Aus den Anfängen der HU. Persönliche Erfahrungen

Es ist heute kaum mehr vorstellbar, dass im Sommer 1961 eine „Figaro“-Inszenierung wegen eines angeblich „unsittlichen“ Bühnenbildes verboten wurde. Zu sehen waren verschnörkelt auf einen Plafond gemalte Putten, eher skizzenhaft, es bedurfte der Phantasie, sie zu deuten.

Der bärtige Apostel und Kultusminister von Bayern, Aloys Hundhammer, schritt regierungsamtlich ein. Zu Zeiten des Adenauerstaates galt es, die Werte des „christlichen Abendlandes“ zu verteidigen und das, was man amtlicherseits darunter verstand. Die Erhaltung des Einflusses der Kirchen gehörte unbedingt dazu.

Dies ist der Gründungsmythos der Humanistischen Union, die kurz darauf von dem damaligen Abteilungsleiter beim bayrischen Rundfunk, Gerhard Szczesny, gegründet wurde, – ein Zeichen nicht nur des Protestes, sondern der Versuch, Gegenpositionen zu sammeln und ihnen Einfluss zu verschaffen. Der Gründungsaufruf der Humanistischen Union (HU) ist geprägt vom Pathos der Aufklärungstradition, formuliert aber ebenso deutlich politische Forderungen. „Die Erlösung des Denkens aus der Vormundschaft der Theologie, die Befreiung des Menschen aus den Fesseln obrigkeitsstaatlicher und klerikaler Bindungen, die Verkündung der Menschenrechte und Menschenpflichten, der Ausbau von Erziehungs-, Bildungs- und Fürsorgeeinrichtungen, die allen Bürgern offenstehen, die Entfaltung einer freien Wissenschaft, Presse, Literatur und Kunst – dies alles sind nicht Entartungen, sondern Grundbedingungen des Lebens in einer zivilisierten Gesellschaft.“ Als zentrale Forderung zeichnete sich eine rigorose Trennung von Staat und Kirche ab. „Die im Grundgesetz der Deutschen Bundesrepublik verankerten Rechte der freien Persönlichkeitsentfaltung, der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit, der freien Meinungsäußerung, Information und Forschung sind längst durch eine christlich-konfessionalistische Regierungspraxis ausgehöhlt, wenn nicht außer Kraft gesetzt.“ Dies war keineswegs als Kampfansage gegen die beherrschenden christlichen Kirchen gedacht, sondern aus der „Überzeugung, daß nur die Freiheit, zwischen sehr verschiedenen Weltdeutungen und Existenzweisen wählen zu können, ein menschenwürdiges Dasein möglich macht.“

Die Gründer der Humanistischen Union waren vor allem Professoren der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer, einige Juristen, Gewerkschaftler, auch Theologen (woran Szczesny viel lag) und Publizisten, bald auch prominente Abgeordnete der SPD und der FDP. Eine nicht unerhebliche Gruppe waren Psychoanalytiker, unter ihnen auch Alexander Mitscherlich. Eine „kulturpolitische Korrespondenz“, die unter dem Namen „vorgänge“ monatlich erschien (Vorgänger der noch heute erscheinenden Zeitschrift gleichen Namens), diente vor allem der Dokumentation einschlägiger politischer Vorkommnisse und ihrer Kommentierung und war zugleich Sprachrohr einer „Gegenöffentlichkeit“, ein damals häufig gebrauchter Ausdruck.

Man sollte aus heutiger Sicht nicht unterschätzen, dass in den fünfziger und frühen sechziger Jahren die Schicht der liberalen oder linken Intelligenz klein und ohne großen Einfluss war, dass es in allen kulturellen Bereichen noch ein ausgeprägtes Duckmäusertum gab, und die öffentliche (oder veröffentlichte) Meinung von zwei zentralen verinnerlichten Instanzen geprägt war: einem weitreichend zugestandenen Einfluss der Kirchen und einem aggressiven und unreflektierten Antikommunismus. Einen Autor wie Brecht in der Schule zu lesen, war undenkbar in einer Zeit, als der Außenminister Brentano sogar im Bundestag gegen eben diesen Brecht auf der Bühne wettern konnte. Und in den Schulen war es gängige Praxis, den Unterricht in der „christlichen Konfessionsschule“ mit einem Schulgebet zu beginnen. Dass man mit mangelhaften Leistungen im Hauptfach (!) Religion sogar „sitzenbleiben“ konnte, habe ich selbst erfahren müssen.

Eine Organisation zu gründen, die nicht nur im kulturellen Bereich, sondern vor allem in den Bildungseinrichtungen eine klare Front bezog und nicht nur durch Veranstaltungen mit prominenten Rednern einen Gegenkurs propagierte, sondern auch zur Gegenwehr ermunterte und öffentliche Unterstützung versprach, die darüber hinaus mit (zunächst aussichtslosen) Musterprozessen die Diskussion anheizte, indem sie die inneren Widersprüche dieses Staatswesens aufdeckte, eine Organisation zu gründen, die versteckten Einzelkämpfern ein öffentliches Forum bot und eine Phalanx von nicht einfach zur Seite zu drängenden einflussreichen Persönlichkeiten wirkungsvoll versammelte, – eine solche Organisation zu gründen, war in diesen durchaus noch finsteren Zeiten ein ermutigendes Zeichen der Auflehnung und so ist es kein Wunder, dass in kürzester Zeit in zahlreichen Städten Ortsverbände gegründet wurden, Sammelbecken verstreuter Gleichgesinnter, die endlich die Chance sahen, eine lokale Öffentlichkeit zu konstituieren und zugleich ihre regionalen Konflikte wirksam bearbeiten zu können. Auch an den Universitäten gärte es bereits, wenn auch äußerlich alles noch „in Schlips und Kragen“ ablief und von inneruniversitären Konflikten noch wenig zu spüren war. So wurde bereits 1962 die Humanistische Studentenunion gegründet, die bald an allen wichtigen Universitäten vertreten war.

Vom Honora­ti­o­ren­club zur Bürger­rechts­be­we­gung

Es soll hier nicht die Geschichte der HU ausgebreitet werden, ich möchte nur auf ein paar Aspekte aufmerksam machen, wie aus dieser kulturpolitischen Vereinigung, die ihren etwas unklar hochtrabenden Namen durchaus programmatisch trug, eine Bürgerrechtsbewegung werden konnte, denn das war sie damals – zumindestens gemessen an dem, was wir heute unter Bürgerrechten verstehen – durchaus noch nicht. Es ist nicht so, dass die HU einen vollständigen Wechsel ihrer Themen vollzogen hätte, ganz im Gegenteil: erstaunlich viele Themen sind bis heute aktuell geblieben, obwohl die Akzentuierung sich doch etwas verschoben hat. Heute geht die HU nicht mehr von dem alten Aufklärungspathos aus, sondern von einer konsequenten Position der Verteidigung von Bürgerrechten als einem fundamental wichtigen und unantastbaren Kernbereich in einer eher diffus pluralistischen und zunehmend global bestimmten Gesellschaft. Hoffentlich.

Manches an ihrem Erscheinungsbild hat die HU seit ihrer Gründungsphase beibehalten. Zum Beispiel das Layout, so wie es noch heute ihren Briefkopf ziert. Das ist nicht nur Tradition, sondern symbolisiert auch politische Entscheidungen, eine bestimmte Strategie. Im Briefkopf wird nicht nur eine breite Spalte in Rotdruck geführt, die die Vorstandsmitglieder auflistet, sondern sie enthält auch die Namen eines Beirates, in den immer wieder neue Mitglieder mit ihrem wichtigsten Titel aufgenommen werden. Dieser Beirat hat keine nennenswerte Funktion außer der „prominent“ zu sein, – ohne dieses gewiss fragwürdige Kriterium kommt keiner hinein. Die HU glaubt bis heute, dieser „Fürsprecher mit klingendem Namen“ zu bedürfen, sie vertraut also nicht allein auf die Kraft ihrer Argumente. In der Gründungsphase freilich waren die großen Namen noch Ausweis einer intellektuellen Kraft und der Zusammengehörigkeit: ein Schutzschild nach außen und zugleich ein Bekenntnis, das einschloss, jederzeit für die gemeinsamen Ziele einzustehen. Die auf dem Briefkopf standen, waren auch die, die jederzeit für die HU öffentlich eintraten, mit Vorträgen, Gutachten und Stellungnahmen zur Verfügung standen.

Bei allem politischen Engagement – und dazu gehörte auch eine Flexibilität und Schnelligkeit bei der Antwort auf die Tagesereignisse und Zeitungsmeldungen, wie sie heute kaum noch anzutreffen ist, – im Grunde war die HU in ihren Anfängen vor allem ein Honoratiorenverein. Ein sehr gut vernetzter obendrein, denn fast alle kannten sich persönlich, viele verbanden lange persönliche Bekanntschaften und Freundschaften. Und die „vorgänge“ waren bewusst als „kulturpolitische Korrespondenz“ gestaltet, waren also auch für die Mitglieder ein sehr aktuelles Informationsmedium.

Aber der Erfolg wurde auch sehr bald zum Problem. Denn die vielen Ortsverbände, die überall entstanden, dazu die „Humanistische Studenten-Union“ (HSU), die ebenso starken Zulauf fand, entwickelten rasch ein Eigenleben mit eigenen Vorständen, eigenen Schwerpunkten der Arbeit, eigenen Vorstellungen über wichtige Themen usf. Honoratioren interessieren sich häufig nicht so sehr für Organisationsfragen, sondern pflegen eher ihre informellen Kontakte, in deren Rahmen sich Sachfragen ja auch sehr effizient abstimmen lassen. Aber die neu entstehenden Strukturen der Ortsverbände waren damit nur schwer vereinbar. Gewiss, in München gab es einen Geschäftsführer der HU, der die gesamte Arbeit koordinieren sollte. Aber er agierte nicht sehr glücklich. (Und überdies gab es die Eigentümlichkeit, dass in München therapeutische Verflechtungen zwischen Psychoanalytikern, die im Vorstand saßen, und anderen HU-Verantwortlichen, die ihre Klienten waren, für einen unguten Dauerstreit sorgten, von dem selbst der Vorsitzende der HU, Gerhard Szczesny, nicht verschont blieb. In anderen Ortsverbänden war man höchst befremdet über das, was davon bekannt wurde.) So war es nicht verwunderlich, dass unter den Mitgliedern der HU der Wunsch nach klareren Strukturen laut wurde, nach festgelegten Verantwortlichkeiten und Verbindlichkeiten für den Verband. In einer Mitgliederversammlung in Kassel sollte darüber beraten werden.

Showdown in Kassel

Wer im November 1967 in Kassel dabei war, wird sich nur mit einem gewissen Schaudern erinnern, denn es kam zu einer Kraftprobe unterschiedlicher politischer „Kulturen“: Um Szczesny gruppierten sich jene, die die HU als einen großen Freundeskreis verstanden, der in dieser Weise auch seine politischen Anliegen vertreten sollte – eher informell, bestenfalls mit Mitgliederversammlungen. Auf der anderen Seite waren diejenigen, die eine straff organisierte HU bevorzugten und – entsprechend den demokratischen Zielsetzungen der HU – auch die innerverbandliche Demokratie forderten, also auch ein Delegiertenwesen. Da es sich in Kassel um eine Mitgliederversammlung handelte, versuchte jede Seite möglichst viele Unterstützer mitzubringen. Natürlich musste erst einmal geprüft werden, ob sie überhaupt Mitglieder waren. Szczesnys Freunde waren klar in der Minderheit, von seinen Honoratioren waren die meisten erst gar nicht erschienen. Die anderen, vor allem der Berliner Ortsverband, wurden angeleitet von einem Organisationssoziologen, Walter Girschner, der das ganze taktische Arsenal von Großverbänden, wie etwa der SPD, studiert hatte und auch über sämtliche Geschäftsordnungstricks verfügte, wie man sie im Zusammenhang mit Parteitagen kennen lernen kann. Mit allen Finessen wurde nun für die HU eine neue Satzung verabschiedet, die mit unwesentlichen Modifikationen bis heute gilt. Für Szczesny war das gewiss nicht mehr die HU, wie er sie sich vorgestellt hatte, jedoch muss man zu seiner Ehre sagen, dass er sich bereit erklärte, als Bundesvorsitzender weiterzuarbeiten, denn noch war die HU in der Öffentlichkeit vor allem auch mit seinem Namen identifiziert. Doch sein Rückzug wurde in Kassel eingeleitet, und es war der großen Integrationskraft Walter Fabians zu verdanken, der ab 1969 für vier Jahre Bundesvorsitzender wurde, dass der weitere Rückzug Gerhard Szczesnys aus der HU so geräuschlos und für den Verband unschädlich verlief.

Szczesnys Stärke bestand vor allem darin, Verbindungen zwischen heterogenen Persönlichkeiten herzustellen und sie zum Gespräch über große Themen zusammenzubringen. Darüber hinaus führte er seinem Freundeskreis auch vermögende Persönlichkeiten zu, die bereit waren, seine publizistischen und verlegerischen Unternehmungen zu finanzieren. Auch die HU profitierte in ihren Anfängen von diesem auf die Person Szczesnys fixierten Unterstützungssystem.

Wenn man sich die Vielzahl von Themen ansieht, mit denen sich die HU seit ihrer Gründung beschäftigt hat – sie aufzuzählen und auch nur ihre Zielsetzungen anzugeben, würde allein einen umfangreichen chronikalen Beitrag ausmachen – zeigt sich sowohl Konstanz wie auch Veränderung. Beides hängt wesentlich mit der Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik zusammen und, in der Rhythmik, mit der Themen in den Vordergrund drängen oder eine Zeit lang wieder in den Hintergrund treten, spiegelt sich auch etwas von der Erfolgsgeschichte der HU.

Das Verhältnis von Kirche und Staat spielte in den ersten Jahren eine beherrschende Rolle in vielen Bereichen der Bildungs-, Justiz- und Innenpolitik. In Erwin Fischer, der mit seinem Buch „Die Trennung von Staat und Kirche“ bündig die zentralen Forderungen formuliert hatte, gewann die HU aber auch einen zähen und ausdauernden Juristen, der über Jahrzehnte und auch mit Erfolg versuchte, dieses Thema vor dem Bundesverfassungsgericht durchzufechten. In der Öffentlichkeit verlor dies Thema zwischendurch an Bedeutung, als Streit um Grundrechte ist es bis heute nicht gänzlich ausgestanden. Überhaupt gehört es zu den Veränderungen im Erscheinungsbild der HU, dass anfänglich das öffentliche Wortgefecht, die publizistische Auseinandersetzung einen größeren Stellenwert hatte und die HU dadurch auch stärker und wortmächtiger wahrgenommen wurde. Doch sehr bald gab es eine Verlagerung in Bereiche, die vielleicht zwar erfolgreicher bearbeitet werden konnten, sich aber der Wahrnehmung durch Presse und Medien mehr entzogen. Vor allem der Einfluss auf die Gesetzgebung durch Stellungnahmen, Alternativentwürfe, Formulierungshilfen und Gutachten. Hier ist vor allem die Reform des Strafgesetzbuches zu nennen, die Ende der sechziger Jahre begonnen wurde. Nur ein kleiner Teil davon – etwa die Abschaffung des § 175 StGB (Homosexualität) – fand auch ein größeres Echo in der Öffentlichkeit. Die Verlagerung eines Großteils der Arbeit der HU in den justizpolitischen Sektor hat bis heute angehalten: ihr für die öffentliche Wahrnehmung eher schwieriger Charakter ist bis heute für die HU ein Problem.

In den siebziger Jahren begann in der Bundesrepublik mit dem überraschenden Phänomen des Terrorismus eine verdeckte Staatskrise, die in der grotesk anmutenden Hilflosigkeit begründet lag, selbstbewusst mit den vorhandenen legitimierten Mitteln zu reagieren. Stattdessen wurde mit einer Vielzahl von „Terroristen-Gesetzen“ (neue Straftatbestände, Kontaktsperre, Verteidigereinschränkungen etc.) versucht, einen Erfolg herbeizuzwingen, was im Hinblick auf die Bewältigung des Terrorismus zum Scheitern verurteilt war, sich in den Auswirkungen auf das rechtsstaatliche System jedoch katastrophal auswirkte. (Dass einschränkende Gesetze, einmal eingeführt, dann vor allem für ganz andere Zwecke missbraucht werden, ist eine in Deutschland seit der Weimarer Zeit hinreichend bekannte Erfahrung.) Hinzu kam eine Praxis staatlichen Handelns, die ebenso hilflos wie martialisch war, ineffizient aber einschüchternd. Dass in dieser Ausnahmesituation ein internationales Russel-Tribunal zur Situation der Menschenrechte in der BRD gegründet wurde, war nur eine der Folgen. Es war gewiss eine Bewährungsprobe für die HU, sich an der Arbeit dieses Tribunals allen Einwänden zum Trotz, es handle sich dabei um ein unterwandertes Propagandamanöver, zu beteiligen mit der unbefangenen Selbstgewissheit, sich von niemandem beeinflussen zu lassen und nur nach Maßgabe eigener Erkenntnisse zu urteilen. Durch diese ebenso engagierte wie neutrale Arbeit hat die HU in einer aufgeheizten Situation darüber hinaus sehr zur Versachlichung und Entschärfung der Konfliktlinien beigetragen.

Vermutlich resultiert aus dieser Zeit, den späten siebziger Jahren, auch innerhalb der HU ein deutlicheres Bewusstsein dafür, dass der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit, – von der Forderung nach Trennung von Kirche und Staat, über die Auseinandersetzung über die Notstandsgesetze, Fragen des Post- und Fernmeldegeheimnisses, des Datenschutzes, des Verfassungsschutzes und der Geheimdienste, des Radikalenerlasses, der Formulierung eines Kernbereichs der Demokratie, bis hin zu Einzelfragen des Strafrechts wie etwa der Abschaffung des § 218 StGB, – in erster Linie eine Verteidigung der Bürgerrechte ist. Denn erst seit dieser Zeit tauchte der Begriff der Bürgerrechte in HU-Publikationen häufiger auf und führte schließlich zu der auch in ihrem Werbematerial häufig benutzten Formulierung, dass die HU „die älteste deutsche Bürgerrechtsorganisation“ sei.

Volkmar Braunbehrens, Jahrgang 1941, ist Schriftsteller und lebt in Freiburg

Dieser Beitrag erschien in: vorgänge 155 (3/2001), S. 62-67

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