, sich für andere einzusetzen. Freunde also ermöglichten es ihm, seine Projekte zu verwirklichen, vor allem aber diejenigen, die ihm den Anstoß gaben, an Dingen Anstoß zu nehmen.

Jedoch hatte er erst mit Barbara Kramer nicht nur eine feministische Note erhalten, sondern auch den aktionistischen Drive, der Kampagnen in größerem Umfang überhaupt möglich macht, weil sie ihn über die ÖTV in Kreise einführte, die mehr als nur Freundschaften waren, nämlich in Verbände. Über den Zufall zur Familie, über Freunde zum Verband, das ist also ein erfolgreiches Streben nach Bürgerrechten, in der SPD und in der ÖTV. Sogar Konkurrenzverbände unterstützte er, wie etwa bei der Gründung der Neuen Richtervereinigung, deren Zeitschrift Betrifft Justiz natürlich ein Konkurrenzprojekt zu seiner lange herausgegebenen, früher ÖTV in der Rechtspflege jetzt Verdikt heißenden Zeitschrift war und die er trotzdem mit vielen Beiträgen gesegnet hat. Und natürlich durch die Gründung des Forum Justizgeschichte mit dem Ziel, nachhaltige Wirkung entfalten zu können und vor allem Aufarbeitung zu betreiben.

Das sind also die Bedingungen seines Handelns: Gleichheit vor dem Gesetz oder der Gesetzesanwendung; Recht als Maß der Macht und Richter als Schutzgarant der Schwachen; Verantwortung und Versöhnung sowie die Frage: Wie hätte ich gehandelt?

Welche Konsequenzen hat das für die Jurist_innenausbildung? Mensch sollte annehmen, ein Studium, das so einen Juristen wie Helmut Kramer hervor gebracht hat, müsste auch heute noch dazu taugen, für die Zukunft solche Menschen hervorzubringen. Indes, Helmut Kramers Studium verlief zunächst recht ziel- und orientierungslos. Das erst noch im Aufbau begriffene hoffnungsvolle Projekt der Sozialdemokratie, die Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft, mit juristischen Größen wie Wolfgang Abendroth und dem Arbeitsrechtler Walter Bogs, waren für die Herausbildung des strukturellen Denkens von Helmut Kramer weit weniger prägend als ausgerechnet der Carl-Schmitt-Schüler Rüdiger Altmann oder sein späterer Doktorvater Ernst-Rudolf Huber. Wir lernen also für die Juristenausbildung: Man kann gar nicht so viel verkehrt machen. Auf Möglichkeiten, sich auszuprobieren, darauf kommt es an.

Helmut Kramer hat sich ausprobiert. Er hat in Göttingen Geschichte und Kunstwissenschaften studiert, ähnlich wie ich seine Probleme mit dem Abfassen längerer Texte in kurzer Zeit und sich dann besonnen, dass die Beschäftigung mit den französischen Malern vielleicht doch nicht das Tool und die Voraussetzung ist, um zukünftig wirken zu können; natürlich unterstützt von den Bedenken der Eltern, kehrte er zum Jurastudium zurück. Seine Versuche, dem AStA politisch näher zu treten, kann man wohl als gescheitert ansehen. Stattdessen hat er sich mit studentischen Weiterbildungsangeboten im selbst organisierten Bereich – das, was wir heute Projekt-Tutorien nennen würden – engagiert. Zu denen lud er immerhin Geschichtsgrößen wie Franz Wieacker ein und hat sich damit zwar in elitären, aber freiwillig elitären, weil offenen Veranstaltungen weitergebildet. Sein Interesse an der Geschichte, sein Streben nach Gewissheiten und Detailfragen brachten ihn dann auch nicht sofort in die Justiz; das war kein Antrieb, das war eine Laufbahn. Sondern es war vor allem die Beschäftigung mit seiner Dissertation zu den Fraktionsbildungen in der Paulskirche, d.h. eine Beschäftigung mit Abweichlern, mit Querköpfen und mit der Frage: Wie kann ich so etwas organisieren? Aus der verfassungsrechtlichen Arbeit wurde daher eine verfassungsgeschichtliche Arbeit, die lange dauerte und trotzdem gelang. Noch heute ist sie – genau so wie Ingo Kramer neulich in seiner Laudatio erwähnt hat – für 28 Euro beim ZVAB (Zentrales Verzeichnis Antiquarischer Bücher) erhältlich, noch immer einer 2. Auflage harrend und wert.

Was war es dann aber, das Helmut Kramer zu einem Juristen gemacht hat, der mit Kant sozusagen nach Prinzipien handelt, die wir vorbildlich finden und die uns also selbst als Beispiel dienen können, als Illustration, und damit auch für heutige Juristinnen und Juristen als Wegstein, der Orientierung bietet. Das war nicht die juristische Ausbildung – die hat ihn zu etwas befähigt, das er anwenden konnte. Aber vielleicht war es wieder der Zufall und ein bemerkenswert ausgeprägter Sinn für Dinge, die man besser nicht anfasst, wenn man karrieremäßig voran kommen will. Das wurde ihm ja auch mehrfach von Kollegen gesagt. Doch Helmut Kramer ist daran nicht vorbei geschlittert, er ist darauf zugeprallt.

1964 als Gerichtsassessor bei der Generalstaatsanwaltschaft in Braunschweig, jenem Gericht, an dem Fritz Bauer nicht nur gewirkt, sondern auch die Würde des Menschen als unantastbares Postulat in die Mauern hat hauen lassen. Dort kam ihm ausgerechnet bei einer Vertretung im Jahre 1965 eine Aktennotiz oder ein Umlaufverfahren, eine zur Kenntnisgabe von Fritz Bauer in die Hand, den er selbst nie kennen gelernt hat; der für ihn auch keine wirkliche Orientierungsfigur sein konnte, denn er war eine zu beeindruckende und zugleich nebulöse Gestalt, um integrierend zu wirken. Diese Akte beinhaltete ein lang gehütetes Geheimnis über die Beteiligung der Justiz an den Euthanasiemaßnahmen des sog. Dritten Reichs und nannte viele Namen von Menschen, die Kollegen von Helmut Kramer waren. Kollegen, auf die er dann auch wieder während seiner Beschäftigung mit der Wehrmachtsjustiz traf, als Vollstrecker von über 50 000 Todesurteilen. Wie geht man mit einer Situation um, in der sich die freundlichen Kollegen, die einen zum gemeinsamen Abendessen einladen, plötzlich als Täter erweisen, als Mörder, als unbewusst ihrer eigenen Verantwortung gegenüber, weiterhin richtende und weiterhin das juristische Handwerkszeug in Anspruch nehmende Bürger, die Ansehen besaßen, in leitende Stellungen wie den BGH kamen und nicht zuletzt vor allem Vorgesetzte von Helmut Kramer waren, die über Schicksale – beispielsweise von Erna Wazinski – zu entscheiden hatten.

Der Fall ist ihnen sicherlich bekannt. Es geht um eine junge Frau, die in einer zerbombten Stadt Dinge aus einem Koffer an sich nimmt, von denen sie meint, sie würden ihrer Mutter gehören, und infolgedessen wegen Volksschädigung zum Tode verurteilt wird. Dem Votum des jungen Gerichtsassessors wurde nicht gefolgt, natürlich sei es eine zwingende Notwendigkeit gewesen, sie zu verurteilen. Das Gericht hat die Sache nicht aufgehoben, die Mutter nicht entschädigt. Kramer ließ die Sache nur zeitweilig liegen. Sie ließ ihn nicht in Ruhe, bis er ihre Rehabilitierung ermöglicht hatte, und zwar nicht nur für dieses, sondern durch die entsprechenden Gesetzgebungsverfahren für alle jene Verfahren.

Wir kommen jetzt zur Methodik der Jurist_innenausbildung. „Recht besteht nicht aus einer Summe von Rechtsnormen“, schreibt Helmut Kramer, „aus der – wie bei einer Logarithmentafel – ablesbar wäre, was Recht ist. Was Recht ist, erweist sich vielmehr erst, wenn man die Werteordnung der Verfassung und ferner die Rechtswidrigkeit ins Auge fasst.“ Das schreibt er im Jahre 1975. Im gleichen Jahr in Bayern, nämlich in Würzburg, prüft Prof. Hofmann Juristinnen und Juristen in der sog. Märchenklausur. Das war eine Klausur, in der alles mögliche gefragt wurde; es ist also ein Gesinnungsaufsatz nötig gewesen und es ging um das Grundgesetz. Zweit-Korrektor war ein Richter am Oberlandesgericht, der sagte: „Herr Hofmann, das müssen schon Sie machen. Wir Zivilrichter haben praktisch keine Ahnung vom Grundgesetz.“ Dass das Grundgesetz plötzlich zum Maß der Dinge wurde, und nicht das römische Recht oder die Verwaltungsverordnung, war eine hermeneutische Wendung, an der Helmut Kramer großen Anteil hatte. „Bei der Erörterung etwa der Vertragsfreiheit“, so schreibt er auf das Zivilrecht bezogen, „darf die Frage nach ihrer Verwirklichungsbedingung nicht ungestellt bleiben. Inwieweit haben sich in dem freien Spiel der Kräfte Ungleichheiten entwickelt? Wie das Ziel der Vertragsfreiheit insbesondere den freien Wettbewerb oft ins Gegenteil gekehrt hat. Was besagt das Prinzip für den Durchschnittsbürger noch heute? Wo gibt es für ihn Möglichkeiten, Verträge frei auszuhandeln? Dem Lehrer, der die Vertragsautonomie unreflektiert erörtern will, bleiben nur alltagsfremde Fälle. Verträge etwa über Familienschmuck oder antike Möbel.“

Kramers Methodik ist zudem durch Schlüsselerlebnisse in seiner Jugend genährt worden, wo er noch am Volksempfänger hing und gebannt nicht nur den Feindsender hörte, sondern auch das Attentat auf Hitler verfolgte und nicht glauben wollte, dass es nicht zum Erfolg geführt hatte. Wo er als junger Mensch die Zwangsarbeiter auf den Höfen oder die aus dem KZ kommenden erlebte, oder die Ungerechtigkeiten, die der nationalsozialistische Direktor an seinem Brüder vollzog, weil dieser seine Mutter verteidigt hatte. All das hat Helmut Kramer sensibilisiert und ihm in seinem Wirken gezeigt, dass der Glaube an die Objektivität eines gerichtlichen Erkenntnisverfahrens eine Selbsttäuschung der Richterschaft und die juristische Methode ihr Werkzeug war. Mit ihr wurden die Todesurteile – in über 50 000 Fällen begangene Morde – juristisch angestrichen, verrechtlicht nennen wir das heute, und der Terror mit einer Legalitätsfassade geschmückt. Kramer schreibt dazu: „Juristen in einem Unrechtssystem verkörpern den Idealtypus eines Schreibtischtäters, zusätzlich durch die Art ihres Vorgehens, durch die Mittel, derer sie sich bedienen. Das Tatwerkzeug ist besonders auffällig: das juristische Rechtsanwendungsinstrumentarium. Mit Hilfe des erlernten Handwerks haben Juristen in den Jahren 1933 bis 1945 Unrechtsverhandlungen als das Gegenteil von Unrecht, als Wahrung und Verwirklichung des Rechts erscheinen lassen.“

Wie aber die juristische Kunst in der Hand willfähriger Vollstrecker als effektives Tatwerkzeug selbst einer terroristischen, jede Rechtsgleichheit verleugnenden Staatsmacht taugt, ist es auch geeignet, als Maß bzw. Schranke von Macht zu dienen, wenn gleichermaßen kritische wie kunstfertig genaue Jurist_innen es gegen sich selbst wenden. Das hat Helmut Kramer immer wieder mit großem Beharrungsvermögen und methodischer Brillanz gezeigt. Aufklärung über die Täter und ihr Wirken über den Moment der Tat hinaus, als Mahnung, das ist sein Anliegen in Wolfenbüttel und beim Forum Justizgeschichte. Gleichermaßen ist er sensibel geworden für Schreibtischtäter aller Art. Wiewohl er nie einer Verharmlosung von Auschwitz durch Vergleiche mit aktuellen Pervertierungen des Rechtssystems das Wort geredet hat, hielt er doch unsere Sensibilität für die Ähnlichkeit ihrer Methoden wach. Etwa, wenn Verfassungsminister die Zusammenlegung von Polizei und Geheimdienst betreiben oder einer präventiven Erschießung mutmaßlicher Terroristen das Wort reden, wenn „Öffentlich-Rechtler“ den Militärs einer der ältesten durch Menschen und Bürgerrechte gerahmten Demokratie Anleitungen für verfassungskonformes Foltern liefern oder CDU und FDP per Koalitionsvertrag die Wiedereinführung der Militärjustiz in Deutschland vereinbaren, dann bleibt dies nicht unwidersprochen. Wir werden von Helmut Kramer lesen; seine Artikel, seine Strafanzeigen, seine Klagesätze, vielleicht ruft er uns auch an. Er ruft uns an, damit seine Texte auch Beachtung finden. Ich kann Ihnen nur raten, beachten Sie sie, sonst erliegen Sie womöglich dem Eindruck, die Vernunft hätte sich in der Justiz oder im Bundestag ganz von allein verwirklicht.

Sein Leitbild ist das des selbstreflektierten Juristen und der selbstreflektierten Juristinnen. „Interessant“, schreibt er über seinen Freund Vultejus, „sind dessen Lebenserinnerungen ‚Nachrichten aus dem Inneren der Justiz’. Lernen können jüngere Jurist_innen daraus nicht nur, was menschliches Verhalten eines Richters bedeutet, sondern auch, wie wichtig Selbstkritik am eigenen früheren richterlichen Verhalten ist. Die allermeisten unserer Richter sind zu einem solchen Eingeständnis von Fehlern und Unterlassungen unfähig. Eine Fehlerkultur in dem Sinne, dass man Fehler bekennen muss, um daraus zu lernen, wäre für die deutsche Justiz bitter nötig.“

Sein Freund Vultejus, der sicherlich auch Anlass zu mancher Enttäuschung gegeben haben mag, hatte Zweifel, ob die Menschlichkeit erlernbar ist. Aber sie kann durch positives Vorleben geschehen. Wer sich als einigermaßen junger Mensch – zumal Jurist – auf die Suche nach den Spuren eines Mannes macht, der derer so viele hinterlassen hat, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll, dem wird ein Lehrstück zuteil, das Helmut Kramer wahrscheinlich allen Jurist_innen wünschen mag. Einem nach ihrem oder seinem Selbstverständnis auch nur halbwegs kritischen Jurastudenten werden dank Erstsemesterheft von Forum Recht oder freischüßler die Spuren Kramers kaum verborgen bleiben: die braunen Wurzeln der Justiz, die Täterlehre im Strafrecht und die Frage nach der Nummer 1 im Schönfelder (das NSDAP-Parteiprogramm). Allerdings verbinden wir diese Aufklärung mit dem Namen Ingo Müller, jenem Freund, Wegbegleiter und kritischen Mitjuristen, dessen literarisch gelungenes Werk „Furchtbare Juristen“ ohne Kramers Anregungen und Recherchen kaum denkbar gewesen wäre.

Meine erste direkte Begegnung mit Helmut Kramer – nicht direkt, eher vermittelt – hatte ich im 8. Semester meines Studiums in einer Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts. Darin wurde der erfolgreiche Beschwerdeführer einer Verfassungsbeschwerde gegen das sogenannte Rechtsberatungsgesetz mit den ungewohnt persönlichen Worten vorgestellt: „Ein um die altruistische Rechtsberatung seit längerem bemühter Richter a.D.“. Dass das Bundesverfassungsgericht dieses Nazigesetz zur Vertreibung ungeliebter, vor allem jüdischer Rechtsanwälte aus der Rechtsberatung – nachdem sie bereits vom Anwaltsstand ausgeschlossen waren, weil die freie Advokatur nicht mehr Gewerbe, sondern Justizorgan sein sollte – für verfassungswidrig erklärt hatte, schien uns mehr als überfällig.

Völlig unverständlich, wie solch ein Gesetz so lange hat bestehen können. Wiewohl sich im Kapitalismus das Anwaltsmonopol durchaus als ein hinreichendes Erklärungsmoment anbot. Das hinter dieser hart erkämpften Entscheidung ein so liebenswerter und freundlicher Helmut Kramer steckte, war indes wirklich eine Überraschung. Ohne das engagierte Verteidigen und die linke Anwaltspraxis von Barbara Kramer in Braunschweig wäre sie uns aber vielleicht auch nicht möglich gewesen.

Helmut Kramer nachzuspüren ist wie ein Aufklärungsroman über die bundesdeutsche Justiz und alles andere als selbstverständliche Aufarbeitung ihrer braunen Vergangenheit. Er kommt nicht als ein von durchsichtiger pädagogischer Überbetontheit getragener und mundfertig vorbereiteter Moralbatzen-gespickter Telekolleg-Beitrag daher. Sie erleben vielmehr einen spannenden Justizthriller, dessen einziger Makel seine Realität und deren offenes Ende ist. Für Sie als Zeitzeug_innen, Weggefährt_innen, Wegbereiter_innen, Unterstützer_innen, Gesinnungsgenoss_innen, Mitleidende oder Nacheifernde dieses langjährigen Einzelkämpfers mag das vertrautes Terrain sein. Für mich ist es die Erschütterung eines als selbstverständlich empfundenen – wenn auch intellektuell nicht vorausgesetzten – Status Quo, den zu erringen nicht nur Helmut Kramers, sondern auch Ihr Verdienst ist.

Helmut Kramer wie auch die vor ihm im Andenken an Fritz Bauer ausgezeichneten Preisträger_Innen sind für junge Menschen lebendiger Anstoß, Denkmal und Aha-Effekt. Stiftungen, Preise und Namenspatrone von Initiativen, die heute unsere Veranstaltung, Zeitungen und Jugendprojekte mit ihren Spenden bezuschussen und oft erst ermöglichen, sind aus der Arbeit von Helmut Kramer – als Anleiter, Unterstützer und Freund – nicht wegzudenken. Diese Menschen fehlen jetzt in Ihren Reihen. Für uns sind sie vor allem Teil einer Geschichte, für die Mensch sich interessieren mag, die aber nicht Teil unserer Erinnerung oder Erfahrung ist. Gustav Heinemann, Werner Holtfort, Fritz Baue sind hier zu nennen. Insofern kann ich der Humanistischen Union nur danken, dass sie Helmut Kramer mit dem Fritz-Bauer-Preis ehrt und sie zugleich dazu beglückwünschen. Denn dieser Preisträger braucht die Humanistische Union wohl weniger dringend als diese ihn. Sie ehrt damit einen Menschen, der die von ihr verfolgten Maximen in vorbildhafter Weise vorgelebt hat und vorlebt. Damit beweist sie ihr Anliegen zugleich als ein mögliches. Zugleich setzt sich damit wiederum selbst ein Vorbild, von dem gelernt werden kann. Das ist wohl auch der einzige Grund, warum ausgerechnet ein Mann wie Helmut Kramer, der solche Ehrungen nur mit Widerwillen und sichtlichem Ringen um Bescheidenheit über sich ergehen lässt, Preise wie diesen, ja sogar das Bundesverdienstkreuz erster Klasse entgegennimmt – ein Preis, der Fritz Bauer versagt blieb. Es ist sein Anliegen, dass geehrt wird, nicht trotz, sondern wegen der vielen Repressalien und gegen Bestrebungen, mit denen er sich herumschlagen musste. Ein Akt gelebter Solidarität für die Nichtgenannten.

Ausgezeichnet werden auch die vielen, die sein Anliegen erst angestoßen und ermöglicht haben. Neben den vielen Menschen, die ihn auf Probleme aufmerksam machten, auch diejenigen im Sinne eines Preises für ungewollte Kollateralschäden; jemand wie Schabowski – ein Preis für verbohrte Kontrahenten, die Kramer selten enttäuschten, wenn sie sich berechenbar in seine Angriffe stürzten. Die Dankesrede von Werner Hill (1976) bemühte Ludwig Börne mit dem Satz: „Für die Freiheit kann man nichts Vernünftigeres tun, als die Tyrannen zu reizen.“ Dieses Schwert des Reizens der Tyrannen hat Kramer bisher immer vortrefflich zu führen gewusst. Zu ehren sind aber vor allem die Menschen, ohne die seine Kraft vielleicht schon lange versagt hätte: Barbara Kramer, ohne die er heute sicherlich nicht hier wäre und vielleicht auch nie diese aktionsreiche Schaffenskraft hätte entwickeln können, die erst durch Vernetzung möglich wurde; Günter Schwardt-Christen, der unermüdliche Bote des Kramer; Christian Kramer, der seine Texte zusammengefasst und immer wieder versucht hat, sie in eine Form zu bringen, die als annähernd abgeschlossen bezeichnet werden kann. Aber ich möchte an dieser Stelle auch die Pförtnerin der Wustrauer Richterakademie nennen, die rechtzeitig das Tor geöffnet hat, wenn Herr Kramer mit Taschen überladen und überhöhter Geschwindigkeit auf seinem Fahrrad um die Ecke bog und fast kollidiert wäre.

Der familiäre Aspekt führt uns zu Kant zurück. Er schreibt in einer weiteren Abwandlung des kategorischen Imperativs: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als auch in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ Oft hat Mensch als Außenstehender das Gefühl, Helmut Kramer ist mehr Mittel der sich verwirklichenden Vernunft als deren Zweck. So sehr der Nationalsozialismus und die eigene Verstrickung darin in den meisten deutschen Familien verdrängt worden ist, so präsent, vielleicht sogar penetrant war er bei den Kramers in Wolfenbüttel zu Hause. Doch wenn die Enkel da sind, dann kommt Helmut Kramer aus sich heraus und – das wurde mir versichert – ist ein ganz anderer Mensch. Dann ist das getriebene und verbissene weg und er genießt es zu erklären und vorzulesen, mit den Kindern die Sterne zu beschauen. So sehr wir die Gegenwärtigkeit seiner Texte vermissen würden, wir können ihm nur mehr von diesen Momenten wünschen und vor allem viel Gesundheit!

Heute haben wir schon viel über das Selbstverständnis, die Arbeit und Projekte von Helmut Kramer gehört. Sie haben sicherlich viel über Ihr Selbstverständnis und Ihre Projekte diskutiert. Morgen stehen vielleicht noch wichtige Fragen an. Auch dabei können Sie etwas von Ihrem Preisträger lernen. Eine Jurist_in muss nicht nur die Rechtsgeschichte kennen, darin waren die Juristen in Weimar und Nazideutschland vermutlich besser geschult als die heutigen Examinierten. Er und sie müssen nicht nur wissen, wem das Recht dient oder besser dienen sollte. Er und sie müssen sich immer vor Augen halten, dass die Inanspruchnahme der Grund- und Menschenrechte, die wir heute als selbstverständlich voraussetzen und zum Maßstab einer politischen Vermessung der Welt erheben, noch vor nicht allzu langer Zeit strafbare Handlungen, wenigstens aber genehmigungspflichtige, stark kontrollierte oder limitierte Privilegien darstellten. Erst der Kampf ums Recht macht aus dem politischen Anspruch eine durch die Rechtsprechung geschützte Rechtsposition, einen Freiraum. Es gilt aber nicht nur, diesen Freiraum gegen die immer währende Versuchung einer unter Sicherheitserwägungen notwendig erscheinenden oder im Angesicht leerer Kassen und unter Rücksicht auf zukünftige Generationen angeblich zwingend erforderlichen Verkürzung dieser Freiheiten oder Freiheitsermöglichungen zu verteidigen.
Der Freiraum muss auch vergrößert werden und jene einbeziehen, die strukturell noch ausgeschlossen werden oder, obwohl sie dazugehören, faktisch ausgeschlossen sind. Das Antidiskriminierungsrecht mag so manches bürgerliches Rechtsverständnis auf den Kopf stellen, es ist jedoch die Bedingung und Zukunft der Freiheitsrechte. Wer sich die Themen der Humanistischen Union anschaut, findet viel davon, die Homepage wurde erneuert, es werden adäquate jugendtypische Plattformen, wie Verschlüsselungsserver, bereitgestellt – auch das ein Grund späterer Klagen, wie praktisch!

Ich möchte zum Abschluss aber noch mit auf den Weg geben, dass die Humanistische Union sich nicht dem Eindruck aussetzen darf, ein elitärer Verein zu sein, in dem nur Mitglied werden kann, wer ein Studium absolviert hat. Eine bessere Loge für Bürgerrechte etwa, der nur diejenigen, die ihre Freiheit auch kennen und verteidigen können, angehören. Die Humanistische Union muss sich als unterstützende und verstärkende Gefährtin an die Seite der Widerstrebenden stellen. Dort, wo sie sind: am Arbeitsplatz, in der Schule, in der Uni, im Knast, in der Psychiatrie und auf dem Amt. Vor allem auch in der Netzwelt. Dazu braucht sie einen Namen, der auch für die Adressaten Verknüpfungen bietet. Für die, die mit Bürgerrechten oder den Vorstellungen vom „Mut zur Freiheit“ nicht zugleich Zukunft verbinden können, weil sie andere Probleme haben.

Sie können die Laudatio von Michael Plöse hier auch nachhören (Dauer: ca. 43 Minuten):

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