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Eine vergessene Alternative zur Restau­ra­tion

28. Mai 1989
Datum: Montag, 03. August 2020

Joachim Perels

aus: Vorgänge Nr. 99 (Heft 3/1989) S. 107-110

Die Linke ist heute weniger durch ein konservatives Meinungsklima als durch bestimmte innere Zerfallsprozesse bedroht. Vielfach verläßt sie Positionen, die ihr zuvor als Richtmaß für ihre Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft gedient hätten. Ob bei den Grünen von einem ökologischen Kapitalismus als politischem Ziel gesprochen wird, ob der Begriff des Klassenantagonismus in trauter Gemeinsamkeit mit konservativen Denkmustern für überholt erklärt und stattdessen etwa durch den klassenjenseitigen Begriff der „Risikogesellschaft“ (Beck) ersetzt wird, ob also das gegen den Kapitalismus gerichtete geistige Instrumentarium vollständig verworfen wird, statt den rationalen Kern der Marxschen Ökonomie- und Klassenanalyse festzuhalten, daran entscheidet sich, ob die Linke weiter in Alternativen zum Bestehenden zu denken vermag. Das bedeutet freilich nicht mit dogmatischer Starrheit an gewissermaßen romantischen sozialistischen Zielvorstellungen wie dem Ab-sterben des Staates festzuhalten. Eine derartige Entdogmatisierung berührt allerdings nicht den Kern des sozialistischen Ziels, die gesellschaftlichen Gegebenheiten als freies und demokratisch konstituiertes Produkt der Menschen zu fassen.

Angesichts der gegenwärtigen Theoriesituation in der Linken bekommen die von Alfons Söllner aus den Washingtoner Archiven heraufbeförderten Studien zum Problem einer gesellschaftlichen Verankerung der Demokratie im nachfaschistischen Deutschland ein besonderes, zusätzliches Gewicht.

Alfons Söllner (Hg.): Zur Achäologie der Demokratie

in Deutschland: 2 Bde., Ffm (S. Fischer Verlag) 1986, je 14,80 DM.

Sie stammen von der sogenannten Neumann-Gruppe, zu der neben Franz L. Neumann auch Herbert Marcuse, John H. Herz und Otto Kirchheimer zählten. Diese Gruppe der besten theoretischen Köpfe der linksliberalen und sozialistischen Emigration arbeiteten im Auftrag des amerikanischen Außenministeriums von 1943 bis 1949 an der Deutschlandplanung der US-Regierung mit.

Die Studien zerfallen in zwei große, der Bandeinteilung entsprechende Teile. Im ersten Teil wird detailliert die Besatzungsplanung der amerikanischen Regierung konzipiert, die dann in der heroischen Phase der Besatzungspolitik ihren Niederschlag fand – jener Phase einer von den Alliierten in Gang gesetzten Ersatzrevolution, die von der Kapitulation am 8. Mai 1945 bis ins Frühjahr 1946 reichte. So ist – und das wird vielfach verdrängt – das theoretische Konzept der Neumann-Gruppe praktisch relevant geworden.

Der erste Band enthält das ausgefiihrteste Anti-Restaurationsprogramm, das im Exil von deutschen Intellektuellen entwickelt worden ist. Dies bemerkenswerte Programm bestimmt sich positiv durch die negative Folie einer möglichen Rechtsregierung, die von der Neumann-Gruppe prognostisch bereits auf den Begriff gebracht wurde, ehe es eine derartige Regierung (wie die Adenauers) überhaupt gab: „Gerade wegen ihres bekannten antidemokratischen Programms werden die Parteien der Rechten wahrscheinlich nicht an ihren alten Namen und an ihren alten Parolen festhalten, sondern als nationale demokratische Parteien auftreten, und ihr Programm wird sich auf das konzentrieren, was in ihrer Vorstellungswelt als Kampf gegen die Bolschewisierung Deutschlands erscheint, auf einen Kampf für Deutschlands kulturelle Tradition, für das freie Unternehmertum, für die Austreibung des Politischen aus der Verwaltung, für die Unabhängigkeit der Justiz oder für einen auf christliche Prinzipien gegründeten Staat. Ihr wirkliches Vorhaben ist jedoch, die privilegierte Position der alten herrschenden Gruppen zu erhalten, und deshalb werden sie sich jedem Projekt widersetzen, das ihr Macht über Deutschlands politischen, militärischen und ökonomischen Apparat gefährden könnte“ (I, 211). An anderer Stelle heißt es: Eine rechte Regierung „würde eine gründliche Bereinigung des Verwaltungsapparats verhindern, jede gesellschaftliche und ökonomische Veränderung, die ihre Privilegien antastet, sabotieren, und die Rekonstruktion der Demokratie ersticken … Alle diese Überlegungen machen es unabdingbar, eine rechte Regierung abzulehnen, die aus Generälen, Bankiers und Industriellen, Großgrundbesitzern und Beamten bestünde oder diese repräsentierte ..: ` (I, 233).

Gegenüber einem restaurativen Herrschaftsmodell, das die gesellschaftlichen Machtgrundlagen des Faschismus bestehen läßt, favorisiert die Neumann-Gruppe folgende Konzeption: „Die Gesellschaft muß notwendigerweise Bestandteile sowohl der angloamerikanischen als auch der sowjetischen Gesellschaftsstruktur und -praxis aufweisen. Nach dieser Konzeption wäre das künftige Deutschland eine Demokratie mit konkurrierenden politischen Parteien, bürgerlichen Freiheiten und Schutz für Kleineigentümer, gleichzeitig trüge es sozialistische Züge, z.B. Verstaatlichung von Schlüsselindustrien, Banken, Versicherungsinstitutionen und die Aufteilung von Großgrundbesitz“ (I, 229). Die quasi revolutionären Ziele der Neumann-Gruppe wer-den mit zwei Maßnahmenbündeln, die sich wechselseitig ergänzen, verfolgt: Zum einen sollen die alten Eliten in Staat und Gesellschaft aus-geschaltet werden, zum anderen sollen die Verbrechen des nationalsozialistischen Staatsapparats systematisch der Ahndung nach den Kriterien einer rechtstaatlich-demokratischen Ordnung zugänglich gemacht werden.

Die Eingriffe in den Staatsapparat werden personell sehr genau gezielt; sie unterscheiden sich von der späteren, uferlosen, Millionen erfassenden Entnazifizierung, die im Frühsommer 1946 einsetzte. Getroffen werden sollten antidemokratische Funktionsträger, nicht aber eine diffuse Zahl von einzelnen. Auf etwa 220000 Funktionsträger des Staatsapparats, der NSDAP und der Wirtschaft sollte sich der Zugriff richten. Entnazifizierung in diesem ursprünglichen Sinn wurde als ein quaIitatives.Programm der gesellschaftlichen Umgestaltung, als einer konstituierung der Demokratie begriffen: „Die Kräfte des Nationalsozialismus, der Reaktion und Aggression sind in Deutschland tief verwurzelt. Es gibt sie nicht nur in der Partei sondern auch … im Staatsdienst … Um die demokratischen Kräfte zu stärken, muß eine radikale Entnazifizierung durchgesetzt werden“ (I, 245f.).

Das bedeutete, daß die Kerngruppen des alten Herrschaftsapparats ausgeschaltet werden sollten. So sollten beispielsweise „alle Angehörigen des Volksgerichtshofs und der Sondergerichte, alle Generalstaatsanwälte, alle Oberstaatsanwälte“ verhaftet werden. Auf der Ebene der ideologischen Absicherung der NS-Herrschaft sollte sich der Zugriff auf Personen richten, die „an der Verbreitung der Naziideologie“ beteiligt waren. Je nach Belastung sollten diese Funktionsträger inhaftiert, überwacht oder ihrer Ämter enthoben werden (I, 165ff.).

ZugIeich sollten die juristischen Funktionseliten des NS-Regimes für Verbrechen des Staateszur Verantwortung gezogen werden. Zu den Institutionen die für „Verbrechen im Inland“ verantwortlich waren, gehören „die obersten Gerichte, das Reichsgericht, das Reichsverwaltungsgericht, der Volksgerichtshof (einschließlich der höchsten Richter und Oberstaatsanwälte)« (I,199ff.): Die Ausschaltung der antidemokratischen Kader des Staatsapparats bildet die unabdingbare Voraussetzung für die Schaffung einer substantiell demokratischen Ordnung: „Der Geist der Verbrüderung zwischen Richtern und Bürokraten war in der Weimarer Republik eine der mächtigsten Barrieren gegen die Idee der Demokratie in der Justiz- und Verwaltungsbürokratie. Dieser tiefsitzende und listenreiche Korpsgeist kann gebrochen werden“ (I, 247). Die rechtlichen Kriterien, nach denen die Verbrechen des Staatsapparats zu beurteilen sind, konnten sich selbstredend nicht auf die Nazi-Normen und die entsprechenden (Un-) Rechtslehren stützen, denn die umfassende Herrschaftssphäre des Maßnahinenstaates unterlag keinen rechtlichen Begrenzungen. Das hatte zur Folge, daß ein Mord in einem Konzentrationslager nicht als Verbrechen galt. So wird davon ausgegangen, daß „die Nazi-Gesetze … nicht rechtsgültig (waren)“. „Ihre Geltung (unterliegt viel mehr) der Auslegung nach zivilisierten Maßstäben“ (I, 197f.). Nur wenn man, sich auf den Böden der maßnahmestaatlichen Strukturen des NS-Rechtssystems stellt, können die Verbrechen des Staatsapparates nicht geahndet werden „Wenn wir die Naziführer verantwortlich machen, dann müßten sie sich zweifellos fiir all das verantworten, was in Übereinstimmung mit ihren eigenen Normen und mit ihren Richtlinien geschehen ist. Das ,Gesetz`, nach dem die Naziführer gehandelt haben, war in Wahrheit die Abwesenheit jeder rechtlichen Schranke. Ihre Handlungen standen im Gegensatz zu dem, was die überwiegende Mehrheit der Völker für die Grundregeln von Recht und Moral halten. Diese Grundregeln auf die Naziführer anzuwenden, bedeutet nicht Rechtlosigkeit, sondern das Einklagen von Gerechtigkeit“ (I, 183).

 

Der zweite Teil der Emigrationsstudien steht unter dem Vorzeichen des Scheiterns der qualitativen Entnazifizierung und des Aufstiegs der alten gesellschaftlichen Mächte. Minuziös wird dieser. Prozeß nachgezeichnet. Gegenüber der intendierten gesellschaftsverändernden Entnazifizierung sind die Ergebnisse der quantitativen Entnazifizierung fatal: In der amerikanischen Zone wurden ganze 0,1 Prozent (genau 906 Personen) als Hauptschuldige eingestuft. Entfernt aus dem offentlichen Dienst wurden lediglich etwa 0,5 Prozent der höheren Beamten (II, 218f.). Die Konsequenzen liegen auf der Hand: Wenn die Entnazifi zierung in dieser Form beendet wird, „so ist dles für Deutschland und für die alliierte Besatzung eine Katastrophe. Es würde heißen, daß die bereits jetzt fest verwurzelten Exnazis auch späte; einen entscheidenden Einfluß auf das Leben in Deutschland haben werden. … Die(se) Situation gefährdet … die Demokratisierung Deutschlands ; und die politische Moral allgemein“ (II, 244). Dies gilt für alle gesellschaftlichen Bereiche, besonders auch für die Universitäten, die „immer noch Bollwerke der Reaktion und der antidemokratischen Gesinnung (sind)“ (II, 207).

Die Bonner Republik ist auch ein Produkt der gescheiterten Entnazifizierung. Dieser Tatbestand resultiert wesentlich aus der Umorientierung der amerikanischen Deutschlandpolitik, die nun die uneingeschränkte Rekonsolidierung der bürgerlichen Gesellschaft und ihres im Faschismus geprägten Staatsapparates duldet und am Ende selber vorantrieb.

Der Geburtsfehler der Bundesrepublik besteht darin, eine demokratische Verfassung mit antidemokratischen Funktionseliten aufzubauen. Die Folgen liegen inzwischen vor aller Augen. Das System der „Streichelstrafen für Mördernazis“ (Bloch) ist die Spitze des Eisbergs der verweigerten Aufarbeitung der Vergangenheit in der frühen Bundesrepublik. Dieser Prozeß hatte allerdings eine breite Massenbasis, es handelt sich nicht einfach um eine Selbstschutz Verschwörung der alten Eliten. Die „organisierte Unbußfertigkeit“ (Iwand) entsprach der Mehrheitsstimmung in der Bevölkerung. Nicht zuletzt deshalb konnte sich die Restauration der gesellschaftlichen Machteliten des Faschismus weitgehend ungehindert durchsetzen.

Kategorie: vorgänge: Artikel

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