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Der Fritz-­Bau­e­r-­Preis der Humanis­ti­schen Union

25. September 2003
Datum: Donnerstag, 25. September 2003

Zur Geschichte und Aktualität eines Preises

„Gesetze sind nicht auf Pergament, sondern auf empfindliche Menschenhaut geschrieben.“ (Fritz Bauer)

Fritz Bauer wurde vor 100 Jahren in Stuttgart geboren. Er absolvierte seine schulische und akademische Ausbildung in für heute kaum vorstellbarer Geschwindigkeit: im Alter von 18 bis 21 Jahren das Jura – Studium, mit 25 Jahren die zweite große Staatsprüfung und hatte bereits ein Jahr zuvor – 1927 – zum Dr. jur. promoviert mit einer Arbeit über amerikanische Kapitalgesellschaften (truste). Er war dann zwei Jahre Staatsanwalt in Stuttgart und wurde im April 1930, also mit 27 Jahren, Amtsrichter. Er war zum damaligen Zeitpunkt der jüngste Richter des Deutschen Reiches.

Das Jahr 1933 wurde auch für Fritz Bauer zum Schicksalsjahr: im März 1933 wurde er wegen seiner Mitgliedschaft in der SPD und im „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ in Polizeischutzhaft genommen und in das gerade eröffnete Konzentrationslager Heuberg gebracht. Dort traf er auf den ebenfalls internierten und schon vorher befreundeten Kurt Schumacher. Den Nazis war Fritz Bauer nicht so sehr durch seine Mitgliedschaft in der SPD missliebig, sondern als Mitbegründer des Republikanischen Richterbundes in Württemberg und seit 1930 als Vorsitzender der Ortsgruppe Stuttgart des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold.

Zwei Monate später, im Mai 1933, wurde Fritz Bauer aus dem Beamtendienst entlassen, nicht aber, wie es nach dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ ohne weiteres möglich gewesen wäre, nach dem Arier-Paragrafen als Jude. Vielmehr wurde die Entlassung ausdrücklich unter Hinweis auf die politische Tätigkeit von Fritz Bauer verfügt.

Zwei Jahre bleibt Fritz Bauer noch in Deutschland. Ende 1935 – unter dem Eindruck der Nürnberger Rasse-Gesetze – ging er nach Dänemark zu seiner bereits dort lebenden Schwester, wo er sich zunächst als Textilvertreter durchschlug. Nach der Besetzung Dänemarks 1942 durch die deutsche Wehrmacht geriet Fritz Bauer noch zweimal in die Fänge der Nationalsozialisten, wurde jedoch beide Male nach jeweils mehreren Monaten der Internierung nach Einsatz dänischer Stellen wieder entlassen. 1943 floh Fritz Bauer mit seiner Familie nach Schweden. Dort heiratete er und blieb weiterhin politisch tätig. So gründete er zusammen mit Willy Brandt und Willy Seifert die Zeitschrift „Sozialistische Tribüne“. Im Jahr 1944 publizierte er einen zuerst in dänischer und schwedischer Sprache publizierten Aufsatz, in dem Fritz Bauer für die Zeit nach Beendigung der Nazi-Diktatur die Durchführung von Kriegsverbrecher-Prozessen einforderte.

Obwohl Fritz Bauer bereits sehr früh die Absicht hatte, wieder nach Deutschland zurückzukehren, waren die Chancen für einen jüdischen Remigranten im Westteil des Landes keineswegs günstig. Erst im Jahre 1949 konnte Fritz Bauer in Niedersachsen eine Stelle als Landgerichtsdirektor und sodann als Generalstaatsanwalt im – kleinen – Braunschweig antreten. Vier Jahre später (1953) wurde Fritz Bauer vom damaligen hessischen Ministerpräsidenten Zinn zum Generalstaatsanwalt in Hessen berufen. Ihm unterstanden nun 199 Staatsanwälte und die 13 Haftanstalten des Landes. Die Berufung Bauers war eine bewusste Entscheidung für einen auch politisch und öffentlich tätigen Generalstaatsanwalt, denn zu diesem Zeitpunkt hatte Fritz Bauer durch seine umfängliche reformerische Tätigkeit im Strafvollzug bereits einige Bekanntheit erlangt.

Erste größere Bekanntheit über die Grenzen hatte Fritz Bauer noch als Braunschweiger Staatsanwalt 1952 durch den sogenannten Remer-Prozess erlangt. Remer war Vorsitzender der später verbotenen rechtsradikalen Sozialistischen Reichspartei (SRP). Dieser hatte öffentlich die Beteiligten am fehlgeschlagenen Attentat von 20. Juli 1944 als „Landesverräter“ diffamiert. Der nordrhein-westfälische Innenminister Lehr, selbst Beteiligter an der Aktion vom 20. Juli 1944, stellte daraufhin Strafantrag. Das Verfahren endete unter großer Beachtung der Öffentlichkeit mit einer Verurteilung von Remer zu einer dreimonatigen Gefängnisstrafe wegen Beleidigung, übler Nachrede und der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener. Der verurteilte Remer entzog sich der Strafe durch Flucht ins Ausland.

Zum Zeitpunkt des Prozesses waren sieben Jahre seit Kriegsende vergangen. Es hatte wohl die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse gegeben, die sich ganz bewusst auf die Nazi-Größen beschränkt hatten und Prozesse der Alliierten waren. Eine darüber hinausgehende strafrechtliche, juristische Aufarbeitung der Nazizeit durch die Justiz der Bundesrepublik hatte es – im Gegensatz zu der wenn auch in Teilen recht problematischen strafrechtlichen Aufarbeitung in der DDR in den sog. Waldheim-Prozessen – nicht gegeben. Insbesondere war bis zu diesem Zeitpunkt der Widerstand gegen die Nationalsozialisten keineswegs juristisch anerkannt. Man hätte den Eindruck haben können, Hitler und seine Führungselite hätten alle Untaten und Verbrechen der Nazis allein begangen, – wenn deren Verbrechen überhaupt als solche gesehen worden sind.

Dies war der Anknüpfungspunkt für Fritz Bauer. Er plädierte im Remer-Prozess für das Widerstandsrecht als einem „ewig geltendem Menschenrecht“, das über jedem gesetzten Recht und jedem Eid stünde. In einem Staat, der Menschenrechte missachtet und verleugnet, habe jeder Bürger das Recht, seine eigene Menschlichkeit und die seiner Mitmenschen zu verteidigen. Jeder Bürger verfüge über ein aktives Widerstandsrecht. Daneben rekrutierte Fritz Bauer auf eine passive Widerstandspflicht, dass heißt, eine Pflicht, sich nicht an Verletzungen der Menschlichkeit zu beteiligen.

Die Beteiligten des 20. Juli 1944 hätten von dieser menschenrechtlichen Handlungskompetenz gegenüber dem NS-Staat in berechtigter Weise Gebrauch gemacht. Das Gericht folgte dem persönlich von Fritz Bauer vorgetragenen Plädoyer, und wies die Argumente der Verteidigung zurück, die Beteiligten des 20. Juli 1944 hätten sich an die Gesetze halten müssen und insbesondere nicht ihren – auf den Führer abgelegten Eid – brechen dürfen.

Die Verortung des Widerstandsrechts als einer menschenrechtlichen Handlungskompetenz durch Fritz Bauer stand auch im Gegensatz zur bei den neuen Führungseliten des Landes vorherrschenden Sicht des Widerstandes des 20. Juli als einer auf nationale Erhaltung gerichteten Freiheitsbewegung. Gegen solche nationale Attitüde verwehrte sich Fritz Bauer. Das Widerstandsrecht war für Bauer Bestandteil einer zivilen Bürgergesellschaft, ein allgemeines Bürgerrecht. Damit war eine Verortung des Widerstandsrechtes vorgenommen, die nicht nach der politischen Gesinnung der Widerständler fragte.

Der sozialistische und kommunistische Widerstand war nicht Gegenstand des Remer-Prozesses. Angesichts des nach wie vor dumpfen und aggressiv antikommunistischen Klimas jener Zeit – das KPD-Verbot 1956 stand noch bevor – war eine rechtliche Legitimierung des linken Widerstandes zum damaligen Zeitpunkt realistischerweise nicht zu erwarten. Bei einem Widerstandsrecht als einem Bürgerrecht – wie es Fritz Bauer propagierte – war jedoch die Legitimierung und Legalisierung des sozialistischen und Kommunistischen Widerstandes mit eingeschlossen.

Fritz Bauer wandte sich in seinen Aufsätzen auch gegen eine andere Variante der Domestizierung des Widerstandsrechtes: In den Entschädigungsprozessen von Opfern des NS-Regimes ging es immer wieder um die Frage, inwieweit individuelle Widerstandshandlungen einzelner vom universalen Widerstandsrecht erfasst seien. Würden Akte von Einzelnen wie Desertion, Sabotage, Wehrdienstverweigerung etc. als individuelle Widerstandsakte gerechtfertigt und damit legalisiert werden, dann würde diesem Personenkreis ebenfalls ein Recht auf Entschädigung für deshalb erlittene Unbill zuzugestehen sein.

Der damalige – erste – Präsident des Bundesgerichtshofes (Weinkauff) propagierte dagegen, dass in einem totalitären Staat das Widerstandsrecht in erster Linie den staatlichen Funktionsträgern zustünde, die hierzu noch in der Lage seien, und dass der einzelne Staatsbürger diesen nicht vorgreifen dürfe. Auch könne nur der rechtmäßige Widerstand leisten, der intellektuell in der Lage sei, ein „klares und sicheres Urteil“ über die Rechtsverletzungen des Staat zu fällen. Weiter müsse „einigermaßen begründete Hoffnung bestehen“, dass der Widerstand auch Erfolg habe und sich die Sache zum Besseren wende. Die Konsequenz dieser Argumentation war, dass Desertion und Gehorsamsverweigerung von Soldaten nicht als rechtmäßige Widerstandsakte anerkannt wurden mit der Folge, dass hieraus erlittene Verfolgung, zum Beispiel Inhaftierung oder Körperschädigung, nicht als entschädigungspflichtig angesehen wurde. Dies war die Linie der Entschädigungssenate des BGH.

Gegen ein solchermaßen domestiziertes Widerstandsrecht setzte Fritz Bauer das „Widerstandsrecht des kleinen Mannes“, wie er einen 1962 erschienen Aufsatz überschrieb.

Ich zitiere Fritz Bauer:

Der große Widerstand im Unrechtsstaat bleibt nur möglich, wenn der kleine Widerstand gegen das Unrecht im staatlichen Alltag geübt und wie eine kostbare Pflanze gehegt und gepflegt wird.
Normales Instrument des Widerstandes sind eine unerschrockene öffentliche Meinung, politische, soziale und kulturelle Kritik und eine wache Opposition.

Ich zitiere weiter:

Kritik und Opposition sind keine leidigen Missstände, sondern das Lebensprinzip eines demokratischen organisierten Volkes.

 

    (aus: Widerstandsrecht und Widerstandspflicht des Staatsbürgers, 1962, S. 196f).

Diese Domestizierung des Widerstandsrechtes ist keineswegs überwunden, sondern taucht in unseren Asylverfahren immer wieder auf: der akademische, intellektuell versierte und verbal gewandte Flüchtling, der Kader mit großer politischer Perspektive, kommt leichter durch das Nadelöhr des Asylrechts geschritten, als der einfache Mensch, Bauer, der Angestellte, der Chauffeur, der aus mitfühlendem Herzen in Gegensatz zu den Staatsorganen seines Landes gekommen ist.

Für Fritz Bauer war immer klar, dass die Prozesse zur Bewältigung des NS-Unrechts in erster Linie ihre Bedeutung darin hatten, das geschehene Unrecht als Unrecht zu qualifizieren und es von nachrangiger Bedeutung war, welche Strafen im Einzelnen verhängt wurden. Es ging Fritz Bauer darum, diese Prozesse als notwendige Gelegenheit zur gesellschaftlichen und öffentlichen Aufarbeitung des NS-Unrechts nutzbar zu machen. Wie sehr dies notwendig war, mag man daran ermessen, dass der erste große NS-Prozess, der Frankfurter Auschwitz-Prozess, erst 15 Jahre nach Ende des Krieges begonnen werden konnte. Bis dahin waren die Mörder ungeschoren unter uns.

Zu diesem Zweck der Öffentlichmachung des millionenfachen NS-Unrechtes eilte Fritz Bauer, wie ein Freund berichtete, zu Vorträgen, Diskussionen und Tagungen, schrieb unzählige Aufsätze und empfing viele Gesprächspartner und hatte keine Berührungsangst, auch Staatsanwälte aus der DDR zu empfangen. Im Februar 1963 äußerte Fritz Bauer in einem Interview eines dänischen Boulevardblatts:

Wenn ich vollkommen aufrichtig sein soll, glaube ich nicht, dass die junge deutsche Demokratie stark genug wäre, Hitler abzuweisen

    „.

Damit hatte Fritz Bauer eine Debatte entzündet, die monatelang die Öffentlichkeit und Politik beschäftigte. Nicht nur der Sprecher der konservativen Bundesregierung wies diese Äußerung zurück, auch die Bonner SPD-Führung distanzierte sich von Bauer’s angeblichem „verzerrten Bild der wirklichen Situation in der Bundesrepublik„. Im Rahmen dieser Diskussion entlarvte Fritz Bauer die plakative Lebensweisheit „Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps“ als eine wesentliche Wurzel faschistischen und nationalsozialistischen Handelns. Fritz Bauer stellte sich einer Trennung von Amt und Mensch entgegen, die es erlaubte, jedwede Verantwortung von sich abzulenken.

Als Fritz Bauer 1968 verstarb, war man sich in der Humanistischen Union recht schnell einig, dass der ständigen Erinnerung an diesen in jeder Hinsicht Ausnahme-Juristen, dem Mitbegründer der Humanistischen Union, ein Denkmal ständiger Erinnerung gesetzt werden müsse. Dies tat man mit dem nach ihm benannten Preis. Ich zitiere aus der Begründung des Fritz-Bauer-Preises:

Zum Gedenken an ihr Gründungs- und Vorstandsmitglied Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt in Hessen von 1955 bis 1968, stiftet die Humanistische Union einen Preis für besondere Verdienste um die Demokratisierung, Liberalisierung und Humanisierung der Rechtsordnung in der Bundesrepublik Deutschland. Dieser Preis wird alljährlich an Persönlichkeiten oder Institutionen verliehen, die sich im Sinne der Überzeugungen Fritz Bauer’s und der Bestrebungen der Humanistischen Union in allgemeiner Weise oder auf einen besonderen Gebiet darum bemüht haben, der Gerechtigkeit und Menschlichkeit in unserer Gesetzgebung, Rechtssprechung und im Strafvollzug Geltung zu verschaffen

    „.

Seit 1968 ist dieser Preis 26 Mal verliehen worden. Die Preisträger zwischen 1969 und 1981 stehen noch ganz in der Tradition unmittelbarer Gefolgschaft Fritz Bauer’s bei dem Unternehmen der Reformierung des Strafprozesses und des Strafvollzuges. Dabei ging es Fritz Bauer nicht um „einen besseren Strafvollzug, sondern um etwas Besseres als Strafvollzug“.

Ich nenne: Helga Einsele, Preisträgerin des Jahres 1969 und erste Preisträgerin war Freundin und Weggefährtin von Fritz Bauer. Als Leiterin der Frauenhaftanstalt Frankfurt-Preungsheim schuf Helga Einsele erstmals die organisatorischen Möglichkeiten der Unterbringung von straffälligen Müttern zusammen mit ihren Klein-Kindern. Damit wurde unendliches Leid von den davon betroffenen Familien genommen und den Kleinkindern ihre natürliche Bezugsperson erhalten. Auch wurden die Möglichkeiten zu ungestörtem und unbeobachteten Treffen mit den Ehemännern eingeräumt. Beides zur damaligen Zeit geradezu revolutionär.

1971 wurde Brigitta Wolf, geehrt – auch, man mag in der Wortwahl die Großartigkeit des Einsatzes dieser Frau erahnen, der Engel der Gefangenen genannt. Birgitta Wolf leistete als Einzelperson, die Anlaufstelle in unserem Lande für all die Nöte von Strafgefangenen zu werden, zu helfen, wo nur möglich, und damit eine Bresche für die bis dahin kaum bekannte staatlich finanzierte Sozialarbeit zu schlagen.

Ich nenne: Gustav Heinemann, der dritte Preisträger (1970), war der Motor für die Fortsetzung der Strafrechtsreform und der Entrümpelung längst überfälliger Strafnormen (Strafbarkeit der Homosexualität, der Kuppelei-Paragraf, die Abschaffung des Zuchthauses, die Zurückdrängung der kurzzeitigen Freiheitsstrafe, um nur einige besonders markante Punkte zu benennen). Gustav Heinemann war in jeder Hinsicht ein würdiger Preisträger, wie seine persönliche Geschichte kund tut: Gustav Heinemann hat 1951 aus Gegnerschaft der von Adenauer an Parlament und Kabinett vorbei betriebener Re-Militarisierung der Bundesrepublik seinen Ministerposten niedergelegt. Er hat seinen aufrechten Bürgersinn auch dem Bundesverwaltungsgericht in seiner Berufsverbote-Entscheidung propagierten Untertanengeist entgegengestellt. Der ober-gerichtlich den Beamten vorgeschriebenen „warmen Zuneigung“ zum Staate begegnete er trocken mit dem Satz:

Ich liebe meine Frau, aber nicht den Staat.“

Ich nenne: Heinrich Hannover (1973) wurde geehrt für seinen großen Einsatz bei den politischen Prozessen dieser Republik, die Folge des KPD-Verbotes waren. Über 100.000 Ermittlungsverfahren wurden im Gefolge dieses Verbotes durchgeführt und seiner Arbeit zur Erforschung der NS-Justiz.

Mit Peggy Parnass (1980) wurde eine der bedeutenden Gerichtsreporterinnen dieses Landes dafür geehrt, dass sie, wie der damalige Laudator Norbert Kückelmann ausführte, heiße Berichte aus einem kalten Bereich geliefert hat. Ihr ging im Jahr 1976 der erste mit dem Fritz-Bauer-Preis ausgezeichnete Journalist, der unermüdliche Werner Hill voraus.

Gerald Grünwald (1978): Ich darf aus dessen Rede zur Verleihung des Fritz-Bauer-Preises an diesen Bonner Strafrechtsprofessors zitieren, um den ungeheuren und für Fritz Bauer keineswegs eingelösten Nachholbedarf einer Reform des Straf- und Strafprozessrechts anzudeuten:

In welchem Maß die kurzfristigen Freiheitsstrafen eingeschränkt worden sind, läßt sich an den Zahlen der Statistik ablesen, Vergleicht man die Zahl der Verurteilungen im Jahre 1976 mit denen von 1966, so ergibt sich: Seinerzeit, 1966, wurden zu vollziehbaren Freiheitsstrafen bis zu 9 Monaten verurteilt 117.000 Täter; 10 Jahre danach waren es knapp 20.000. Noch anschaulicher wird die Veränderung wohl, wenn man die Gesamtzahl aller zu vollziehbaren Freiheitsstrafen unterschiedlicher Dauer Verurteilten ansieht. 1966 waren das 134.000 – 1976 hingegen knapp 36.000.
Man muß diese Zahlen in Menschenschicksale übersetzen, und dann bedeuten sie: 100.000 Menschen blieb das Leid und die Demütigung der Einsperrung erspart. Erspart blieb Hunderten die Sinn und Trostlosigkeit des Arbeitshauses und die Hoffnungslosigkeit der Sicherungsverwahrung – 1966 waren noch 400 in das inzwischen abgeschaffte Arbeitshaus geschickt worden; die Verurteilungen zur Sicherungsverwahrung sanken in den 10 Jahren von 240 auf 60 – das sind freilich immer noch 60 zuviel.

Und heute nichts dazu gelernt: im Land Baden-Württemberg wurden die Möglichkeiten zur Verhängung der Sicherungsverwahrung jüngst wieder erweitert! Ulrich Vultejus (1981), der Richter, der als Gewerkschaftsmitglied eine Vielzahl von Disziplinarverfahren seines Dienstherrn auf sich zog, weil er gleiches Recht für alle – und das noch öffentlich – forderte. Ulrich Vultejus war in den Jahren 1989 bis 1993 auch Bundesvorsitzender der Humanistischen Union. Zuvor war schon mit Helmut Ostemeyer (1975) ein Richter für seine mutigen justizkritischen Betrachtungen geehrt worden.

Die Fritz Bauer Preisträger des Jahres 1969 bis 1981 sind vornehmlich dem großen Thema des Strafrechts und des Strafvollzuges verpflichtet gewesen, die auch im Zentrum der Arbeit von Fritz Bauer gestanden haben. Diese ändert sich in markanter Weise mit der Preisträgerin des Jahres 1982. Die Themen, für die die mit dem Fritz-Bauer-Preis Geehrten stehen, lassen deshalb auch die wechselnden und sich erweiternden politischen und grundrechtlichen Brennpunkte erkennen. Insoweit kann der Fritz Bauer Preis durchaus als ein grundrechtliches Konjunktur-Barometer in unserem Lande verstanden werden.

Ruth Leuze (1982) – sicherlich allen bekannt hier im Saale – wurde gewürdigt für ihren unermüdlichen Einsatz für den Datenschutz, oder besser, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Als erste baden-württembergische Datenschutzbeauftragte und damals einzige Frau unter den Datenschutzbeauftragten hat sie insbesondere Rückrat gezeigt gegenüber einer Landesregierung, für die Datenschutz eine überflüssige und nur kostspielige, störende und ärgerliche Nebensächlichkeit gewesen ist. Dies hat sich Ruth Leuze nicht gefallen lassen und hat auf die Einhaltung des Datenschutzes auch bei den Behörden des Landes Baden-Württemberg gepocht. Die Schärfe des Konfliktes zwischen der Datenschutzbeauftragten und der Landesregierung und insbesondere dort den Vertretern der Sicherheitsbehörden rührte nicht etwa daher, dass Ruth Leuze gegenüber anderen Datenschutzbeauftragten weitergehende Forderungen erhoben hat. Die Schärfe des Konflikts rührten insbesondere daher, dass Ruth Leuze frei von jedem Untertanengeist ihre Kritik nicht in Watte verpackt und versteckt hat, sondern in offensiver Weise Behörden und Regierung ihre Tricks und Manöver zur Umgehung des Datenschutzes unter Nennung von Ross und Reiter vorgehalten hat – und das noch dazu öffentlich. Damit hat sich Frau Leuze die Sympathie und den Respekt der Bürgerinnen und Bürger verschafft. Frau Leuze hat Bürgersinn gegen Behördensinn gestellt. Seit ihrem Ausscheiden ist es ruhig geworden um den Datenschutz, nicht nur in Baden-Württemberg.

Nach Erich Küchenhoff (1983), Jura-Professor, der sich in der Friedensbewegung insbesondere gegen die Nachrüstung der Nato engagiert hatte und – nicht vergessen – sein lauter juristischer Protest gegen die Massenverhaftungen im Nürnberger Jugendzentrum KOM – ging der Preis 1984 an Ulrich Finckh für seinen unermüdlichen Einsatz bei der Beratung und Unterstützung von Kriegsdienstverweigerern. 1985 kam mit Rosi Wolf-Almanasreh das Problem der ausländischen Mitbürger in unsere Gesellschaft in den Focus der Betrachtung. Frau Wolf-Almanasreh wurde geehrt für ihren jahrelangen Einsatz gegen die Diskriminierung von ausländischen Ehepartnern.

Mit Ossip K. Flechtheim (1986) wurde ein Remigrant wie Fritz Bauer einer war, geehrt. Ossip Flechtheim, Politologie-Professor in Berlin, Autor einer großen Arbeit über die Geschichte der KPD, widmete seine Lehre lebenslang der Bändigung von staatlicher Macht, gleich welcher Couleur. Er hat das Modell des Ombudsmann als Vermittlungsstelle zwischen den Interessen der Bürger und denen des Staates systematisch entwickelt. Ich habe Ossip Flechtheim, der 1998 verstorben ist, in den Zeiten gemeinsamer Arbeit im Berliner Landesverband der Humanistischen Union kennengelernt. Er imponierte durch geistige Lauterkeit und seine menschliche Bescheidenheit.

Mit Eckart Spoo (1988) wurde wiederum ein Journalist geehrt. Eckart Spoo war über Jahre hinweg der kritische Journalist der Frankfurter Rundschau, so kritisch, dass die Frankfurter Rundschau ihrer Liberalität zuwider Eckart Spoo schlußendlich doch noch die Arbeitsstelle aufgekündigt hat. Mit Eckart Spoo war einer der kritischen Journalisten der Republik geehrt worden, der bei der Berichterstattung über die Berufsverboten bis zur Nato-Nachrüstung, über Polizeieinsätze bis zum Missbrauch von strafprozessualen Befugnissen immer an vorderster Linie gestanden, und das Bild einer kritischen Öffentlichkeit gegeben hat, deren Inbegriff und bisweilen Taktgeber er war.

Mit Liselotte Funcke (1990), der ersten Ausländerbeauftragten der Bundesregierung, wurde genauso wie mit der Verleihung an Günter Grass 1997, zuvor schon Rosi Wolf-Almanasreh (1985) das Problem der Ausländerfeindlichkeit in unserer Gesellschaft ins Zentrum gestellt. Im Jahre 1993 wurde mit Erwin Fischer am Ende seines Berufslebens als Rechtsanwalt einer der nachhaltigsten Streiter der Humanistischen Union für eine Trennung von Staat und Kirche geehrt. Erwin Fischer hat dies in von ihm geführten wegweisenden Prozessen getan: Gegen den Religionsunterricht als Versetzungsfach; gegen Kirchensteuerpflichtigkeit des religionsfremden Ehepartners; gegen die christliche Gemeinschaftsschule als Zwangsschule für alle; zum Schulgebet, Konkordatslehrstühle, Grenzen der kircheneigenen Gerichtsbarkeit; Anstalts- und Militärseelsorge – der ganze Kanon nicht realisierter Trennung von Staat und Kirche und die hierdurch gegebenen Gefährdungen der grundgesetzlichen Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Es entbehrt nicht der Ironie, dass mit dem Verlust der Exklusivität der beiden großen Kirchen im Zeichen der Vereinigung Deutschlands (die „Volkskirchen“ sammeln nur noch rund 60 Prozent der Bevölkerung) und der durch Zuwanderung entstandenen insbesondere auch zahlenmäßig starken islamischen Religionsgemeinschaften auch diese Gruppen den Sonderstatus und die damit verbundenen und bisher nur den großen christlichen Gruppen vorbehaltenen Vorteile auch für sich einfordern.

1996 wurden Hanne und Klaus Vack geehrt für ihr unermüdliches Anschieben und Umsetzen politischer Notwendigkeiten in politisches Handeln. Wo den letzten 20 Jahren sich politischer Widerstand vom Singulären zum Massenhaften weitete, da war das Team Vack meist maßgeblich dabei als dessen Organisatoren. Mutlangen, der Widerstand gegen die Nato-Nachrüstung, der Widerstand gegen die Volkszählung 1983 – zusammen mit der Humanistischen Union, um nur zwei Bereiche dieser Kampagnen-Spezialisten des „Komitees für Grundrechte und Demokratie“ zu nennen, wären ohne die Vacks kaum denkbar gewesen.

Mit Helga Seibert 1999 wurde eine Richterin des Bundesverfassungsgerichts geehrt, die ihren Einfluss insbesondere für die Gleichstellung von ehelichen und nicht-ehelichen Kindern und die Gleichheit von Frau und Mann vor dem Gesetz geltend gemacht hat. Mit Regine Hildebrandt war im Jahre 2000 eine Stimme aus den neuen Bundesländern geehrt, die immer Bodenhaftung und die notwendige Respektlosigkeit gegenüber verwachsenden staatlichen Strukturen gezeigt hat – beide Frauen leben nicht mehr. Im Jahre 2001 wurden die 28 Erstunterzeichnenden des Aufrufes zur Desertion im Kosovo-Krieg der NATO ausgezeichnet. Diese Erstunterzeichnenden haben sehenden Auges unter Zurückstellung ihrer eigenen Interessen den Konflikt mit der Staatsgewalt gewagt. Der Aufruf zur Desertion ist eine Straftat. Die Erstunterzeichner wurden dafür geehrt, dass sie sich nicht der herrschenden Regierungspropaganda unterworfen haben, sondern aufgrund der eindeutigen völkerrechtlichen und zwischenstaatlichen Bestimmungen vor diesem Krieg und deutscher Beteiligung hieran als einer nicht vom Völkerrecht gedeckten Angriffshandlung gewarnt haben. Die Gerichte haben diese Unterzeichner und Unterzeichnerinnen letztlich freigesprochen und Ihnen damit – da nur ein Freispruch von persönlicher Schuld – ‚fast‘ Recht gegeben. Man kann mutmaßen, dass ohne den Vorlauf dieser großen öffentlichen Diskussion in den Jahren 1999 bis 2001 und ohne diese Sensibilisierung für das Thema einer Beteiligung Deutschlands an Kriegseinsätzen im Ausland es kaum so klar und einmütig zu einer Ablehnung der Beteiligung Deutschlands am Irak-Krieg zu Beginn dieses Jahres gekommen wäre.

Mit dem Preisträger des Jahres 2003 wird in ganz unmittelbarer Weise in die Spuren von Fritz Bauer eingetreten. Dieter Schenk ist nicht Jurist, er war bis 1991 Kriminalbeamter beim Bundeskriminalamt im Range eines Kriminaldirektors. Dieter Schenk hat die Geschichte des BKA in vielfachen Studien untersucht und seit seinem Ausscheiden aus dem Polizeidienst im Jahre 1989 die ganze braune Vergangenheit des Bundeskriminalamtes nachgezeichnet. Die Kader der faschistischen Polizei und Nazis der ersten Stunde, sind, teilweise mit Schonfrist, alle wieder im Amt und Funktion in den Polizeiapparaten der Nachkriegszeit aufgenommen worden. Diesen Prozess bis im Einzelnen und unbestreitbar für das BKA nachgewiesen zu haben, ist der große Verdienst Dieter Schenks. Er hat nachgezeichnet, wie nicht nur personelle Kontinuität gewahrt worden ist, sondern das von den Faschisten eingeführte Reichssicherheitshauptamt als Zentralstelle der Kriminalpolizeien der Länder konzeptionell in das BKA überführt worden ist.Und was die Arbeit Schenks besonders wertvoll macht: er zeigt, dass diese „Alt-Kriminalisten“ im BKA keine offen erklärten Nazis mehr waren, sondern sich – nolens – volens – den demokratischen Spielregeln des neuen Staates gefügt hatten. Schenk demaskiert dies etwa an dem Satz des langjährigen BKA-Präsidentenen Dickkopf:“Die sicherste Methode, die Demokratie zu zerstören, besteht darin, sie zu übertreiben„. (Schenk, Auf dem rechten Auge blind, 2001, S. 310)

Die Warnung Schenks vor nicht mehr kontrollierbarer Macht zentraler Institutionen wie des BKAs ist aktueller denn je. Ich meine das Sicherheitspaket 2 und 3 der Regierung. Die schrittweise Aufladung der BKA-Befugnisse zu originären informationellen Ermittlungsbefugnissen führt zu einer Machtballung, die die Schöpfer unseres Grundgesetzes gerade hatten vermeiden wollen. Ich füge hinzu: hatten vermeiden müssen unter dem massivem Druck der anglo-amerikanischen Besatzungsmächte. Ich erwähne den sogenannten „Polizeibrief“ der Alliierten von 1949, der für Westdeutschland das Verbot zentralstaatlicher Polizeikompetenz aufstellte.

Ein letzter Preisträger sei genannt, der etwas gemeinsam hat mit dem vor zehn Tagen von der Humanistischen Union gewählten neuen Vorsitzenden: Auch er war bis zur Aufnahme seiner Lehrtätigkeit an einer Fachhochschule für die Öffentliche Verwaltung Polizeibeamter: Hans Lisken, Preisträger des Jahres 1995. Es gab in der Humanistischen Union – damals wie heute – einige Diskussion darüber, ob es opportun sei, einen Polizeibeamten, noch dazu den früheren Polizeipräsidenten von Düsseldorf mit diesem Preis zu ehren, wo doch der Kampf gegen die sicherheitsstaatliche Erosion unseres Gemeinwesens zu einem der zentralen Tätigkeitsbereiche der Humanistischen Union geworden ist. Diese Entscheidung war richtig: sie markiert, dass wir in der Bundesrepublik heute einen gewachsenen Bürgerrechtsstandard erlangt haben, der solche Polizisten erst wieder möglich gemacht hat. Polizisten, die sich gegen die Ausweitung des Einsatzes Verdeckter Ermittler, der Telefonüberwachungen, gegen die verdachtsunabhängigen polizeilichen Kontrollen, gegen Rasterfahndung und massenhafte Speicherung von Daten wenden. Hans Lisken war – wie Gustav Radbruch es formulierte – ein „Jurist aus Freiheitssinn“, nicht ein Jurist aus Ordnungssinn. Darum der Preis an ihn.

Reinhard Mokros, einer seiner damaligen Assistenten, seines Zeichens Polizeidirektor und Ausbilder von Polizei- und anderen Beamten, ist im September 2003, vor gerade zwölf Tagen, zum Bundesvorsitzenden der Humanistischen Union gewählt worden, deren Vorstand er schon lange Jahre angehörte. Ich werte dies als ein Signal, dass die Polizei einen Schritt aus ihrer staatlichen Verbohrtheit herausgekommen ist und – im wahrsten Sinne des Wortes – ein Stück mehr gesellschaftsfähig geworden ist. Dem soll die Arbeit der HU und deren jährliche Verleihung des Fritz-Bauer-Preis dienen: dass nicht mehr der traurige Satz Fritz Bauers gelte: „In der Justiz lebe ich wie im Exil“; und dass Ausnahme-Juristen wie der Generalstaatsanwalt Fritz Bauer zahlreiche Nachfolger beim ‚Kampf ums Grundgesetz‘ (J. Seifert) haben werden, ob sie nun Juristen seien oder nicht; Menschen, die nicht vergessen haben, dass die Grundrechte unseres Grundgesetzes eine bewusste Misstrauenserklärung gegen staatliche und private Übermacht sind.

Den Geehrten des Fritz Bauer Preises wird als äußerem Zeichen eine Medaille überreicht mit dem Konterfei Fritz Bauers auf der einen und einem Satz Fritz Bauers auf der anderen Seite, der jedem, der mit Menschen zu tun hat, ständige Begleitung sein sollte: „Gesetze sind nicht auf Pergament, sondern auf empfindliche Menschenhaut geschrieben.“Diese Arbeit soll gleichzeitig helfen, dass ewig Gestrige wie der frühere Ministerpräsident des Landes Filbinger, der heute noch seine von ihm auf den Weg gebrachten Todesurteile zum Ende des Weltkrieges mit der notwendigen Rettung von vier Millionen Ostflüchtlingen rechtfertigt und es sich als Verdienst anrechnet, dass einem seiner überlebenden Opfer die Flucht gelangt, – dass solche Gestrige auch Gestrige bleiben!

*Vortrag, geringfügig erweitert, gehalten am 25.09.2003 im DGB-Haus in Stuttgart aus Anlass einer Feier der VVN/BDA Baden-Württemberg und HU Freiburg zum 100. Geburtstag von Fritz Bauer

Zum Autor: Dr. Udo Kauß ist Rechtsanwalt in Freiburg i.B., Mitglied im Bundesvorstand der Humanistischen Union 1985 – 1989. Veröffentlichungen zum Thema der Inneren Sicherheit u.a.: Der suspendierte Datenschutz bei Polizei und Geheimdiensten. 1989; zusammen mit Busch/Funk/Narr/Werkentin/v.Zabern, Die Polizei in der Bundesrepublik Deutschland. 1985; Mitherausgeber der Zeitschrift „Bürgerrechte und Polizei“ (CILIP); Mitverfasser der Freiburger Erklärung gegen eine Beteiligung Deutschlands am Irak-Krieg (2003).

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