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Auf der Suche nach dem Bürger. Ein aktueller Litera­tur­be­richt

aus vorgänge Nr. 170: Die Rückkehr der Bürgerlichkeit, S.94-104

Wer heute nach dem Schicksal deutscher Bürgerlichkeit fragt, findet in der Geschichte einer Schriftstellerfamilie jenen Glanz und jene Gebrochenheit, die diese Bürgerlichkeit während der letzten beiden Jahrhunderte kennzeichneten. Die aus einem Lübecker Kaufmannsgeschlecht stammende Familie Mann, in den vergangenen Jahren in alle Verästelungen hinein erforscht und sogar verfilmt, bietet eine symbolische Verdichtung bürgerlicher Werdegänge. Exemplarisch gilt das für die Brüder Thomas und Heinrich Mann, deren lebenslang konfliktgeladene Beziehung zueinander nun von Helmut Koopmann mit beeindruckender Detailversessenheit nachgezeichnet wurde:

Helmut Koopmann: Thomas Mann – Heinrich Mann. Die ungleichen Brüder, C.H. Beck: München 2005, 531 S., ISBN 3-406-52730-2, 29,90 Euro

Der emeritierter Professor für Neuere Deutsche Literatur in Augsburg ist einer der besten Kenner von Leben und Werk der Brüder. Heinrich, der ältere, früh als Schriftsteller erfolgreich und produktiv, stand politisch Zeit seines Lebens links; Thomas dagegen, der jüngere, durch diszipliniertes Arbeiten die Schwierigkeiten mit seinen Werken bekämpfend, durchlebte mehrere politische Metamorphosen – „in wütender Leidenschaft für das eigene Ich“, wie Heinrich es einmal nannte. Es sind zwei Wege deutscher Bürgerlichkeit, die hier repräsentativ werden: der frankophile Heinrich wird zum vehementen Kritiker des wilhelminischen Obrigkeitsstaates und Fürsprecher westlicher demokratischer Gesinnung. Thomas kämpft mit Hass und Ressentiment in den Betrachtungen eines Unpolitischen 1918 gegen undeutschen Republikanismus und
oberflächliche Zivilisation, für tiefsinnige deutsche Kultur und „machtgeschützte Innerlichkeit“, wie er es selber später kritisieren sollte.

Es gehört zu den Paradoxien dieser politischen Brudergeschichte, dass sich der linke Westler Heinrich Mann später im kalifornischen Exil so viel schwerer akkultierte als sein einst national-konservativ gesinnter Bruder. Die ideologischen Wandlungen des Bruders Thomas sind oft beschrieben worden, bis hin zu seiner späten Öffnung für einen Sozialismus als geistig-politische Möglichkeit. Bürgerlichkeit war für ihn ein Lebensthema, ob in den Betrachtungen oder den Buddenbrooks. Die Studie von

Manfred Görtemaker: Thomas Mann und die Politik, S. Fischer: Frankfurt/Main 2005, 284 S., ISBN 3-10-028710-X; 19,90 Euro

vermag da kaum etwas hinzuzufügen. Konventionell referiert der Potsdamer Historiker die sich verändernden Haltungen Manns – zwar ganz aus den Quellen geschrieben, die zahllosen Briefe und Selbstauskünfte auswertend, jedoch ohne Einordnung in die
Ideengeschichte, ohne Antworten auf die Frage, wie repräsentativ dieser Schriftstellerrepräsentant in seinen Positionswechseln gewesen ist.

Gelitten hat Mann erklärtermaßen darunter, wie stark sich das Klima in seiner Wahlheimat München veränderte: von der liberalen Metropole vor dem Ersten Weltkrieg hin zur Stadt des Hitler-Ludendorff-Putsches 1923. Detailliert kann man sich nun
darüber informieren, welche intensive Bindung der Norddeutsche Thomas Mann zu Bayern aufgebaut hatte:

Dirk Heißerer: Im Zaubergarten. Thomas Mann in Bayern, C. H. Beck: München 2005, 303 S., ISBN 3-406-52871-6; 22,90 Euro

Umso schmerzlicher war es für ihn, dass München ihn 1933 ins Exil trieb: Der Protest der Richard-Wagner-Stadt München, mit dem Künstler und Kulturfunktionäre ihn im April 1933 scharf wegen seines großen Essays Leiden und Größe Richard Wagners attackierten, offenbarte, dass der Bürger Thomas Mann im NS-Deutschland keine Heimat mehr hatte.

Die bürgerliche Kultur, für die Thomas Mann stand, ist ein hervorstechendes Wesensmerkmal einer sozialen Schicht, über die sich die Sozialwissenschaften bis heute den Kopf zerbrechen: das Bürgertum. Einen profunden Überblick über die Forschungen
der vergangenen Jahrzehnte, vor allem in den Geschichtswissenschaften, verschafft der Band von

Andreas Schulz: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, Oldenbourg: München 2005, 144 S., ISBN 3-486-55790-4; 19,80 Euro

In der bewährten konzentrierten Form der Reihe Enzyklopädie deutscher Geschichte liefert der Autor, Professor an der Universität Frankfurt/Main, zunächst einen 50seitigen Überblick über die Grundtendenzen zur Geschichte des Bürgertums, um danach mit
großer Sachkenntnis die Diskussionen innerhalb der Forschung vorzustellen. Am Ende findet sich eine thematisch gegliederte, über 450 Titel umfassende Bibliographie zum Thema. Bürgerlichkeit erweist sich über alle Brüche und Wandlungen hinweg als eine
erstaunlich dauerhafte Haltung – und dieser Band als ein brillantes, preiswertes und keine Wünsche offenlassendes Arbeitsmittel.

Der Berliner Historiker Wolfgang Hardtwig hat 15 seiner Aufsätze über die bürgerliche Epoche aus 25 Jahren in einem Sammelband vereint und mit einer elegante Arbeit am Begriff „bürgerliche Hochkultur“ leistenden Einleitung versehen:

Wolfgang Hardtwig: Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters, Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 2005, 387 S., ISBN 3-525-35146-1; 46,90 Euro

Über historisches Erzählen, Historismus und Ästhetisierung der Geschichtsschreibung in jener Zeit, über bürgerliche Kunstkompetenz die Rolle von Sammlern und Mäzenaten wie Harry Graf Kessler und Wilhelm von Bode finden sich hier Texte, ebenso über Architektur und Stadtverwaltung, Landschaftsdarstellungen in der Kunst. Das Panorama, das Hardtwig hier in dieser Zusammenstellung entfaltet, ist weitgespannt, die Verbindung zwischen den verschiedenen Formen der Kulturproduktion und dem Bürgertum immer sichtbar. Melancholischer Empfindungen bei der Betrachtung dieser – unbestechlich analysierten – Hochkulturformen kann man sich kaum erwehren.

Ein schmaler Sammelband, der sich ebenfalls der bürgerlichen Kultur widmet, enttäuscht dagegen, weil er den Mindestanforderungen an eine Publikation kaum genügt:

Clemens Albrecht (Hg.): Die bürgerliche Kultur und ihre Avantgarden, Ergon: Würzburg 2004, 119 S., ISBN 3-89913-368-4; 19 Euro

Diverse Beiträge nicht zustande gekommener Tagungsbände sind hier vereint, die teilweise nicht aktualisierten Referate basieren auf Konferenzen aus den Jahren 1996 oder 2000. Dabei finden sich anregende Texte in dieser disparaten akademischen Resteverwertung: Clemens Albrecht deutet den Salon als Keimzelle der bürgerlichen Kultur in Frankreich, Volker Kalisch variiert recht freihändig über die musikalischen Werke der vergangenen Jahrhunderte, die man unter „bürgerlicher Musik“ subsumieren
könnte, Joachim Fischers Draufsicht auf die Gegenwart gerät zu einem überzeugenden, umfassend belegten Plädoyer, diese immer noch als „bürgerliche Gesellschaft“ zu analysieren (vgl. seinen Beitrag in diesem Heft).

Das Leben deutscher Bildungsbürger im Zeitalter der Extreme: Die Historikerin Helga Grebing hat sich nach dem Tod ihrer Lebensgefährtin 1998 daran gemacht, die Geschichte von deren Eltern zu erforschen:

Helga Grebing: Die Worringers. Bildungsbürgerlichkeit als Lebenssinn – Wilhelm und Marta Worringer (1881-1965), Parthas: Berlin 2004, 317 S., ISBN 3-936324-23-9; 38 Euro

Beide geboren 1881 im Rheinland in bürgerlichen Verhältnissen, schlug Wilhelm nicht sonderlich systematisch die akademische Laufbahn als Kunsthistoriker ein, mit Karrierestationen in Bonn und dann in Königsberg, Marta wurde Künstlerin. Es ist eine unorthodoxe bürgerliche Familiengeschichte: Befreundet mit Gelehrten wie Martin
Buber, Ernst Robert Curtius, Erich von Kahler oder der Dichterin Marie-Luise Kaschnitz, überstehen die linksliberale Intellektuellen paar mit ihren Kindern die NS-Zeit in Königsberg, wo sie einen Kreis mit antinazistische gesonnenen Freunden unterhielten und er als populärer Professor lehrte. Das Kriegsende überlebten sie in Berlin, von 1946 bis 1950 lehrte er in Halle, um dann in den Westen zu gehen. Ein kurviger, facettenreicher Lebensweg inmitten dramatischer Umbrüche erschließt sich dem Leser – und das wunderschön gestaltete Buch hätte einen Preis verdient.

Königsberg, die Stadt, in der Worringer lehrte, hat seine definitive intellektuelle Biographie erhalten:

Jürgen Manthey: Königsberg. Geschichte einer Weltbürgerrepublik, Hanser: München 2005, 736 S., ISBN 3-446-20619-1; 29,90 Euro

Ihrem Autor kommt das Verdienst zu, diese Stadt als Gedächtnisort deutscher Geistesgeschichte – wie Heidelberg, wie Tübingen oder Weimar – rehabilitiert zu haben. Die bürgerliche Welt wurde hierzulande entscheidend von Königsbergern geprägt: Neben Kant, Hamann und Herder auch E.T.A. Hoffmann, der linksliberale 1848er
Demokrat Johann Jacoby, später Hannah Arendt oder Rudolf Borchardt, die hier aufwuchsen. Es ist eine liberale bürgerliche Welt, die Mantheys brillant geschriebenes Stadtporträt erstehen lässt, deren republikanisches Bürgertum bourgeois und citoyen lange Zeit bestens in sich vereinte. Dass diese Geschichte sich im Nationalsozialismus verdüstert, mit antiliberalen Gelehrten wie Arnold Gehlen, Konrad Lorenz, jungen NS-affinen Wissenschaftlern wie Theodor Oberländer, Werner Conze oder Theodor Schieder, wird als Menetekel der Bürgerlichkeit vom Autor ebenfalls minutiös
rekonstruiert.

Wie bürgerlich war Deutschland nach 1945? Dieser Frage geht ein sehr gelungener Sammelband nach, der rasch zum Standardwerk avancieren dürfte:

Manfred Hettling/Bernd Ulrich (Hg.): Bürgertum nach 1945, Hamburger Edition: Hamburg 2005, 438 S., ISBN 3-936096-50-3; 35 Euro

Auf die profunde Einleitung durch Manfred Hettling, der die wesentlichen Figurationen von Bürgerlichkeit theoretisch reflektiert und zusammenfassend vorstellt, folgt ein großes, biographisch angelegtes Interview mit Reinhart Koselleck, Jahrgang 1923 und
einer der bedeutendsten deutschen Historiker der Gegenwart, über seinen bildungsbürgerlichen Lebensweg in der Bundesrepublik. Heinz Bude will bürgerliche Generationen in der Bundesrepublik herausarbeiten, Josef Mooser stellt die Marktwirtschaftskonzeptionen des Ordoliberalen Wilhelm Röpkes vor, Ulrich Bielefeld das allmähliche Ankommen des Soziologen Hans Freyer in der Bundesrepublik. Beiträge über das Selbstverständnis der Bundeswehroffiziere, die Verbürgerlichung von Facharbeitern und Stadtbürgerlichkeit in Bremen finden sich hier ebenso wie Aufsätze zur Frage, wie entbürgerlicht die DDR war oder Wolfgang Kraushaars Betrachtungen über die Antibürgerlichkeit der 68er.

Gab es das von den 68ern so heftig attackierte „bürgerliche Denken“ in der Bundesrepublik überhaupt? Am ehesten mag diese Zuschreibung auf die sogenannte Ritter-Schule zutreffen, jenen Kreis um den Münsteraner Philosophen Joachim Ritter, dem liberalkonservative Denker wie Odo Marquard, Hermann Lübbe, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Robert Spaemann u.a. entstammen (vgl. auch den Beitrag von Jens Hacke in diesem Heft). Die wichtigsten Aufsätze des 1903 geborenen und 1925 bei Cassirer
promovierten Ritters liegen in einer erweiterten Neuausgabe als Suhrkamp-Taschenbuch vor:

Joachim Ritter: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel. Erweiterte Neuausgabe, Suhrkamp: Frankfurt/Main 2003, 458 S., ISBN 3-518-29253-6; 16 Euro

In seinem Aufsatz von 1956 über Aristoteles unter dem Titel „Das bürgerliche Leben“ stellt Ritter die griechische polis als „bürgerlichen Staat“ in den Mittelpunkt; Gesellschaft der Individuen sei hier erstmals möglich gewesen, von hier tradiere sie sich bis heute. Aus der Beschäftigung mit Hegel erwächst Ritters Idee der „Entzweiung“ der bürgerlichen Welt: Zukunft und Herkunft seien auseinandergefallen, sie gehörten jedoch in „positivierter“ Form zusammen: in der Akzeptanz unseres Doppellebens als
Herkunftsmensch und Zukunftsmensch.

In einer Gedenkschrift für ihren Lehrer haben Schüler Joachim Ritters Aufsätze über ihn versammelt:

Ulrich Dierse (Hg.): Joachim Ritter zum Gedenken, Franz Steiner: Stuttgart 2004, 185 S., ISBN 3-515-08626-9; 26 Euro

Hermann Lübbe erinnert sich an die intellektuellen Eindrücke, die man bei Ritter und in dessen Klassikervergegenwärtigung erleben konnte (nicht ohne die üblichen Seitenhiebe gegen die „manifest überschätzte“ Kritische Theorie). Odo Marquard präsentiert seine Bilanz der Philosophie Ritters inklusive vieler persönlicher Reminiszenzen; Gunter Scholtz stellt den Linkshegelianer Ritter und dessen Beschäftigung mit Marx Anfang der 1930er Jahre vor. Am Ende tönt das Archiv: Die Fundamentalkantate, ein musikalischer
Geburtstagsspaß der Schüler von 1957, der den Gehalt der Ritter-Philosophie – zur Musik von der Carmina burana bis zu Weills Mackie-Messer-Song – ironisch zusammenfasst: „Und wir alle sind ja Bürger, die am Freitag hegeln gehen“.

Odo Marquard, der den Text jener Kantate verfasste, hat das Projekt einer Philosophie der Bürgerlichkeit in seinem Werk sich zu eigen gemacht. Wichtige Arbeiten hierzu von ihm liegen jetzt gesammelt vor:

Odo Marquard: Individuum und Gewaltenteilung. Philosophische Studien, Reclam: Stuttgart 2004, 172 S., ISBN 3-15-018306-5; 4,80 Euro

Nach den großen Totalitarismen des Jahrhunderts sei das „Nein zur Bürgerlichkeit“, die „Bürgerlichkeitsverweigerung“, das Übel, das es zu bekämpfen gelte, so der Gießener Emeritus. In pointierter Verdichtung und gewohntem Sinn für Sentenzen und schöne Formulierungen betreibt er in seinen Aufsätzen eine „Apologie der Bürgerlichkeit“: Denn es steht nicht deswegen schlimm in der Welt, weil es zu viel, sondern deswegen, weil es zu wenig bürgerliche Gesellschaft in ihr gibt.“ An dieser knackig-klaren Haltung kann man sich in diesem klugen Bändchen Seite um Seite ergötzen.

Doch man kann auch als Nicht-Hegelianer in der Bundesrepublik nach 1945 für die bürgerliche Gesellschaft streiten: Ralf Dahrendorf, als Popper-Schüler hegelskeptisch, hat in seinem fundamentalen Werk Gesellschaft und Demokratie in Deutschland 1965 den Weg der Deutschen hin zu einer demokratischen Gesellschaft verfolgt. In drei Büchern kann man sich einen Überblick über die gegenwärtigen Positionen des Soziologen verschaffen, in denen Deutschland nicht mehr im Zentrum liegt, sondern der Blick immer mehr auf eine künftige Weltgesellschaft gerichtet ist (vgl. auch das Gespräch mit Ralf Dahrendorf und Paul Nolte in diesem Heft). In sechs Vorlesungen in Essen 2002 hat Dahrendorf die moderne Gesellschaft einführend vermessen:

Ralf Dahrendorf: Auf der Suche nach einer neuen Ordnung. Vorlesungen zur Politik der Freiheit im 21. Jahrhundert, C. H. Beck: München 2003, 157 S., ISBN 3-406-50540-6; 14,90 Euro

In der Globalisierung nehmen die Lebenschancen wie Risiken zu, die liberale Ordnung ist institutionell unter Druck, die „globale Klasse“ entfremdet sich immer mehr von den Unterschichten ihrer jeweiligen Länder. Verblüffend wirkt angesichts der geballten Krisenszenarien, die das Mitglied des britischen Oberhauses entwirft, der liberale
Optimismus, der gleichzeitig durchklingt: die aktivierende Bürgergesellschaft ist die Lösung für alle institutionellen Überforderungen. Ist diese unermüdliche Ausdauer des 1929 geborenen Dahrendorf ein Wesensmerkmal seiner kraftvollen Flakhelfer-Generation?

In einem Gesprächsband stellt Dahrendorf diese Probleme noch einmal im Dialog vor:

Ralf Dahrendorf: Die Krisen der Demokratie. Ein Gespräch mit Antonio Polito, C. H. Beck: München 2003, 116 S., ISBN 3-406-49460-9; 7,90 Euro

Wieder begegnet man dem weitgespannten Geist dieses leidenschaftlichen Soziologen, der scheinbar sämtliche Phänomene der Weltgesellschaft in seinen Kosmos integriert. Skeptisch ist der Optimist gegenüber Gentechnik, Volksentscheiden und der Demokratiefähigkeit der Europäischen Union. Die Herrschaft des Rechts bleibe Voraussetzung, um die liberale Ordnung auch anderswo durchzusetzen.

Dies geschah 1989 in den Ländern Ostmitteleuropas; Ralf Dahrendorf hat die (Wieder-)Errichtung der bürgerlichen Gesellschaft dort mit Enthusiasmus begleitet. Seine wichtigsten Aufsätze aus den Jahren 1990 bis 2003 sind nun gesammelt erschienen:

Ralf Dahrendorf: Der Wiederbeginn der Geschichte. Vom Fall der Mauer zum Krieg im Irak, C. H. Beck: München 2004, 350 S., ISBN 3-406-51879-6; 24,90 Euro

Vom Autor mit erläutern Zwischenbemerkungen aus heutiger Sicht versehen, offenbaren die chronologisch geordneten Beiträge die Bedeutung, die Dahrendorf der Epochenscheide 1989 zumisst – auch wenn in ihr letztlich „nur“ die bürgerlichen Gesellschaft des Westens auf der historischen Tagesordnung stand. Der Themenköcher ist wie immer weit: Braucht Politik Intellektuelle? Warum ist der Dritte Weg New Labours problematisch? Welche Institutionen braucht die Bürgergesellschaft? Welche Werte und wieviel Gemeinschaft braucht das bürgerliche Individuum? Entscheidend ist letztlich das Engagement des Einzelnen, mit dem die liberale bürgerliche Welt ihre Krisen und Konflikte überstehen wird.

Ein anderer Denker der bürgerlichen Gesellschaft nach 1945 ist heute den meisten nur noch durch den von ihm geprägten, von Habermas adaptierten Begriff „Verfassungspatriotismus“ präsent: Dolf Sternberger (vgl. den Beitrag von Michael Th. Greven in diesem Heft). Verdienstvoll also, wenn eine Dissertation diesem Missstand abhelfen will:

Claudia Kinkela: Die Rehabilitierung des Bürgerlichen im Werk Dolf Sternbergers, Könighausen & Neumann: Würzburg 2001, 334 S., ISBN 3-8260-1787-0; 35 Euro

Doch die gespannte Erwartung wird enttäuscht. Zu sehr konzentriert sich die Autorin auf eine textimmanente Werkexegese, zudem in einer Diktion, die dem Stilisten Sternberger nicht gerecht werden kann. Der Lebensweg wird zu sehr nebenbei abgehandelt – was
schon deshalb problematisch ist, weil der mit einer Jüdin verheiratete Sternberger bekennt, Politik von Hitler gelernt zu haben. Nur durch die Gefährdungen nach seiner Entlassung als Redakteur der Frankfurter Zeitung 1943, die Verhinderung einer wissenschaftlichen Karriere des 1907 geborenen Sternbergers nach 1933 durch den
Nationalsozialismus lassen sich die emphatische Hinwendung zum Bürger-Begriff in seiner politischen Philosophie nach 1945 erklären. Aristoteles und die polis bilden den Anknüpfungspunkt für seine Idee der Bürgerlichkeit, darin Hannah Arendt – seiner Kommilitonin und Trauzeugin – und Joachim Ritter ähnlich. Die Konflikte mit Adorno,
Horkheimer und der Kritischen Theorie hätten bei einem der Gründerväter der deutschen Politikwissenschaften eine Ausleuchtung verdient; zu untergewichtet bleiben auch seine
publizistischen Aktivitäten für die FAZ, deren einstiger Herausgeber Joachim Fest in seinem Erinnerungsband Begegnungen ein intensives Sternberger-Porträt gezeichnet hat.

Auch für Fest war Hitler ein Ausgangspunkt, an dem er sich wieder und wieder abgearbeitet hat, auf der Suche nach Möglichkeiten für das deutsche Bürgertum nach 1945. Daher mag auch die eigentümliche Faszination herrühren, die die Gestalt von Hitlers Architekten und Rüstungsminister Albert Speer auf ihn ausübt, und der Heinrich Breyellers TV-Doku-Drama „Speer und Er“ zu Jahresbeginn. Es ist die bürgerliche Nachtseite, die dunkle Seite einer Künstlernatur, die den Bürger Fest herausfordert und die sich nach lebenslanger Beschäftigung u.a. in einer Biographie niederschlug. Nun hat Fest seine Beziehung zu Speer nochmals selbstreflexiv thematisiert und seine Notizen über ihn veröffentlicht:

Joachim Fest: Die unbeantwortbaren Fragen. Notizen über Gespräche mit Albert Speer zwischen Ende 1966 und 1981, Rowohlt: Reinbek 2005, 270 S., ISBN 3-498-021114-1; 19,90 Euro

Es geht um die Verführbarkeit (historisch bekanntlich ein problematischer Begriff) und jene Motive, die einen kultivierten Sohn aus großbürgerlichem Hause dazu brachten, Hitler zu dienen – also die Grundfrage, wenn es um das Scheitern bürgerlicher Eliten hierzulande im 20. Jahrhundert geht. In den Skizzen, die Fest vor allem während seiner Mitarbeit an Speers Erinnerungen verfasste, scheint eine Neigung zur psychologischen Beobachtung durch, die spannend ist, mit der man jedoch das Rätsel Speer letztlich auch
nicht lösen kann. Als Selbstauskunft, über Fests jahrzehntelangen Umgang mit der Schuldfrage des Bürgers Speer, sind diese Notizen aufschlussreich; über die Faszination des Nationalsozialismus für viele bis zum bitteren Ende sagen sie nicht viel Neues.

Wolf Jobst Siedler, der Verleger von Speers Erinnerungen und langjähriger Freund von Fest, hat den zweiten Band seiner Memoiren vorgelegt:

Wolf Jobst Siedler: Wir waren noch einmal davongekommen. Erinnerungen, Siedler: München 2004, 495 S., ISBN 3-88680-790-8; 24,90 Euro

Es ist die Welt des Berliner Westens nach 1945, die dieser 1926 geborene konservative Bürger Revue passieren lässt. Leider ist es ein dem Alter abgerungener, recht ungeordneter Band geworden, der zudem zeitlich zu Beginn der 1960er Jahre endet. Doch eindrucksvolle Passagen finden sich gleichwohl: über die Anfangsjahre der Freien Universität, über die ersten Gehversuche als Journalist, als Sekretär des Congress for Cultural Freedom mitten in den geistigen Debatten des Kalten Kriegs, die Lebenswelt der Berliner Restaurants und Hotels, Begegnungen mit Thomas Mann, Ernst Jünger, Carl Schmitt, Adenauer und Hannah Arend, die Arbeit als 29jähriger Feuilleton-Chef des Tagesspiegels. Durchzogen sind diese Seiten vom melancholischen Ton des Verlusts: die alte bürgerliche Welt, so Siedlers Statements seit vielen Jahren, sie ist nicht mehr. In diesem Herbst werden er und sein Jahrgangsgenosse Fest – die beide übrigens ganz unbürgerlich nicht zu Ende studiert haben, wie Siedler zugibt – noch einmal ein gemeinsames Gesprächsbüchlein über das Ende des Bürgertums publizieren.

So manche ehrwürdige bürgerliche Familie durchwehen ab und an unbürgerliche Züge. An einigen prominenten Beispielen wie den Wagners und den Manns kann man das studieren. Ein Sammelband stellt diese und andere deutsche Familien vor, die historische
Bedeutung erlangten:

Volker Reinhardt (Hg.): Deutsche Familien. Historische Portraits von Bismarck bis Weizsäcker, C.H. Beck: München 2005, 384 S., ISBN 3-406-52905-4; 24,90 Euro

Neben adligen Sippen wie den Bismarcks, den Hohenzollern, den Wittelsbachern, dem Haus Thurn und Taxis gibt es Porträts der Manns und der Mommsens, den Wagners und den Warburgs, den Thyssens und Krupps: Bürgerdynastien, die über Jahrzehnte,
manchmal bis heute, Wirtschaft, Politik und Künste prägten. Die kenntnisreich und sehr gut lesbaren Aufsätze vermitteln die intergenerationellen Zusammenhänge eines Clans, den auf einzelne Figuren konzentrierte Biographien oft nicht leisten können. Die Familie als bürgerlicher Lebensraum wird noch einmal aufgerufen; gegenwärtig scheint sie wieder eine Renaissance zu erleben.

In der DDR war 1945/49 ein Regime an die Macht gekommen, dass das Fernziel der Abschaffung des Bürgertums als Klasse offen anstrebte. Viele der 3 Millionen Flüchtlinge in den Westen bis 1989 stammten wegen der damit verbundenen politischen Repressionen aus den bürgerlichen Schichten. In ihrer Habilitationsschrift hat die
Historikerin Gunilla-Friederike Budde nunmehr untersucht, wie die beruflichen Karrieren weiblicher Akademikerinnen (Ärztinnen, Richterinnen, Lehrerinnen usw.) aussahen:

Gunilla-Friederike Budde: Frauen der Intelligenz. Akademikerinnen in der DDR 1945 bis 1975, Vandenhoeck & Ruprecht 2003, 446 S., ISBN 3-525-35143-7; 49,90 Euro

Zwar entdeckte die DDR-Regierung in den Bildungsbürgerfrauen zunächst in den 1950er Jahren harmonische Elemente, mit denen man erwünschte Bürgertraditionen wie der Klassik in den sozialistischen Kanon integrieren konnte; die Emanzipationskämpfe
der Weimarer Republik wurden für obsolet erklärt. Doch andererseits sah man die Schwierigkeiten, die Dominanz der bildungsbürgerlichen Frauen an Universitäten zu brechen, trotz aller Benachteiligungen und der Bevorzugung von Studentinnen aus „Arbeiterfamilien“. Gerade Arztfamilien kultivierten einen bildungsbürgerlichen Lebensstil mit Hausmusik und Klinikchor, der vor allem deswegen überwintern konnte, weil der Staat der Ärzteabwanderung in den Westen durch Entspannungsmaßnahmen wie fest zugesagte Studienplätze für Arztkinder entgegenarbeiten wollte. Akademikerinnen versuchten ebenso wie ihre männlichen Kollegen, die Nischen im System für sich zu finden.

In die Gegenwart deutscher Bürgerlichkeit: Dass das „planetarische Kleinbürgertum“ (Giorgio Agamben) sich in Zeiten ökonomischer Flaute auf wärmende Innerlichkeit verlegt hat, ist eigentlich naheliegend. Nicht nur Familie und Kinder erfahren wieder neue Wertschätzung; katholische Liturgie, Spiritualität im allgemeinen, literarischer Kanon, Benimmbücher und Ratgeber für das einfache Leben boomen. Von diesem Trend profitierte – neben belanglosen Bestsellern, die stilvolles Verarmen predigen – auch ein feines Buch, das sich gut verkaufte und mit seinem Erfolg als Symptom für eine
Sehnsucht nach bürgerlicher Form gelten kann:

Asfa-Wossen Asserate: Manieren, Eichborn: Frankfurt/Main 2003, 388 S., ISBN 3-8218-4739-5; 22,90 Euro

Der Autor, äthiopischer Prinz und seit 1974 in Deutschland lebend, offenbart in eleganter Manier diejenigen Manieren, auf die seiner Meinung eine bürgerliche Gesellschaft nicht verzichten sollte. Das ganze ist in einem gelehrten und vergnüglichen Plauderton geschrieben, immer mit dem weltläufigen Blick auf die Nachbarn und andere Kulturen. Die Themenpalette dieses dezidierten Nicht-Anstands-Buches ist breitgefächert: Letzte Handkussfragen werden ebenso geklärt wie Tauf-, Geschenk- und Hochzeitsprobleme, aber auch ein Loblied auf den Spießer gesungen. Sollten jene Fragen am Ende die Residuen von Bürgerlichkeit hierzulande sein? Wir wollen es nicht hoffen.

„Bürger auf die Barrikaden“, rief vor ein paar Jahren ein enthemmter Arnulf Baring seinesgleichen zu, um die angeblich egalitär erstarrten Verhältnisse zum Tanzen zu bringen. Mit Stilfragen als Zeitproblem will sich ein Artverwandter des Berliner Emeritus ebenfalls nicht zufrieden geben. Der Verfassungsrichter Udo di Fabio hat aufgeschrieben, was ihm an den Gesellschaften des Westens gegenwärtig nicht gefällt und was sich ändern müsste – das Manifest zum Barrikadenkampf:

Udo di Fabio: Die Kultur der Freiheit, C.H. Beck: München 2005, 295 S., ISBN 3-406-53745-6; 19,90 Euro

Das ehrwürdige Genre der Kulturkritik wird durch dieses Pamphlet höchstens um eine Skurrilität bereichert. Di Fabios Diagnosen, die so ziemlich alle Bereiche der modernen Gesellschaft betreffen (Jugendkult, Kindermangel und Familie, Wertefragen, Nationen, Menschenrechte, Kulturräume und Religion) stehen neben atemberaubend naiven Stammtischparolen: „Beherrschen nicht auf Vernissagen, in den In-Lokalen und in den Rathäusern der Großstädte inzwischen die von der generativen Last befreiten Singles das Geschehen?“ Schuld an solchen Auswüchsen ist natürlich immer wieder 1968, ebenso am „Verlust der erotischen Spannung“ zwischen Mann und Frau; deren Verhältnis hätte sich zur „androgynen Fahlheit entdifferenzierter und politisch korrekt verformter Geschlechterbeziehungen gewandelt. Unsäglich wird es im Kapitel über die Identität der Deutschen, nach dessen Lektüre man an der Eignung di Fabios für das Amt des Verfassungshüters ernstlich zweifeln muss: Der Österreicher Hitler sei schon deshalb
kein Deutscher gewesen, weil er u.a. „keinerlei Neigung für Fleiß und harte Arbeit, keinen Sinn für deutsche Lebensart, bürgerliche Traditionen und christliche Traditionen“ hatte. Komplexitätsreduktion durchzieht das ganze Buch; es wird nicht argumentiert, sondern postuliert. Die Freiheit, um die es dem Autor angeblich geht, wird mit diesen Ressentiments gar nicht erst entstehen, im Gegenteil: sie unterminieren jede Bürgerlichkeit. Solch extremistische Polit-Essayistik, zumal eines Verfassungsrichters, mag hochproblematisch sein; der Belletristik hat der radikale Gestus nicht selten gut getan, man denke an Celine oder Jünger.

Uwe Tellkamp, 1968 in Dresden geborener Arzt, Schriftsteller und Ingeborg-Bachmann-Preisträger 2004, hat sich jüngst an einer Prosavision radikalisierter Bürgerlichkeit versucht:

Uwe Tellkamp: Der Eisvogel. Roman, Rowohlt Berlin: Berlin 2005, 318 S., ISBN 3-87134-522-9; 19,90 Euro

Wiggo Ritter, Philosoph und Sohn eines erfolgreichen, liberalen Bankiers, ist mit seiner akademischen Karriere gescheitert und trifft als Ausgestoßener bei seiner Drift durch die Nachtseiten der deutschen Gesellschaft auf eine mysteriöse „Organisation Wiedergeburt“. In ihr planen, inspiriert vom Geschwisterpaar Mauritz und Manuela, ein Industrieller, ein Bischof, ein CDU-Staatssekretär, eine Freifrau und ein Bundeswehrsoldat das Herbeibomben eines elitären Ständestaates. Auch wenn Wiggo den Taten dieser Truppe letztlich nicht verfällt: ihren Geist teilt er, vom Autor in unangenehm dröhnenden Pathos in Szene gesetzt. Entfesselte Bürger im Kampf gegen die mediokre, wert- und sinnfreie Konsumgesellschaft der Berliner Republik? Die alte Sehnsucht nach der alles umstürzenden Tat agiert sich auf diesen Seiten ungehemmt aus. Der radikalisierte Bürger auf den Barrikaden bleibt offenbar bis auf weiteres die reizvoll-riskante Figur für die offene Gesellschaft, vor dem sie verteidigt werden muss.

Alexander Cammann

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