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Umkämpfte Vergan­gen­heit

01. Juni 2005
Datum: Montag, 03. August 2020

Claudia Fröhlich

Joachim Perels Aufsätze zum westdeutschen Umgang mit dem NS-Unrechtsstaat. Aus: vorgänge Nr. 170 (2/2005), S. 141-143

Spätestens seit dem 50. Geburtstag der Bundesrepublik 1999 gilt die historische Entwicklung Westdeutschlands als eine Erfolgsgeschichte. Welche Bedeutung die bis in die 1990er Jahre weit verbreitete Abwehr einer kritischen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit im Kontext dieser Geschichte zukommt, haben in den vergangenen Jahren unzählige Forschungsarbeiten, so von Norbert Frei, Gesine Schwan, Helmut König, Kerstin Freudiger, Ulrich Herbert, Marc von Miquel oder Michael Greve, zum juristischen, politischen und öffentlichen Umgang mit dem NS-Unrechtsregime in Westdeutschland seit 1945 gezeigt. Der Hannoveraner Politikwissenschaftler Joachim Perels hat nun einen systematisch orientierten Zugang zu diesem Aspekt westdeutscher Demokratiegeschichte eröffnet.

Joachim Perels: Entsorgung der NS-Herrschaft?

Konfliktlinien im Umgang mit dem Hitler-Regime,

Offizin: Hannover 2004, 384 S., ISBN 3-930345-42-0; 22,90 Euro

In dem Band publiziert Perels 25 ausgewählte Texte seiner eigenen – immer auf den historischen Einzelfall gerichteten – Forschungsarbeit zum Umgang mit der NS-Herrschaft. Er expliziert auf Grundlage dieser Texte und einer Analyse u.a. der erwähnten Forschungsarbeiten die These, dass zwar die historische Entwicklung der verfassungsrechtlichen Institutionen als eine westdeutsche Erfolgsgeschichte betrachtet werden kann. „Zwischen der wesentlich auf den Grundrechten beruhenden politischen Ordnung und den herrschen-den Bewusstseinsformen bildete sich (aber) ein jahrzehntelang wirksamer Widerspruch heraus, der die Geltung der rechtsstaatlichen Freiheitsprinzipien blockierte.“ (9) Während die Institutionalisierung von Rechtsstaatlichkeit und Freiheitsrechten nach 1945 einen Bruch zum NS-Unrechtsstaat markierte, wurde ihre praktische Realisierung im Umgang mit der NS-Vergangenheit vielfach negiert. In der für das Buch neu verfassten, umfassenden Einleitung zeigt Perels, dass in der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit die „Tendenz“ erkennbar wird, „die rechtliche Bewertung der NS-Herrschaft nicht uneingeschränkt an den Kriterien des Grundgesetzes, der unverbrüchlichen Geltung der Grundrechte zu orientieren, sondern die juristische Doktrin des Hitler-Regimes vielfach zu übernehmen.“ (13)

Eine frühe Wirksamkeit „anti-rechtsstaatlichen Denkens“ (18) erkennt Perels im Zusammenhang mit den 1949 und 1954 vom Bundestag beschlossenen Amnestien. Hier gewann etwa die von dem ehemaligen Justitiar der SS, Werner Best, formulierte Argumentationsfigur Bedeutung, wonach sich nationalsozialistische Verbrechen wegen eines fehlenden Eigeninteresses der Täter einerseits und als politische Straftaten andererseits von gewöhnlicher Kriminalität unterscheiden. So blieb etwa von unteren SS- und Gestapo-Chargen in der letzten Phase der NS-Herrschaft begangener Totschlag, der mit Gefängnis bis zu drei Jahren sanktioniert werden konnte, nach der Amnestie von 1954 straffrei. Die Kontinuität nationalsozialistischer Normen analysiert Perels dabei in der Fortschreibung des mit dem NS-Systems etablierten „Maßnahmenstaates“ (Ernst Fraenkel).

Eine „implizite Fortschreibung von Strukturelementen der juristischen Doktrin des Dritten Reiches“ (18) gab es auch auf der Ebene exekutiver Entscheidungen. So erkannte die Bundesregierung weder den von den Alliierten zur Verfolgung von NS-Verbrechen institutionalisierten Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit noch Artikel 7 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention an, mit dem „Kerngedanken der rechtsstaatlichen Entlegitimierung der NS-Diktatur“ festgeschrieben wurden.

Weitreichende und in einer Kontinuität nationalsozialistischen Denkens verankerte Tendenzen der Exkulpation von NS-Tätern und einer Legalisierung von nationalsozialistischen Gewaltnormen analysiert Perels daneben bei der durch westdeutsche Gerichte vollzogenen Bewertung des unter der NS-Herrschaft durch-gesetzten Rassismus, der „Bekämpfung der politischen Opposition“, dem „Besatzungsterror der Wehrmacht“ und der Beteiligung der Justiz bei der Durchsetzung von NS-Unrecht. So kam etwa ein von dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer geplantes Verfahren gegen die ehemaligen Generalstaatsanwälte und Oberlandesgerichtspräsidenten wegen ihrer Beteiligung an der Realisierung der Ermordung psychisch kranker und behinderter Menschen in der Bundesrepublik nie zustande.

Als eine Ursache für die Wirksamkeit „anti-rechtsstaatlichen Denkens“ beschreibt Perels zwar die Inkorporation der ehemaligen Funktionseliten des NS-Unrechtsstaates in die Institutionen der Bundesrepublik, die zum „Rückgrat der Bundesrepublik“ (S. 23) wurden. Darüber hinaus argumentierten aber auch von biografischen Bezügen nicht betroffene Vertreter der demokratischen Parteien in gedanklicher Kontinuität zum NS-Herrschaftssystem. Während Perels in der Einleitung die gedanklichen Motive und Argumentationsstrukturen aufzeigt, die das Handeln von politischen Akteuren von Exekutive, Legislative und Judikative im Anschluss an nationalsozialistisches antirechtsstaatliches Denken bestimmten, bieten die in dem Band publizierten und in die drei Abteilungen „Struktur der NS-Despotie“, „Das Hitler-Regime vor dem Forum des Rechts“ und „Gesellschaftliche Auseinandersetzung um die Wahrnehmung des Nationalsozialismus“ gegliederten Texte, Einzelstudien zu diesen Problemfeldern.

Die „Ahndung der Staatsverbrechen (durch) die vielfache Sistierung rechtsstaatlicher Maßstäbe (blieb so) ein Torso“ (25) und nur „eine Minderheit von Politikern, Justizjuristen und Strafrechtlern“ sowie „der oberste Gerichtshof der britischen Zone und später das Bundesverfassungsgericht“ entwickelte eine Position, die „den Gehalt der juristischen Herrschaftstechnik des Hitler-Regimes durch den Rekurs auf rechtsstaatliche Kriterien seiner Verpflichtungskraft vollständig entkleideten.“ (21)

Die in der vierten Abteilung des Bandes „Zeugen der Erinnerung“ publizierten Porträts stellen Kritiker der Vergangenheitspolitik vor, etwa Fritz Bauer, Martin Niemöller, Eugen Kogon, Hans Joachim Iwand, Günter Spendel, Heinrich Hannover und Wolfgang Abendroth. Ohne lebensgeschichtliche Brüche oder wie etwa bei Iwand auch „lange und widerspruchsreiche Wandlungsprozesse“ (329) in den Biografien zu glätten, rekonstruiert Perels Motive und Kontexte ihrer Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, die eine Aneignung eigener Schuld, ein Ringen um angemessene Erinnerung oder eine gegenwartsbezogene Analyse des NS-Herrschaftssystems bedeuten konnte, die etwa bei Kogon auf eine „gesellschaftliche Neuordnung“ (327) zielte.

Die in den 1950er und 1960er Jahren von Außenseitern intendierte Aufarbeitung des NS-Unrechtssystems rückte wie die gegenwärtig von anerkannten Institutionen betriebene Forschung die Realität des NS-Unrechtsstaat in den Blick und hat dazu beigetragen, dass sich das „Kräfteverhältnis zwischen denen, die der Aufarbeitung der NS-Herrschaft verpflichtet sind und jenen, die deren – ideologisch oft aufwendige – Verdrängung betreiben […] stark verändert hat.“ (35) Dennoch warnt Perels davor, diese „neue Kräftekonstellation zu überschätzen oder für stabil zu halten“ (36), zumal er in der gegenwärtigen Thematisierung der NS-Vergangenheit „Abwehrmechanismen“ erkennt, die „der inzwischen erreichten Aufarbeitung des Nationalsozialismus auf unterschiedliche Weise ihr Gewicht [..:] nehmen“ (29). Hier beschreibt Perels die unter der Regierung Helmut Kohl oder von Martin Walser durch eine Abstraktion von den realen und konkreten historischen Zusammenhängen vollzogene „Entkonkretisierung“ (30) sowie die Tendenz eines Verlustes „von moralischen Kategorien“ in der Analyse des Umgangs mit dem NS-Unrechtsregime. Als „weitere Methode der Wahrnehmungsabwehr“ nennt Perels die „Umkehrung der Kausalität für die nationalsozialistischen Verbrechen“ (33) und eine „Blockierung der Erinnerung“ (34).

Dem in Hannover ansässigen Offizin-Verlag ist mit der Publikation des Bandes von Joachim Perels eine bemerkenswerte Profilierung auf dem Feld der Forschung zur westdeutschen Demokratiegeschichte gelungen. Denn Verlag und Autor haben sich nicht für einen bloßen Neuabdruck bereits publizierter Texte entschieden, sondern Perels hat Texte aus einem umfangreichen Forschungswerk ausgewählt, und bezogen auf die Frage nach der Bedeutung von Abwehr und Auseinandersetzung mit dem NS-System in der Einleitung zusammenfassend analysiert.

Der Band ist dem Andenken von Fritz Bauer gewidmet. Der hessische Generalstaatsanwalt war nicht nur Initiator des von 1963 bis 1965 geführten Frankfurter Auschwitz-Prozesses. Er unterstützte als Mitbegründer der Zeitschrift Kritische Justiz Ende der 1960er Jahre junge Juristen bei der Etablierung einer kritischen Rechtswissenschaft. Damit lenkt Perels den Blick auf noch unerforschte Felder. Seine Publikation kann als Postulat verstanden werden, in den gegenwärtig so zahlreich geführten Debatten über das NS-System jene Reflexionen über die Fundamente westdeutscher demokratischer Ordnung und normativen Kategorien in der Bewertung von Diktaturen und Demokratien nicht aus dem Blick zu verlieren, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit von gesellschaftlichen Außenseitern erarbeitet wurden.

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