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Fritz Bauer zwischen Justiz und Politik

01. März 2002
Datum: Dienstag, 10. Juli 1962

Die Veränderungen seiner poltischen Strategie in den sechziger Jahren

Im November 1961 unterzeichnete der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer seine Beitrittserklärung zur Humanistischen Union (HU). In den Monaten zuvor hatte er an der Konzeption und der Gründung dieser ersten Bürgerrechtsbewegung der Bundesrepublik mitgearbeitet; später wurde der Jurist ihr Vorstandsmitglied. Das Jahr 1961 wurde somit für Bauers politische Haltung und seine politische Praxis eine Zäsur.

Die Rückkehr eines Demokraten

1903 in Stuttgart geboren, hatte Fritz Bauer in den zwanziger Jahren in Heidelberg, München und Tübingen Rechtswissenschaft studiert. 1930 war er als jüngster deutscher Amtsrichter in den württembergischen Justizdienst eingetreten. Als Vorsitzender der Ortsgruppe Stuttgart des sozialdemokratischen Wehrverbandes Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und als Mitbegründer des Republikanischen Richterbundes in Württemberg ist er ein Außenseiter unter den Juristen der Weimarer Republik, die bekanntlich in ihrer Mehrheit der Republik eher feindlich gegenüberstanden (Staff 1978: 13).

Fritz Bauer, Jude und seit 1920 SPD-Mitglied, wurde im Mai 1933 von der Gestapo verhaftet, aus dem Staatsdienst entlassen und inhaftiert. Nachdem ihm 1936 die Emigration zunächst nach Dänemark und später nach Schweden gelang, schloss sich Bauer in Stockholm der Exil-SPD an und gründete gemeinsam mit Willy Brandt die Exilzeitung Sozialistische Tribüne. Der politische Jurist galt als Integrationsfigur für sozialdemokratische und kommunistische Flüchtlinge (Wassermann 1974: 296ff.; Wojak/Perels 1998: 9ff.). Nach dem Krieg, als antinationalsozialistische Deutungseliten in Westdeutschland an der Institutionalisierung einer demokratischen Ordnung arbeiteten, schickte er im November 1948 seine Bewerbung um Wiedereinstellung in den Justizdienst von Kopenhagen aus nach Deutschland. Bereits in der Emigration hatte sich Fritz Bauer mit konzeptionellen Überlegungen hinsichtlich der politischen Ordnung einer deutschen Nachkriegsgesellschaft beschäftigt. Seine Rückkehr in den Justizdienst deutete er so: „Ich bin zurückgekehrt, weil ich glaubte, etwas von dem Optimismus und der Gläubigkeit der jungen Demokraten in der Weimarer Republik, etwas vom Widerstandsgeist und Widerstandswillen der Emigration im Kampf gegen staatliches Unrecht mitbringen zu können. (…) Als das Grundgesetz geschaffen wurde, das den Rechtsstaat, die Freiheit und Gleichheit aller Menschen sanktionierte, fuhr ich nach Deutschland zurück. Schon einmal war die deutsche Demokratie zu Grunde gegangen, weil sie keine Demokraten besaß.Ich wollte einer sein.“ (Bauer 1963: 658)

Fritz Bauer wollte als politischer Jurist seinen Beitrag zur Konsolidierung der Demokratie in Deutschland leisten. Mit dem Grundgesetz hatte Westdeutschland die demokratische Ordnung institutionalisiert und sich zur Anerkennung der Würde des Menschen verpflichtet. Bauer meinte nun, dass die Lebensfähigkeit der Demokratie in Deutschland nur durch Etablierung einer demokratischen politischen Kultur, einer Bürgergesellschaft und einer demokratischen Streitkultur zu gewährleisten sei. In dieser Perspektive war eine Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit unverzichtbar. Die deutsche postdiktatorische Gesellschaft und jeder einzelne Bürger, so Bauers Überzeugung, müsse erkennen, welche Ursachen und Bedingungen den Nationalsozialismus und die Verfolgung und Ermordung von Menschen möglich gemacht hatten. Fritz Bauer postulierte eine gesellschaftliche Selbstaufklärung, damit aus den Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen im NS-Staat keinen Widerstand gegen das Unrecht geleistet hatten, Demokraten und mündige Bürger werden konnten, die Menschenrechte anerkennen und verteidigen.

Fritz Bauer hat zunächst als Staats- und Generalstaatsanwalt in Braunschweig und ab 1956 als hessischer Generalstaatsanwalt mit Dienstsitz in Frankfurt am Main die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit eingefordert. Schon in den fünfziger und sechziger Jahren wurde ihm ein legendärer Ruf nachgesagt: Mitte der sechziger Jahre initiierte er den großen Frankfurter Auschwitz-Prozess gegen das KZ-Personal, er ermittelte gegen Adenauers Staatssekretär Globke, er klagte die Juristen als Schreibtischtäter an, die im Nationalsozialismus zu „Gehilfen“ der nationalsozialistischen Verbrechen geworden waren, und er ermittelte wegen der Beteiligung von Ärzten an der sogenannten Euthanasie. Als Fritz Bauer 1968 unerwartet starb, schrieb einer seiner wenigen Freunde in einem Nachruf: „Die Ewiggestrigen haben ihn nicht geliebt“. Bauer galt als der entschlossenste „Verfolger der NS-Verbrechen“, als ein „Prophet der Aufklärung“, als ein „glühender Verfechter menschlicher Würde und Freiheit“ und als der „Querdenker seiner Zunft“ (Wassermann 1968: 41; Frankfurter Rundschau v. 8.7. 1968 u. 18.7. 1993; Krüger 1968).

Dass Fritz Bauer auch in der Bundesrepublik ein Außenseiter bleiben sollte, zeichnete sich bereits im September 1949 ab, als Bundeskanzler Konrad Adenauer in seiner ersten Regierungserklärung sagte, man wolle in Deutschland „Vergangenes vergangen sein lassen“ und eine Amnestie ansprach. Die Politik der Bundesregierung hatte den Aufbau demokratischer Institution und eine Demokratisierung der Gesellschaft durch stillschweigende Integration der ehemaligen Anhänger, Mitläufer und auch der Täter des Nationalsozialismus zum Ziel. Mit der Auffassung von der „Bewältigung der Vergangenheit als (… einer) Bewältigung der Gegenwart und Zukunft“ (Bauer 1965b: 7) wurde Fritz Bauer somit zu einer Gegenfigur von Konrad Adenauer. Die kritische, auf eine Selbstreflexion der Gesellschaft zielende Vergangenheitspolitik Bauers geriet mit der „Vergangenheitspolitik“ der Bundesregierung (Frei 1996) in Konflikt. Wiederum markiert das Jahr 1961 in dieser Konfliktgeschichte in mehrfacher Weise einen Höhepunkt.

Obrig­keits­s­taat­liche Strukturen als Konflikt­po­ten­tial

Als die HU 1963 auf eine zweijährige Arbeit zurückblickte, versicherte sich die Bürgerrechtsbewegung noch einmal ihrer Aufgabe, „die Diskussion bestimmter Strukturprobleme unseres gesellschaftlichen Lebens in Gang zu bringen und die Position derer (zu stärken), die die Bundesrepublik nicht für einen christlichen Obrigkeitsstaat, sondern für eine säkularisierte Demokratie halten (…).“ (Szczesny 1963 [o. S.]) Fritz Bauer kritisierte in diesem Zusammenhang vor allem die weitreichende Verfestigung obrigkeitsstaatlicher Deutungsmuster in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH). Ein Urteil des BGH aus dem Sommer 1961, das sich mit der Bewertung des Widerstandes gegen den NS-Staat beschäftigte, schien ihm exemplarisch hierfür und forderte ihn zu einer öffentlichen Kritik heraus. Es ging um folgenden Sachverhalt: Ein Soldat hatte, wie der BGH in seinem Urteil feststellte, u.a. 1939 „aus Gründen politischer Gegnerschaft zum Nationalsozialismus“ den Kriegsdienst verweigert und war deshalb zu dreieinhalb Jahren Festungshaft verurteilt worden. Der BGH lehnte einen Entschädigungsanspruch des Soldaten nach dem Bundesergänzungsgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (BEG) vom 18.9. 1953 mit der Begründung ab, sein Widerstand sei nicht rechtmäßig gewesen. Als rechtmäßig und entschädigungswürdig könne Widerstand nur dann gelten, wenn die Widerstandshandlung „auf einer einigermaßen sinnvollen Planung beruhte und (…) geeignet war, der NS-Gewaltherrschaft Abbruch zu tun“. Die Wehrdienstverweigerung des Soldaten sei aber eher unbedeutend, der durch seine Kriegsdienstverweigerung verursachte „Kräfteausfall für die deutsche Wehrmacht (sei) verschwindend gering“ und eine wirkungslose „Einzelaktion“ gewesen. Das Gericht erklärte den 20. Juli 1944 zum Vorbild für einen erfolgversprechenden und rechtmäßigen Widerstand gegen den NS-Staat (BGH-Urteil vom 14.7. 1961).

Fritz Bauer sprach angesichts dieses BGH-Urteils von der „Einschränkung“ und „Beseitigung“ des Widerstandsrechts. In einem Aufsatz in der Vierteljahresschrift Geist und Tat analysierte er das Urteil, als dessen „geistigen Vater“ er Hermann Weinkauff in den Blick nahm (Bauer 1962: 82). Tatsächlich hatte der BGH das Urteil auf die Rechtsauffassung seines ersten Präsidenten gestützt, der in zahlreichen Vorträgen und Aufsätze dargelegt hatte, dass Widerstand in einem Unrechtsstaat von den staatlichen Institutionen zu leisten sei, die „unversehrt“ geblieben seien. „Grundsätzlich“ seien „zwar alle zum Widerstand berechtigt“, zunächst aber stehe dem „Amtsträger“ das Widerstandsrecht zu und der „einzelne Staatsbürger dürfe dem nicht vorgreifen.“ Weinkauff hatte seine Rechtsauffassung auch mit dem Hinweis begründet, Widerstand dürfe nur leisten, wer sich ein „klares und sicheres Urteil zutrauen darf.“ (Weinkauff 1956: 18; Weinkauff 1960: 155)

Bauer setzte der Argumentation des BGH das „Widerstandsrecht des kleinen Mannes“ entgegen und kritisierte die „Widerstandsprivilegien“, die der BGH formuliert habe. Diese seien nicht mit der demokratischen Ordnung der Bundesrepublik zu vereinbaren. Später schrieb Fritz Bauer, die Rechtsprechung habe das Wesensprinzip der demokratischen Verfassung anzuerkennen, dass nämlich „das ganze Volk für mündig gehalten wird und zur Mitarbeit aufgerufen ist“ (Bauer 1967: 39).

Die sich im Sommer 1961 gegenüberstehenden Auffassungen zum Widerstandsrecht spiegeln exemplarisch einen Konflikt um die Verfassungswirklichkeit und die Geltung von Normen und Werten der demokratischen Nachkriegsgesellschaft. Dieser Konflikt wurde ausgetragen zwischen einem obrigkeitsstaatlichen und elitären Politikverständnis auf der einen Seite und andererseits einer politischen Haltung, die das Konzept des mündigen Bürgers als Fundament der demokratischen Ordnung versteht.

Fritz Bauer hat in den sechziger Jahren, wohl auch durch die Erfahrung der Verfestigung eines elitären Politikverständnisses, seinen Widerstandsbegriff erweitert: Sprach er in den fünfziger Jahren – als es im Kontext einer weitreichenden Entlegitimierung des Widerstandes noch um die grundsätzliche Durchsetzung der Anerkennung des Widerstandsrechts ging – vom Widerstandsrecht gegen den NS-Unrechtsstaat, so unterschied er in den sechziger Jahren von diesem „totalen Widerstandsrecht“ ein „partielles Widerstandsrecht“. (Bauer 1968a: 292) Während der Begriff „totaler Widerstand“ den Widerstand gegenüber einem Staat anerkannte, der wie der NS-Unrechtsstaat Menschenrechte negierte, postulierte der Begriff vom „partiellen Widerstand“ die notwendige politische Haltung des Bürgers, gegenüber dem Staat Opposition und Kritik einzuüben. Fritz Bauer forderte die Bürger der postdiktatorischen und demokratischen Gesellschaft damit zu einer politischen Haltung auf, die auch politische Praxis bedeutete. Er selbst lebte diesen konstatierten notwendigen Zusammenhang politischen Denkens und politischer Praxis schließlich vor, indem er in den sechziger Jahren als Jurist in den öffentlich geführten politischen Diskussionen Position bezog.

Obrig­keits­s­taat­liche Denkmuster als Konflikt­po­ten­tial

Im Oktober 1960 hielt Fritz Bauer im Rahmen einer vom Landesjugendring Rheinland-Pfalz veranstalteten Tagung einen Vortrag über die „Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns“, in dem er sich mit den sozialen Ursachen des Nationalsozialismus beschäftigte (Bauer 1965a). Fritz Bauer ging der Frage nach, wie es möglich geworden war (und damit immer wieder möglich sein konnte), dass Menschen andere Menschen ausgrenzten, verfolgten und ermordeten. Brisanz gewann diese Frage vor allem durch das Tagungsthema Rechtsradikalismus, das nach dem antisemitischen Anschlag auf die Kölner Synagoge Weihnachten 1959 dieses tagesaktuelle gesellschaftliche Problem aufgriff.

Fritz Bauers Analyse des Nationalsozialismus lenkte den Blick auf Strukturen und Mentalitäten der deutschen Gesellschaft und kritisierte eine reduktionistische intentionalistische Erklärung des Nationalsozialismus: „Der Nazismus ist nicht eine Bewegung gewesen, die von Hitler und ein paar Helfershelfern geschaffen wurde und sich mit ihm erschöpfte.“ (ebd.: 11) Er griff damit ein Erklärungsmuster und einen Exkulpationsmechanismus an, der, wie etwa auch Adenauers Formulierung von den „wirklich Schuldigen“ in seiner Regierungserklärung vom 20. September 1949 (StenBer BT 1950: 27), die Verantwortung für den Unrechtsstaat an eine kleine Führungsriege um Hitler delegierte.

Nachdem Fritz Bauers Referat bei den Teilnehmern der Tagung auf große Resonanz gestoßen war und die gedruckte Fassung schnell Verbreitung gefunden hatte, trat der Landesjugendring mit dem Vorschlag an das rheinland-pfälzische Kultusministerium heran, die Broschüre an den Oberstufen des Landes zu verteilen. Im Ministerium zeigte man sich allerdings empört und teilte mit, man werde von einer Verteilung der Schriften „absehen“ (StenBer LT Rheinland-Pfalz 1962: 1944). Die politische Auseinandersetzung um die Haltung von Fritz Bauer spitzte sich daraufhin zu und schließlich debattierte der Landtag von Rheinland-Pfalz in seiner letzten Sitzung vor der Sommerpause, am 10. Juli 1962, den Vorfall.

Der Kultusminister Eduard Orth (CDU) verteidigte seine Entscheidung. Bauers Text produziere „Fehlurteile“ über die deutsche Geschichte und sei auch „in politischer Hinsicht (…) gefährlich.“ Der Minister fuhr fort: „Die deutsche Geschichte teilt (…) wie die Weltgeschichte lehrt (…) die Anfälligkeit der ständigen Gefährdung der freiheitlichen Ordnung mit allen Staaten und Völkern dieser Erde (…) Würden wir also die Broschüre an unseren Schulen verteilen, so würden wir schwerlich die Aufgabe lösen, auf die es (…) im Rahmen der politischen Bildung und Erziehung heute ankommt; nämlich es kommt darauf an, ein politisches Bewußtsein zu begründen, das sich von der falschen Selbstüberschätzung (…) ebenso fernhält wie aber auch vom Minderwertigkeitsgefühl nationaler Selbstverachtung.“ (ebd.: 1947)

Mit der Analyse autoritärer Mentalitäten hatte Fritz Bauer nach Ansicht des Ministers die bundesrepublikanische Gesellschaft und Nation deklassiert. Ein CDU-Abgeordneter spann die Gedanken des Kultusministers weiter. „Was not tut,“ sagte der Abgeordnete Hermann Matthes, „ist ein neues und geläutertes Nationalbewußtsein (…). Diese positive Hinwendung zu einer geistigen Erneuerung habe ich in den Ausführungen des Herrn Generalstaatsanwaltes Dr. Bauer leider vermißt.“ (ebd.: 1952)

Fritz Bauer hatte in seinem Referat eine Analyse vorgelegt, die nach der Rolle des Individuums fragte, um die Mechanismen der Einbindung des Menschen in ein Unrechtssystem erkennen und in der Demokratie überwinden zu können. Sein politisches Denken, das darauf zielte, den Menschen als handelnden Bürger und politisches Subjekt begreifen zu können, stand in Konfrontation zum politischen Denken der Vertreter der rheinland-pfälzischen CDU, die die deutsche Gesellschaft als Kollektiv und Nation wahrnahm.

Die Debatte in Rheinland-Pfalz und die Deutungskonflikte um den Widerstand zeigen die Pole der Auseinandersetzung in den frühen sechziger Jahren: Eine konservative Deutungsmacht etablierte die Nation als Subjekt in der Demokratie; der kritischen Vergangenheitspolitik hingegen ging es um die Etablierung des Bürgers als Subjekt der demokratischen Ordnung.
Die Debatte in Rheinland-Pfalz ist allerdings noch in anderer Hinsicht aufschlussreich: Während einzelne Abgeordnete der sozialdemokratischen Opposition Bauers Auseinandersetzung mit der Vergangenheit würdigten, weil die Demokratie „geradezu die Freiheit der Diskussion und den kritischen Menschen“ brauche (ebd.: 1941) und er „zu den wenigen deutschen Juristen (gehöre), die den Mut und auch die Möglichkeit haben, zu Zeitfrage offen Stellung zu nehmen“ (ebd.: 1958), erklärten Vertreter der Landesregierung den Generalstaatsanwalt qua Amt für unzuständig: „es ist besser, wenn ein Staatsanwalt sich nicht auch noch in den Streit (…) verstrickt über eine so diffizile und (…) so schwer lösbare Frage.“(ebd.: 1951) Dass der Beamte und Generalstaatsanwalt Fritz Bauer sich selbst als mündiger Bürger in der politischen Auseinandersetzung zu Wort meldete, war für die Christdemokraten Stein des Anstoßes. In ihrer Kritik manifestiert sich eine weitreichende Negation der Idee vom mündigen Bürger.

Negative Bilanz von Fritz Bauer – positive Bilanz für die Demokratie

Fritz Bauer zog Ende der sechziger Jahre eine negative Bilanz seiner Arbeit (vgl. Zwerenz 1968: 92). In seiner Perspektive wurde in der Bundesrepublik weniger für die Etablierung der demokratischen Ordnung mündiger Bürger gekämpft; vielmehr herrsche eine elitäre Auffassung von Politik, die den einzelnen Bürger weiterhin zum Untertan degradiere und politisches Handeln und politische Verantwortung zuerst den institutionalisierten Entscheidungsträgern und Eliten zugestand. Was bedeutete diese negative Bilanz Bauers? Glaubte er, dass eine kritische Vergangenheitspolitik im Kontext der Etablierung des demokratischen Systems normativ und strukturell bedeutungslos gewesen war?Mitunter wird die Auffassung vertreten, für den politischen Juristen Fritz Bauer sei „die Zeit noch nicht reif“ gewesen (Wassermann 1974: 305). Und der Sozialphilosoph Hermann Lübbe postulierte bekanntlich Mitte der achtziger Jahre die These, dass nicht Kritik und Diskussion, sondern eine „gewisse Stille“ das „politisch nötige Medium der Verwandlung unserer Nachkriegsbevölkerung in die Bürgerschaft der Bundesrepublik“ gewesen sei (Lübbe 1983: 334).Diese Einordnungen reproduzieren die Position der offiziellen Vergangenheitspolitik, also eine Abwehr der Vergangenheit und eine weitreichende Entlegitimierung des Widerstands, als gleichsam historische Notwendigkeit. Zudem wird in dieser Sicht allzu leicht die Rolle von Fritz Bauer als politischer Akteur bei der Etablierung der demokratischen Ordnung nach 1945 vergessen. Der politische Akteur Fritz Bauer hat als Generalstaatsanwalt und Beamter in den sechziger Jahren die Rolle des politisch engagierten Bürgers eingenommen, er hat die Funktion des Bürgers als Subjekt in der Demokratie selbsttätig vorgelebt und exemplarisch realisiert. Damit hat er zur strukturellen Etablierung einer demokratischen Kultur und Gesellschaft der Bürger beigetragen und jenseits materieller Misserfolge einen normativen Beitrag zur Konsolidierung der demokratischen Ordnung geleistet.Während Fritz Bauer in den fünfziger Jahren wesentlich auf eine politische Strategie setzte, die eine kritische Thematisierung der Vergangenheit und Demokratisierung der Gesellschaft durch enge Anbindung an politische Deutungseliten durchzusetzen suchte, kann der Beitritt von Fritz Bauer zur HU im November 1961 als eine Reaktion auf die negativen Erfahrungen mit der Verfestigung autoritärer Denkmuster und eines elitären Politikbegriffs interpretiert werden. Bauer begann damit eine neue Strategie. Er schaltete sich in den sechziger Jahren dezidiert als Jurist, politischer Akteur und Kritiker in die politische Auseinandersetzung ein.

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