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Die Shoa und ihre Relati­vierer

04. Dezember 2004
Datum: Samstag, 20. Dezember 2003

Joachim Perels

Eine Betrachtung anlässlich des 60. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz. aus: vorgänge Nr. 168 (Heft 4/2004) , S.101-106

Auschwitz, vielfach zum schnellen Wort entleert, tritt in der Erinnerung der Opfer wahrheitsgenau ins Licht. Im Lager war die Zerstörung der körperlichen Integrität und des Lebens der Juden, die Beseitigung des Gebots – „Du sollst nicht töten“ – zum Alltag von Millionen Menschen geworden. Die Abkehr von der schon im Alten Testament ausgebildeten Zivilisationsstufe der Achtung des individuellen Lebens war vollkommen.

In ihren Erinnerungen schildert Ruth HIüger ihre Ankunft in Auschwitz: „Männer, die uns mit ihrem ,raus, raus aus dem Wagen‘ gezogen hatten und jetzt weiter trieben, waren wie tolle, bellende Hunde […] Ich sollte diesen hasserfüllten Ton, der den Angesprochenen oder Angeschrienen menschlich vertreibt und ihn oder sie gleichzeitig wie ein Gegenstand festhält, in den nächsten Wochen hören und krümmte mich immer neu davor. Das war ein Ton, der nur darauf gerichtet war, einzuschüchtern und dadurch zu betäuben. Man merkt meist nicht, wieviel Rücksicht im gewöhnlichen Gesprächston liegt, und selbst noch im Ärger, im Streit und sogar im Zorn. Man streitet mit seinesgleichen, wir waren nicht einmal Gegner. Das Autoritätsgebahren in Auschwitz war stets auf Aberkennung gerichtet, Ablehnung der menschlichen Existenz des Häftlings, seines oder ihres Rechts.“ (Klüger 1994: 112f.)

Am 27. Januar 1945, vor sechzig Jahren, wurde das Vernichtungslager Auschwitz von der Roten Armee befreit. Noch 7.000 Häftlinge – so wenige – lebten. Die Anderen waren vergast und erschossen, dem Hungertod preis-gegeben. Ihr Leiden entzieht sich unserem Vorstellungsvermögen.

Befreiung hieß für die Überlebenden nicht, ins sogenannte normale Leben zurückzukehren. Schon die Natur sperrte sich der Wahrnehmung. Selbst Regen, der in Auschwitz mit dem Rauch der Gasöfen kontaminiert gewesen war, mussten sich viele Überlebende als Erfahrung eines Naturelements neu aneignen. Die Verwandlung der Juden in rechtlose Exemplare hatte bei den Überlebenden tiefe Nachwirkungen. Rabbiner Max Eschelbacher drückte dies Ende der 1940er Jahre so aus: „Das Erlittene (war) zu schwer sogar für Hass.“ (Geis 2000: 214)

Das Beschweigen und Negieren in den 1950er Jahren

Lange Jahre schob sich in unserem Land ein Schleier des Vergessens vor den Verwaltungsmassenmord an den Juden. Viele Funktionsträger im Staats- und Justizapparat, in der Wirtschaft und in den Universitäten, die für die Diskriminierungen und Aussonderungen der Juden mitverantwortlich waren, kehrten in ihre Stellungen zurück. Hieraus entstand das mächtige Interesse, die Wahrnehmung des größten Verbrechens der deutschen Geschichte aus dem Zentrum der Öffentlichkeit zu verbannen.

Die radikalste Position bezog zu Beginn der 1950er Jahre der einstige Justitiar des Reichsicherheitshauptarnts, Werner Best, der die administrativen und ideologischen Instrumentarien zur Vernichtung der Juden maßgeblich entwickelt hatte. Best war kein Außenseiter, sondern juristischer Berater des führenden FDP-Abgeordneten Ernst Achenbach, dessen Partei mit der CDU koalierte. In einem 1952 verfassten Gutachten, das er an Vizekanzler Blücher und an Justizminister Dehler – beide gehörten der FDP an – adressierte, fordert Best eine Generalamnestie für die Staatsverbrechen des Dritten Reiches. Die „Begründung“ war dieselbe, mit der er seinerzeit die Ausrottung der Juden gerechtfertigt hatte: die Mordtaten seien, anders als bei gewöhnlichen Verbrechen, nicht aus persönlichen Motiven geschehen. Die Tötung der Juden figurierte als politische Tat, die, anders als gewöhnliche Kriminalität, keine Strafbarkeit begründe.

Die Zerstörung des Rechts der Gepeinigten sollte folgenlos bleiben – ausgerechnet in der rechtsstaatlichen Demokratie. Den Opfern sollte, auch durch den Verzicht auf ein Gerichtsverfahren, das Letzte genommen werden, was wir ihnen geben können: die Erinnerung, wie Adorno sagte. Die propagierte Amnestie bedeutet im Wortsinn nichts anderes als Vergessen.

In den 1950er Jahren geht, offenbar mitbeeinflusst durch Bests Auflösung des Begriffs staatlicher Verbrechen, die rechtliche Aufarbeitung der NS-Gewaltverbrechen drastisch zurück. Bis 1958 kommt es mit Ausnahme von KZ-Prozessen fast zu einem Stillstand der Rechtspflege, durch den das Legalitätsprinzip für NS-Täter weitgehend außer Kraft gesetzt ist. Auch eine vom Bundestag 1954 erlassene Amnestie für Totschlagsdelikte der Gestapo in der Endphase des Hitler-Regimes bedient sich der von Best eingeführten Exkulpationskategorie der politischen Straftat.

Selbst unter den demokratischen Gründungsvätern der Republik gab es Tendenzen, das Recht im Schatten der Verdrängung verschwinden zu lassen. Carlo Schmid, sozialdemokratischer Mitautor des Grundgesetzes und Vizepräsident des Deutschen Bundestages, bedeutender Redner auf der Woche der Brüderlichkeit 1955, setzt sich Mitte der 1950er Jahre für die Begnadigung eines großen Judenmörders, des Leiters der Einsatzgruppe a in Estland ein, der für den Tod von mindestens 350 Juden verantwortlich war, was er vor dem amerikanischen Militärgericht zugegeben hatte. Schmid attestiert dem promovierten, aus dem württembergischen Bürgertum stammenden Juristen Martin Sandberger, der dem antisemitischen Wahn Wirksamkeit verschaffte, dass er kein „blindwütiger Fanatiker gewesen“ sei. Schmid postuliert, dass dieser Massenmörder anders als gewöhnliche Kriminelle, sich „außerhalb der Gefängnismauern“ „neu bewähren“ sollte: eine vollendete Suspension des Rechts und des Eingedenkens an die ermordeten Juden (zit. n. Frei 1996: 299f.).

Ein ähnlicher Blick auf die Verfolger der Juden findet sich bei Bundeskanzler Adenauer, der das Wiedergutmachungsabkommen mit Israel gegen starke Kräfte der Regierungskoalition vor allem mit Hilfe der SPD durchgesetzt hatte. Zur Verteidigung seines Ministerialdirektors Hans Globke, der die Nürnberger Gesetze gegen die Juden vielfach extensiv interpretiert und später die Eintragung jüdischer Zwangsnamen in den Pass konzipiert hatte, gab Adenauer 1952 im Deutschen Bundestag, unter dem Beifall der Regierungsparteien, die Formel aus, „mit der Naziriecherei Schluss zu machen“: als sei die Aufhellung der amtlichen Beteiligung an der Diskriminierung der Juden Schnüffelei im Privatleben (Döscher 1995: 347).

Am Anfang der Erinnerung: Der Auschwitzprozess

Die Auslöschung der Erinnerung an die Verfolgung und Ermordung der Juden gelingt am Ende nicht. Dies beruht in starkem Maße auf dem Engagement eines Einzelnen, dessen Denken und Handeln im Gegensatz zum Mainstream des Vergessens stand: Fritz Bauer. Er ist seit 1956 hessischer Generalstaatsanwalt, engagiert sich wie kein Anderer für die juristische Aufarbeitung des größten Staatsverbrechens der deutschen Geschichte. Schon als Schüler in Stuttgart judenfeindlichen Anwürfen ausgesetzt, 1933 ins KZ verbracht, exiliert nach Dänemark und Schweden, 1949 nach Deutschland zurückgekehrt, nachdem er schon in Stockholm rechtsstaatliche Instrumentarien zur Ahndung der nationalsozialistischen Massenverbrechen entwickelt hatte, verkörpert er wie nur wenige die Gedankenwelt eines anderen Deutschland. Bauer initiiert den Prozess gegen Verantwortliche der größten Massenvernichtungsstätte der deutschen Geschichte.

Der Auschwitz-Prozess, dessen Beginn sich am 20. Dezember 2003 zum vierzigsten Mal jährte, erzielte in Zeitungen, in der Literatur – vor allem durch Peter Weiss‘ Ermittlung – im Film und im Fernsehen eine außergewöhnliche Wirkung. Nach den Regeln des Strafprozesses legte er die Mechanismen der Entwürdigung der Juden in ihrem ganzen Ausmaß öffentlich bloß. Seine aufklärende Bedeutung lag weniger in der juristischen Einzelbewertung der Täter, bei der das Frankfurter Schwurgericht auch zu fatalen, die Täterrolle minimierenden Ergebnissen kam, als in der Vergegenwärtigung der Geschichte von Auschwitz. Die Zeugen durchbrachen jenes Schweigen über die NS-Zeit, dem in der unkritischen Geschichtsschreibung der Bundesrepublik sogar eine heilende Wirkung zugesprochen wurde.

Die in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung regelmäßig publizierten, sachlich genauen, an viele Leser adressierten Prozessberichte Bernd

Naumanns beendeten öffentlichkeitswirksam die Nichtwahrnehmung von Auschwitz. Naumann schildert den Angeklagten Bogner, der sich mit den Worten rechtfertigte: „Ich habe nicht totgeschlagen, ich habe Befehle ausgeführt.“ Treffend kommentiert Naumann: „Die Folterungen, die Mordtaten will er ungemünzt wissen in die Anerkenntnis der eigenen vorgeblich so ausweglosen Lage.“ (Naumann 1968: 186)

Den Tätern, die ihre vielfach sichtbare Übereinstimmung mit den nationalsozialistischen Befehlen leugneten, setzt Fritz Bauer in großartiger Unmittelbarkeit die unverbrüchliche Geltung humaner Normen entgegen, die auch den Widerstand gegen die rechtsfeindliche Despotie begründeten: „Eine der wichtigsten Aufgaben dieser Prozesse ist es, nicht nur das furchtbare Tatsachenmaterial vorzuführen, sondern eigentlich uns wieder etwas zu lehren, was wir in Deutschland im Laufe der vergangenen hundert Jahre völlig vergessen haben […]. Wenn etwas befohlen wird, was im Widerspruch steht zu den ehernen Geboten, etwa den Zehn Geboten, die eigentlich jedermann beherrschen sollte, dann musst du Nein sagen […]. Wenn man Christentum und Recht ernst nimmt, dann ist man nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet Nein zu sagen zu dem Befehl, tötet da und dort hunderttausend jüdische Kinder, Frauen und Männer, ohne dass sie etwas getan haben.“ (Bauer 1998: 113, 115)

Strategien der Exkulpation in der Gegenwart

Die Aufklärung über die Shoa ist kein linear fortschreitender Prozess. Gegenbewegungen aus dem nationalistischen Geist der Abwehr der Verantwortung für die staatlich initiierten Verbrechen treten periodisch immer wieder auf; in der Bevölkerung haben sie, wie Meinungsumfragen zeigen, einen erheblichen Rückhalt. Sie nehmen unterschiedliche Gestalt an. Im sogenannten „Historikerstreit“ von 1986 deutete Ernst Nolte die Eiuiordung der Juden in eine Art Präventivhandlung gegenüber dem Bolschewismus um. Die originären Vernichtungsintentionen des nationalsozialistischen Staatsapparates verschwanden. Marcel Reich-Ranicki, dessen Eltern in Treblinka ermordet wurden, hat in zwei kurzen Sätzen die Position Noltes treffend charakterisiert: Für Nolte ist der „Holocaust die Folge, wenn nicht die Kopie der bolschewistischen Schreckensherrschaft. So wurde der Nationalsozialismus verteidigt und das deutsche Verbrechen bagatellisiert.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. Dezember 1999)

Anders geht Horst Möller, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, vor. Er reduziert die Verantwortung für die Shoa auf die Rolle der SS. Er löst, in der Diskussion um die erste Wehrmachtsausstellung, die funktionale Beziehung von Wehrmacht und der für die Ermordung der Juden aufgestellten Einsatzgruppen interpretativ auf: „Die Ausstellung unterscheidet nicht hinreichend zwischen der prinzipiellen Aufgabe der Wehrmacht, ihrem militärischen Auftrag und jenen speziell zur Massenvernichtung eingesetzten Organisation der SS, den Einsatzgruppen und Polizeieinheiten, die nun einmal nicht zur Wehrmacht gehörten. Der größte Teil der Massenmordaktion wurde von ihnen, nicht von Wehrmachtseinheiten begangen.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. Januar 2000) In dieser Darstellung verliert die Tatsache, dass das Oberkommando des Heeres und das Reichsicherheitshauptamt im Mai 1941 eine schriftlich fixierte Vereinbarung über den militärisch zu gewährleistenden Aktionsrahmen für die mobilen Tötungskommandos trafen, ihre konstitutive Bedeutung für die Organisation des Holocaust. Die Verantwortung des Militärs kann nicht auf die Einsatzgruppen abgeschoben werden, die den Mordauftrag ausführten. Dies zeigt besonders deutlich ein Befehl des Generalfeldmarschalls vom Manstein vom 20. November 1941, der Teil der Strategie des Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion war: „Das jüdisch-bolschewistische System muss ein für alle Mal ausgerottet werden […]. Der deutsche Soldat hat nicht allein die Aufgabe, die militärischen Machtmittel dieses Systems zu zerschlagen. Er tritt auch als Träger einer völkischen Idee […] auf […]. Für die Notwendigkeit der harten Sühne am Judentum, dem geistigen Träger des bolschewistischen Terrors, muss der Soldat Verständnis aufbringen.“ (Poliakov/Wulf 1978 [1956]: 451f.) Die Inkorporation der Wehrmacht in die Shoa rückt Möller an den Rand. So kann die Fiktion einer im Kern militärisch korrekten, vom Vernichtungswahn der NS-Führung unterschiedenen Funktion der Wehrmacht – ihr ideologisches Selbstbild – aufrecht erhalten werden.

Eine Auflösung der Nazi-Wirklichkeit enthält der Bestseller Der Brand von Jörg Friedrich über den Bombenkrieg der Alliierten. Für dessen Beschreibung benutzt Friedrich nicht zuletzt Begriffe, die sich allein auf die Tötungspraxis in Auschwitz und auf die Mordverbände der Einsatzgruppen beziehen lassen. Hans-Ulrich Wehler hat dies scharfsichtig festgehalten: „Wenn Friedrich schreibt, die Bomberflotten seien ,Einsatzgruppen`, brennende Luftschutzkeller ,Krematorien` und die Toten ,Ausgerottete`, dann hat man sprachlich die völlige Gleichsetzung mit dem Holocaust.“ (Der Spiegel 2/2003: 51) Das Besondere von Auschwitz verschwindet. Die Tötung von Menschen, die nicht einmal den Status eines Gegners hatten, sondern unentrinnbar als Feind definiert wurden, wird – in der Konsequenz dieser Begrifflichkeit – zu einer Kriegshandlung. In einer ungeheuerlichen Vertauschung wird der Mord an rassenideologisch bestimmten Objekten mit den Folgen des Bombenkriegs auf eine Stufe gestellt.

Die falsche Gleichsetzung des Schreckens der Luftangriffe und der Vernichtung der Juden hat damit zu tun, dass Friedrich die nahe-liegende Frage, welche Haltung die Gegner der NS-Despotie zu den Bombardements ein-genommen haben, nicht aufwirft. Für ihn ist das Volk eine regimetreue Einheit. Friedrich behauptet, dass vor „lauter Vergeltungswut“ gegen die Alliierten „keine Wut“ gegen die Regierung Hitler „blieb“ (Friedrich 2002: 486). Damit verdoppelt Friedrich die Sicht des Regimes. Ohne jegliche Distanz übernimmt er, wörtlich zitierend, die Position der geheimen Lageberichte des Sicherheitsdiensts der SS: „Die Flugblätter ,Stürzt Hitler, dann habt ihr Frieden‘, las man als ,dummen und blöden Beeinflussungsversuch‘.“ (ebd.: 475)

Die Haltung zum Bombenkrieg hängt je-doch von der politischen Stellung zum Regime, von dessen Unterstützung oder Kritik ab. In moralisch geschärften Erinnerungen kommt dies bei Peter Wapnewski zum Ausdruck. Er berichtet über andere als von der SS propagierten Einstellungen zum Bombenkrieg. Ohne dem Ausgeliefertsein an den Luftkrieg auch nur das geringste Gewicht zu nehmen, konstatiert Wapnewski: „Die Angst lag als ein Mehltau über uns, verdichtete sich zu stickiger Luft, zum Schneiden dick […]. Man zählte die Einschläge, schätzte die Entfernung vom eigenen Ort, registrierte Bombenteppiche und benannte fächmännisch das Bombenkaliber, duckte sich zusammen […]. Und merkwürdig, nicht einmal habe ich in diesen ungezählten – zählbaren – Stunden so etwas gehört wie aufbegehrende Verwünschungen gegen die Feinde wie Flüche der Empörung gegen England oder der Vereinigten Staaten […]. Man fühlte sich ihnen ja in gewissem Sinne solidarisch verbunden, sie würden jenes System zerstören, das wir selbst errichtet hatten, und das zu erledigen uns die Kraft fehlte.“ (Frankfurter All-gemeine Zeitung vom 3. Dezember 2002) Es liegt auf der Hand, dass es aus dieser Perspektive der Gegner Hitlers ausgeschlossen ist, den Bombenkrieg gegen das Regime auch nur sprachlich mit dem Verwaltungsmassenmord an den Juden in Eins zu setzen.

Das Grundgesetz als Erinnerungszeichen

Die Wiederkehrenden Widerstände gegen die Erinnerung an die Shoa beruhen im wesentlichen Maße auf einem fortwirkendenStruktur-defizit der Nachkriegsperiode. Der Nationalsozialismus ist – auch Hannah Arendt weist 1950 darauf hin – nicht durch eine von den Deutschen getragene Revolution überwunden worden, die die Machtgrundlagen des alten Regimes und seine nationalistische Ideologie von Grund auf beseitigt hätte (Arendt 1950: 59). Unterhalb der neuen demokratisch legitimierten politischen Spitze behielten verschiedene latente oder offene Teilrechtfertigungen für die untergegangene Diktatur ein starkes Gewicht bei gesellschaftlichen Machtträgern. Die Legitimationslinien konvergieren in einem bis heute wirksamen Nationalismus, der die unverstellte Wahrnehmung der nationalsozialistischen Staatsverbrechen blockiert und durch die Gleichsetzung der Untaten der Nazis und der Kriegshandlungen der Alliierten die Schuldfrage entschärft.

Gegen die Einnebelung der NS-Herrschaft steht das Grundgesetz. Es negiert das NS-System in Kategorien des Rechts. Die Verfassung setzt ein unübersehbares normatives Zeichen gegen die staatliche Marter- und Tötungsgewalt, die in der Shoa ihre furchtbarste Gestalt annahm. Im ersten Artikel des Grundgesetzes ist die Weisung niedergelegt, dass der Staat seine Rechtfertigung darin findet, dass er die Würde des Menschen achtet und schützt. Dies ist die rechtliche Antwort auf die Erniedrigung und Auslöschung der Individuen durch das System planmäßiger Willkür. Dem Staat ist verwehrt, was zuvor sein Herrschaftsprinzip war: die schrankenlose Verfügung über die Existenz der Individuen. Daher ist die Todes-strafe abgeschafft. Der grundrechtliche Satz – „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ (Art. 2 II GG) -, bewahrt die Erinnerung an dessen systematische Beseitigung in der Shoa. Das Grundgesetz errichtet einen juristischen Wall gegen ein staatliches System der Rechtlosigkeit. Es hält, im Gegensatz zu halb-affirmativen Umdeutungen der NS-Herrschaft, die historische Wahrheit fest.

Literatur

Arendt, Hannah 1986: Besuch in Deutschland 1950. Die Nachwirkungen des Naziregimes; in: Dies.: Zur Zeit. Politische Essays, hg. v. Marie Luise Knott; Berlin

Bauer, Fritz 1998: Die Humanität der Rechtsordnung, hg. v. Joachim Perels u. Irmtrud Wojak, Frankfurt/Main

Döscher, Hans-Jürgen 1995: Verschworene Gesellschaft. Das Auswärtige Amt unter Adenauer zwischen Neubeginn und Kontinuität, Berlin

Frei, Norbert 1996: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München

Friedrich, Jörg 2002: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945, München

Geis, Jael 2000: Übrig sein – Leben „danach“. Juden deutscher Herkunft in der britischen und amerikanischen Zone Deutschlands 1945-1949, Berlin

Klüger, Ruth 1994: weiter leben. Eine Jugend, München 1994

Naumann, Bernd 1968: Auschwitz. Bericht über die Strafsache gegen Mulka u.a. vor dem Schwurgericht Frankfurt am Main, Frankfurt/Main

Perels, Joachim 2004: Entsorgung der NS-Herrschaft? Konfliktlinien im Umgang mit dem Hitler-Regime, Hannover

Poliakov, Leon / Wulf, Josef 1978 [1956]: Das Dritte Reich und seine Diener, München.

Kategorie: vorgänge: Artikel

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