Publikationen / Mitteilungen / Mitteilungen Nr. 190

Ein Leben zwischen Sicherheit und Freiheit.

Zum Tod von Jürgen Seifert

Mitteilungen Nr. 190, S. 10-11

Am 4. Juni 2005 ist Jürgen Seifert verstorben. Eine Bilanz seines umfangreichen politischen Schaffens können wir an dieser Stelle nicht einmal ansatzweise bewerkstelligen. Nur so viel: Jürgen Seifert war der Humanistischen Union schon frühzeitig verbunden, 1964 trat er unserem Verband bei. Von 1983 bis 1987 war er Bundesvorsitzender der HU, anschließend begleitete er unsere Arbeit als Beiratsmitglied. Immer wieder hat er sich an Projekten der HU beteiligt: So gehörte er zu den Initiatoren des Grundrechte-Reports. Sein publizistisches Engagement galt seit langem der Zeitschrift vorgänge, deren Redaktion er bis zuletzt angehörte und an deren Gestaltung er lebhaft Anteil nahm.

Wie tief Jürgen Seifert im Gedächtnis der Humanistischen Union verankert ist, zeigen nicht zuletzt die vielen Spenden, die nach seinem Tode für ihn eingingen. Allen Spenderinnen und Spendern sei herzlich für ihre Unterstützung gedankt. Unser größter Dank gilt jedoch Mechthild Rumpf, die unsere Arbeit auch in der schwierigen Zeit der Trauer durch einen Spendenaufruf unterstützte.

Wir drucken im Folgenden die Rede seines langjährigen Weg-gefährten Till Müller-Heidelberg ab, die dieser auf der Trauerfeier für Jürgen Seifert am 15. Juni in Hannover gehalten hat.

Trauerrede von Dr. Till Müller-Heidelberg

Lieber Jürgen,

vor 25 Jahren spielten Dein Sohn und meine Tochter gemeinsam in unserem Haus in Laatzen. Während oben im Wohnzimmer zwei Jahre lang von 1979 bis 1981 etwa alle acht Wochen der Arbeitskreis Verfassungsschutz der Humanistischen Union tagte, baute Felix aus Pappkartons in unserem Spielkeller Autos und lehrte Mareike das Autofahren unter der Aufsicht meiner Frau Ulrike. Ergebnis unseres Arbeitskreises, zu dem gehörten Jürgen Seifert, Werner Holtfort (nach dessen Tode Jürgen Seifert Vorstand der Holtfort-Stiftung wurde), Gerhard Saborowski, Wolfgang Killinger, Johannes Haupt, Diethelm Damm und ich, war die HU-Broschüre „Die (un)heimliche Staatsgewalt. Memorandum zur Reform des Verfassungsschutzes“. Damals glaubten wir noch, dass dies möglich sei. Wir waren stolz darauf, in den folgenden Jahren feststellen zu können, dass praktisch jeder Leitende Verfassungsschutzbeamte dieses Memorandum kannte.

Dieses Thema, Innere Sicherheit/Verfassungsschutz/Polizei auf der einen und Demokratie/Rechtsstaat und Freiheits- und Bürgerrechte auf der anderen Seite ist das, was Jürgen Seifert, die Humanistische Union und mich seit 25 Jahren verbindet.

1964 war Jürgen Seifert Mitglied der Humanistischen Union geworden, seit 1974 war er Mitglied des Bundesvorstandes, von 1983 bis 1987 war er Bundesvorsitzender. Acht Jahre später folgte ich ihm als sein Nach-Nachfolger.

1977, auf dem Höhepunkt des RAF-Terrorismus und der dadurch ausgelösten Hysterie, die jeden, der auch nur nach Motivationen der RAF-Mitglieder fragte, der auch nur ihr Verhalten zu verstehen (nicht zu rechtfertigen) versuchte, zum Sympathisanten stigmatisierte … und zur Hauptgefahr des Staates überhöhte, intervenierte die Humanistische Union. Am 9. September 1977 schrieb die Bundesvorsitzende Charlotte Maack an den damaligen Bundespräsidenten Walter Scheel einen Brief, der im Wesentlichen von Jürgen Seifert formuliert worden war und der seine Position – wie auch die der Humanistischen Union – beispielhaft klarlegte.

„Beim Sympathisantenbegriff wird nicht unterschieden zwischen denjenigen, die sich durch Attentate oder ähnliches strafbar gemacht haben, solche Straftaten aktiv unterstützen, dazu auffordern und solche Straftaten billigen, und jenen, die aufgrund rechtsstaatlicher Erwägungen für einen fairen Prozess – ohne Verurteilung im voraus – und für strikte Einhaltung der auch für die Gegner der Verfassung geltenden Verfahrensgrundsätze eintreten oder die aus Sensibilität Mitleid haben (Sympathie) nicht nur mit den Opfern des Terrorismus, sondern auch gegenüber den Akteuren selbst verschuldeter Verstrickung Humanität wahren wollen. Politiker, Instanzen der Strafverfolgung und Publizisten verkennen oder verwischen bewusst den Unterschied zwischen politischer Solidarität mit den terroristischen Straftätern und dem Plädoyer, dass auch für solche Täter die rechtsstaatlichen Schutzpositionen gelten müssen und für sie Menschenwürde und Humanität zu wahren ist … Wer Menschlichkeit auch gegenüber Akteuren selbst verschuldeten Leidens wahrt, ist kein ‚Sympathisant‘ und kein Förderer der Position der Terroristen.“

Dieser von Jürgen Seifert maßgeblich formulierte Brief gehört vielleicht zu den größten Erfolgen der Humanistischen Union. Der damalige Bundespräsident Walter Scheel machte ihn sich weitgehend zu Eigen in seiner Ansprache beim Staatsakt für Hanns-Martin Schleyer am 25. Oktober 1977. Er nannte einerseits deutlich die aktiven Helfer und Propagandisten der Gewalt und des Terrors beim Namen, distanzierte sich jedoch von den verheerenden Folgen des überbordenden Missbrauchs des Sympathisantenbegriffs. Die Bekämpfung der terroristischen Gruppen und ihrer Helfer geschehe am besten dadurch, „dass wir sie von der Würde einer freiheitlichen Ordnung überzeugen … Haben diejenigen, die die Terroristen geistig oder materiell unterstützen, überhaupt noch nicht begriffen, was eine demokratische Lebensordnung ist, so haben diejenigen, die auf der menschlichen Würde auch des Terroristen bestehen, die Demokratie zu Ende gedacht.“

Der Sympathisantenbegriff als politische Waffe war hiermit erledigt. Ein solcher Brief, vielleicht fokussiert auf die Aussage, dass man Sicherheit nicht durch die Einschränkung oder gar Beseitigung von Freiheit erlangen kann, ist heute, 25 Jahre später, genauso gültig, denkt man nur an die Prozesse gegen Mzoudi, Motassadeq oder Darkanzali.

1978 veröffentlichte die Humanistische Union das Memorandum „Wo beginnt der Kernbereich des Rechtsstaats“, welches sich mit den ausufernden Befugnissen der Sicherheitsbehörden befasste. Erstunterzeichner waren u.a. die damaligen beiden Bundesvorstandsmitglieder Jürgen Seifert und Otto Schily. 1981 folgte das bereits erwähnte Memorandum zur Reform des Verfassungsschutzes, „Die (un)heimliche Staatsgewalt“. 1984 veröffentlichte Jürgen Seifert selbst als Bundesvorsitzender die Broschüre „Auf dem Wege zu einer halbkriminellen Geheimpolizei. Memorandum zum Undercoveragent“. 1986 gaben Jürgen Seifert und Ulrich Vultejus gemeinsam „Texte und Bilder gegen die Überwachungsgesetze“ heraus. Im April 1990 veröffentlichte die Humanistische Union in ihrer Schriftenreihe „Weg mit dem Verfassungsschutz – der unheimlichen Staatsgewalt. Enzyklika für Bürgerfreiheit.“ Jürgen Seifert wollte so weit nicht gehen. Aber es wurde unsere erfolgreichste Broschüre – sie erreichte vier Auflagen.

Im Band 20 unserer Schriftenreihe „Innere Sicherheit – ja aber wie?“ unter dem Motto von Benjamin Franklin „Der Mensch, der bereit ist, seine Freiheit aufzugeben, um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlieren“ schrieb Jürgen Seifert über „Entscheidet der BND über das Fernmeldegeheimnis?“ und über „Verfassungswidrigkeit des Einsatzes des Verfassungsschutzes zur Bekämpfung der sog. Organisierten Kriminalität“.

Seit 1997 erscheint jährlich als alternativer Verfassungsschutzbericht der Grundrechte-Report, herausgegeben von ursprünglich vier und inzwischen neun Bürgerrechtsorganisationen, man darf vielleicht sagen unter Federführung der Humanistischen Union. Von der ersten Idee an – einer HU-Tagung 1993 im Haus Villigst in Schwerte – war Jürgen Seifert dabei, von 1997 bis 2003 Mitglied der Redaktion. Auch in den Folgejahren tagten wir in der Regel mindestens einmal im Jahr in seinem Haus in der Blumenhagenstraße. In fast jedem Band schrieb er auch selbst. Im ersten Band 1997 vier Beiträge: „BND – der unkontrollierbare Mithörer“, „Scientology – keine Arbeitsbeschaffung für den Verfassungsschutz“, „Geheimdienste und Polizei: Trennung als Machtbeschränkung“ und schließlich: „Hoheitliche Verrufserklärungen – Verfassungsschutzberichte verletzen Grundrechte“. Im letzten Band von 2003 findet man seinen Beitrag „Polizei ohne Kontrolle. Neue Eingriffe in das Telekommunikationsgeheimnis nach dem Polizeirecht in Thüringen.“

All die Jahre lang verband Jürgen Seifert, die Humanistische Union und mich dieser angebliche Widerspruch von Innerer Sicherheit und Freiheitsrechten. Er hat unsere Bürgerrechtsorganisation geprägt. Wir verlieren mit ihm einen unermüdlichen Streiter für Demokratie und Rechtsstaat, der trotz aller entgegenstehender Erfahrungen nie die Hoffnung und das Vertrauen darauf verlor. Vielleicht deshalb war Jürgen Seifert auch von 1997 bis zuletzt Mitglied eines der geheimsten Gremien der Bundesrepublik Deutschland, der G 10-Kommission.

Ich bin sicher, nicht nur ich sondern auch die Humanistische Union wird ihn nicht vergessen.

nach oben