Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 174: Die Grenzen Europas?

Ein Humanist im Geiste Rosa Luxemburgs

Würdigung zum hundertsten Geburtstag von Wolfgang Abendroth.

Aus: vorgänge Nr. 174, (Heft 2/2006), S. 130-131

Wolfgang Abendroth,  Staatsrechtslehrer und Professor für Politische Wissenschaft in Marburg von 1951 bis 1972,  besaß einen unverwechselbaren politisch-moralischen Charakter, der ihn  von seinen akademischen Kollegen, aber auch von autoritären Repräsentanten der Arbeiterbewegung unterschied, der er sein Leben lang verbunden war. Als  die meisten  Rechtslehrer in Deutschland die Etablierung des despotischen Regimes des Dritten Reichs,  die Abschaffung der Grundrechte     und  die Zerstörung des Völkerrechts legitimierten, promovierte  Abendroth 1935 in der Schweiz mit einer Arbeit, die die Entkolonialisierung durch internationales Recht systematisch entfaltete. In der gleichen Zeit kämpfte er  in einer Oppositionsgruppe der   Arbeiterbewegung gegen das NS-Regime, das er als „selbständige Maschinerie unbegrenzter Macht“ bezeichnete.1937 wird er verhaftet, Gestapo verhören ausgesetzt, zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt und anschließend in   das Strafbataillon 999 gezwungen. Dank der Hilfe eines Arztes der griechischen Widerstandsbewegung gegen die deutsche Besatzung überlebt Abendroth. 
Angesichts der  Herrschaftsverhältnisse in der Sowjetunion tritt Abendroth, noch 1946,  während seiner Kriegsgefangenschaft in England, in die SPD ein, nachdem er der KPD und nach seinem Ausschluss im Jahre 1928 der Kommunistischen Partei Opposition angehört hatte. In dem ersten Artikel, den er nach Kriegsende veröffentlicht, entwickelt er die Konzeption eines sozialistischen Rechtsstaats, der die kapitalistische Ordnung überwindet, und, im Unterschied zu Russland,   dem System der Gewaltenteilung und der Unabhängigkeit der Justiz unterliegt. Sie ist  uneingeschränkt an das Gesetz gebunden, das die Volkslegislative beschlossen hat. Zugleich aber insistiert er darauf, dass die bisherige personelle Zusammensetzung der Justiz, welche die NS- Diktatur aktiv und exzessiv mitgetragen hatte, als eine Gefahr für die Schaffung einer demokratischen Rechtsordnung erkannt werde. Nur eine weitgehende Auswechselung des Justizapparats verbürgt einen politischen Neubeginn.
Diese noch in Großbritannien entwickelte Position behält Abendroth bei, als er in die Sowjetische Besatzungszone übersiedelt, um auf Anraten des hessischen Justizministers Zinn sein Assessorexamen, das er während der NS-Herrschaft nicht ablegen konnte, nachzumachen. Dort beteiligt er sich an der Entwicklung einer Konzeption für die Ausbildung  der so genannten Volksrichter, die die Nazi-Richter ersetzen sollten. Zugleich widerspricht er öffentlich den Bestrebungen der SED,  die Richter der Vormundschaft der Partei unterzuordnen. Er wendet  sich dagegen, „die neue Richtergruppe durch strenge parteipolitische Bindung an der selbständigen Willensbildung“ zu hindern. Als die absolutistische Machtausübung  der SED rechtsstaatlich-demokratisches Denken unmöglich macht, flieht Abendroth, mittlerweile Professor für öffentliches Recht in Jena – einer seiner Hörer war Hans Dietrich Genscher – in den Westen.
In der Bundesrepublik entfaltet Abendroth, vor allem als Verfassungsjurist, als Analytiker der Geschichte der Arbeiterbewegung und als Berater führender Köpfe der Gewerkschaften eine nicht geringe Wirkung. An  allen großen verfassungsrechtlichen Auseinadersetzungen in der Bundesrepublik ist Abendroth beteiligt. Seine juristischen Gegner sind oft  jene Professoren – wie Ernst Forsthoff, Hans Carl Nipperdey oder Ulrich Scheuner -, die im Dritten Reich die Position des NS-Regimes vertreten hatten und nun, als juristische Repräsentanten  der Arbeitgeber, die Gemeinwohlbindung des Eigentums und die volle Geltung der Koalitionsfreiheit zu modifizieren und einzuschränken versuchten.

In diesen Konflikten, die im Kampf um die Notstandsgesetzgebung der 6oer Jahre ihren Höhepunkt fanden, bezieht Abendroth eine  methodische Position, die noch heute relevant ist. Er insistiert darauf, dass die demokratischen Normen des Verfassungsrechts  uneingeschränkt die Grundlage der Rechtsanwendung bleiben müssen. Die konkret normierte Gestalt des Rechts darf  nicht durch Umdeutungen, wie die Abkoppelung des Grundsatzes des sozialen Rechtsstaats vom Denken der klassischen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, die die Unterordnung der privaten Wirtschaft unter das Gesamtinteresse der gesamten Gesellschaft intendierte, ihres Geltungsanspruchs verlustig gehen. Kaum ein Buch Abendroths ist zur Zeit im Buchhandel erhältlich. Aus dem öffentlichen Bewusstsein ist er weitgehend verschwunden. Er wird zuweilen noch mit dem groben Etikett des Sympathisanten der DKP versehen, obgleich er dieser Partei am Ende attestierte, sie sei eine Sekte. Abendroths Denken wird durch eine im Offizin- Verlag in Hannover erscheinende Werkausgabe, deren erster Band gerade herausgekommen ist, wieder zugänglich. Es   bekommt in einer Zeit, in der  die Schere von privatem Reichtum und der Finanzkrise des Staates,  von Gewinnexplosion und stagnierender Dauerarbeitslosigkeit offen zu Tage liegt,  verstärkte Bedeutung.

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