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Biopolitik und Bürger­status

Über die Neigung des Staates, seine Bürger Mores zu lehren, in: vorgänge Nr. 194 (2/2011), S. 60-68

Abgeordnete sind nur ihrem Gewissen verpflichtet, so sagt es das Grundgesetz. Was verfassungsrechtlich der Normalfall ist, bildet jedoch eine Ausnahme vom politischen Regelfall, bei dem sie dem Fraktionszwang unterworfen sind und nutzenkalkulatorische Erwägungen wie auch das Interesse an gesellschaftlicher Akzeptanz, an Mehrheits- und Machterhalt wie selbstverständlich Eingang in ihre Entscheidungen finden, bisweilen gar ein Hintanstellen moralischer Bedenken erzwingen. Das mag ein Grund sein, weshalb der Abgeordnete in den seltenen Fällen, in denen eine Abstimmung freigegeben wird, seinen normativen Erwägungen umso unverblümter folgt. Die argumentative Hermetik einer Moral, die sich nicht zur Disposition stellen will, sondern Anerkennung verlangt wird geradezu zum Gütesiegel einer so verstandenen parlamentarischen Gewissensfreiheit. Doch ist diese Gewissensfreiheit des Artikels 38 eingebettet in die Gewissensfreiheit aller Bürger nach Artikel 4. Obgleich das Grundgesetz zwischen beiden keine Rangfolge festlegt, besteht ein eigentümliches Spannungsverhältnis, denn was der Abgeordnete unter Berufung auf sein Gewissen entscheidet, würde der Bürger gerne in dem einen oder anderen Fall mit seinem eigenen Gewissen alleine ausmachen. Diesem Begehren begegnet wiederum der Abgeordnete nicht selten mit Argwohn.

Jahrzehntelang war der Dienst an der Waffe Gegenstand eingehender Prüfung der Unwilligen und wer die biopolitischen Debatten des Bundestages der vergangenen Jahre verfolgt hat, sei es zur Stammzellenforschung, zur Präimplantationsdiagnostik oder zu Patientenverfügung und Sterbehilfe, vernimmt schnell einen misstrauischen Grundton gegenüber dem moralischen Urteilsvermögen des Bürgers. Dessen Ethik erscheint bestenfalls als konsequenzialistisch, von egoistischen Motiven geprägt und niederen Nutzenkalkülen durchtränkt. Die gängige Theorie, in der dieser Vorbehalt seinen Ausdruck findet, ist die der schiefen Ebene. Auf ihr führt die kleinste Freiheit, die man dem Bürger gewährt, geradezu automatisch zu den verwerflichsten Handlungen: Was mit therapeutischem Klonen beginnt, endet beim reproduktiven, was zur Vermeidung von Erbkrankheiten diagnostiziert wird, führt zur Auslese von Wunschkindern, wer Töten auf Verlangen gestattet, wird irgendwann auch ohne Verlangen töten.

Das Bild der schiefen Ebene ist populär und lässt die restriktive Haltung des Bundestages in biopolitischen Fragen als einen Akt moralischer Prävention erscheinen. Doch diese Haltung ist nicht unproblematisch, denn sie widerspricht in vielen Fragen dem Willen der Mehrheit der Bevölkerung. Jeder ist früher oder später betroffen von der Art und Weise, wie Sterben hierzulande geregelt wird. Und die Gesellschaft hat eine sehr dezidierte Meinung über die Entscheidungsräume, die dem Einzelnen dabei gegönnt werden sollen. Sie will ein hohes Maß an Selbstbestimmung. Ein gleiches Maß will sie auch bei Formen vorgeburtlicher Diagnostik und den sich daraus ergebenden Entscheidungen den werdenden Müttern zugestanden wissen.

Nun muss legislatives Handeln nicht unbedingt dem Willen des Volkes folgen. Da es sich um Gewissensentscheidungen handelt, mag mancher Abgeordnete es sogar als Qualität erachten, nicht auf die vox populi zu hören. Wenn jedoch normative Ansprüche gesetzlich reguliert werden, ist es schon erheblich, wie die Bevölkerung darüber denkt. Eine Gesetzgebung, die relevante Teile der Bevölkerung moralisch belehren will, ruft den Widerwillen der so Bevormundeten hervor, ein Parlament, das so einschneidend wie das deutsche in der Biopolitik verfährt, muss folglich gute Gründe auf seiner Seite haben.

Betrachtet man diese Gründe, fällt eine Besonderheit auf, die Deutschlands Gesetzgeber ziemlich einzigartig unter den OECD-Staaten macht. Während in den anderen Staaten die Frage einer liberaleren oder konservativ-klerikalen Haltung in Fragen der Bioethik mit der Vorherrschaft der jeweiligen politischen Lager korreliert, dominiert in Deutschland ein seltsames Bündnis von christlichem Konservativismus und linksbürgerlichem Liberalismus das diskursive Feld. Rot-Grün war die einzige linke Regierung im OECD-Raum, die ein strenges Embryonenforschungsgesetz erlassen hat. Sie konnte sich dabei des konservativen und kirchlichen Zuspruchs sicher sein. Und auch bei der Abstimmung über die Präimplantationsdiagnostik kamen nicht wenige der entschiedensten Gegner einer Freigabe aus den Reihen von SPD und Grünen.

Während aus christlicher Sicht dieser Konservativismus konsequent ist, ist er auf Seiten der parlamentarischen Linken erklärungsbedürftig. Beide berufen sich in keinen Widerspruch duldender Tonlage auf den Würde- und den Lebensschutz des Grundgesetzes. Für eine solche Verfassungsinterpretation geben die Urteile der dritten Gewalt allerdings bislang wenig her. Die Verbindung liegt vielmehr in der naturrechtlichen Betrachtung gesellschaftlicher Verhältnisse, die gleichermaßen der christlichen Moralvorstellungen wie ökologischen Strömungen der Grünen eigen ist und die ihre Wurzel in einer spezifischen sozial-moralischen Melange der bundesrepublikanischen Geschichte findet.

Der Bamberger Sozialwissenschaftler Simon Fink, der diesen Zusammenhang untersucht hat, kommt zu der Erkenntnis, dass die Stärke der konservativen Argumentation nicht in ethischen Erwägungen gründe, sondern in der Tatsache, „dass die Gegner der verbrauchenden Embryonenforschung eine wichtige diskursive Ressource auf ihrer Seite“ [1] haben. Sie interpretieren die Verfassung als eine Reaktion auf die Erfahrung des Nationalsozialismus, dessen Anfängen es auch heute noch zu wehren gilt. Das moralische Bild der schiefen Ebene schöpft seine Kraft aus dieser historischen Quelle. Dass die beste Vorbeugung gegen einen Rückfall in diese Vergangenheit in einer möglichst restriktiven Haltung liege, ist die argumentative Figur, welche auch linke, sozialdemokratische und grüne Abgeordnete jenseits ihres ansonsten gepflegten Liberalismus, zu einer christlich-konservativen Haltung in biopolitischen Fragen tendieren lässt. Während die aus den Verbrechen des Nationalsozialismus zu ziehenden Lehren in der Gewissensfrage der Kriegsdienstverweigerung gegen Ende der neunziger Jahre vor allem durch die Grünen und ihren Außenminister völlig uminterpretiert wurden und sich seitdem in einer argumentativen Beliebigkeit verlieren, bestimmen diese Lehren in der Biopolitik nach wie vor das diskursive Feld, ohne dass die Schlüssigkeit ihrer aktuellen Anwendung jeweils nachgewiesen würde. Sie drängen den politischen Gegner zuverlässig in die argumentative Defensive, auch wenn dies bisweilen nur um den Preis einer geradezu denunziatorischen Verkehrung der Tatsachen möglich wird. So warnten vor der Abstimmung im Bundestag die Befürworter eines PID-Verbotes in ihrem Positionspapier vor einer Gesellschaft, in der der Staat (sic) darüber entscheide, welches Leben sich entwickeln dürfe und welches nicht und dass mit der PID „eine Selektion menschlichen Lebens (sic) allein auf Grund einer schweren Erkrankung oder Behinderung wieder (sic) in die deutsche Rechtsordnung eingeführt“ werde.

Ob Begriffe wie „Selektion“, „Lebensunwertes“ und „Lebenswertes“, gar „Holocaust“ im Zusammenhang vorgeburtlicher Diagnostik, Behandlung und der Embryonenforschung oder „Euthanasie“  im Kontext der Sterbehilfe verwandt werden, die Konnotationen, die ausgelöst werden sollen, sind eindeutig. Die Worte verfehlen ihre Wirkung nicht, denn man begegnet ihnen im Duktus der Rechtfertigung, kaum einer kommt auf den nahe liegenden Gedanken, dies als Instrumentalisierung, um nicht zu sagen Banalisierung, nationalsozialistischer Verbrechen zum Zwecke der tagespolitischen Auseinandersetzung zurückzuweisen. 

Der Rigorismus in der Biopolitik, der seine Bilder der nationalsozialistischen Vergangenheit entlehnt, kann dies nur plausibel machen, indem er eine Verletzung der elementarsten ethischen Norm in Beidem erkennt und zu seinem Anliegen macht: die Verletzung der Würde des Menschen. Dass der Artikel. 1. GG. als eine unmittelbare verfassungsrechtliche Konsequenz aus den Schrecken des Nationalsozialismus formuliert wurde, ist unstrittig. Hingegen ist die Angemessenheit seiner Anwendung auf den Status des Embryonen umstritten. Denn damit werden zwei Erfahrungsgehalte über den gleichen normativen Leisten gebrochen, die im sozial-moralischen Empfinden der Gesellschaft sehr unterschiedlich rangieren. Was die Menschenrechtsverletzungen des NS-Regimes an kollektivem Entsetzen, Scham und Empörung hervorgerufen haben, dürfte sich kaum in gleicher Weise auf die Praxis der Gen-Labore und Befruchtungs-Kliniken übertragen lassen. Solchermaßen ihres sozial-moralischen Resonnanzkörpers entkleidet, drohen Menschenrechtsverletzungen jedoch zu abstrakten Wertverletzungen zu verkommen. Das ist der Preis, der zu zahlen ist, wenn der Begriff der Menschenwürde umstandslos auf den gesamten Bereich der Reproduktionsmedizin ausgedehnt wird. „Bedenklich ist diese Strategie der moralischen Landgewinnung,“ so der Philosophen Wolfgang Kersting, „weil sie zur moralischen Zerdehnung und semantischen Entleerung unserer moralischen Grundbegriffe führt. In meinen Augen ist es eine ungeheuerliche Missachtung menschlichen Leids, das Erniedrigen, Quälen und Töten, das Foltern Vergewaltigen und Verwahrlosen von Mitmenschen dem forscherlichen Umgang mit empfindungslosen humanbiologischen Zellansammlungen gleichzusetzen.“ Kersting verweist darauf, dass „unsere Moralbegriffe (…) eine komplexe Bedeutung (haben), die empirische, ästhetische und imaginative Dimensionen umfasst. Wenn die Begriffe diesen Erfahrungs- und Vorstellungsraum verlassen, werden sie dieser sinngebenden Bedeutungselemente beraubt und verlieren ihre lebensweltliche Verständlichkeit“. [2]

Die Verfechter des Rigorismus erkennen die Differenz und suchen sie mit konsequenzialistischen Betrachtungen der schiefen Ebene zu überbrücken. Doch das „Wehret den Anfängen“ ist eine rhetorische Figur, die keine logische Verbindung knüpft, sondern ihre Plausibilität lediglich aus einem impliziten christlich geprägten Menschenbild bezieht. Doch „mit einer „Heuristik der Furcht“ (Hans Jonas), die drohende Dammbrüche beschwört, das Schlechte für insgesamt wahrscheinlicher  als das Bessere erklärt und den modernen Menschen überhaupt auf einer schiefen Bahn ins Reich des moralisch Verwerflichen sieht, ist im Streit um die PID nichts gewonnen.“ [3] Was der systematische Theologe Friedrich Wilhelm Graf anlässlich der Gesetzgebung zur PID formuliert hat, gilt gleichermaßen für die anderen Bereiche der Biopolitik. Das in der Anwendung an Missbrauch Mögliche ist kein hinreichender Gradmesser der Norm.

Nun müssen all diese Überlegungen einen konsequenten Vertreter des Würdeschutzes in der Biopolitik nicht anfechten. Er kann sich auf die logische Unabhängigkeit des Moralischen zurückziehen und in der mangelnden gesellschaftlichen Resonanz ein Problem der Vermittlung erkennen, dessen Beseitigung eine Frage der Nachdrücklichkeit ist, mit der dem normativen Postulat Geltung zu verschaffen ist. Die Verfechter eines umfassenden Würdeanspruchs bestehen denn auch auf dessen Unkonditioniertheit, auch wenn dies sie bisweilen in naturrechtliche Fahrwasser bringt, die auf christlichen Quellen verweisen, welche wiederum der Neutralität verfassungsrechtlicher Vorgaben widersprechen.

Gleichwohl bewegen auch sie sich im gesellschaftlichen Feld und sind in dem Zwiespalt, Mehrheiten erringen zu wollen, ohne ihnen Konzessionen machen zu können. Doch gerade weil ihre Position bedingungslose Akzeptanz verlangt, ist sie auf Widerspruchsfreiheit verwiesen, und dies umso mehr, als es auch ihren Intentionen zufolge nicht lediglich eine abstrakte Wertefrage geklärt werden soll, sondern damit zugleich Vorgaben für die strafrechtliche Einordnung der jeweiligen Handlungen gemacht werden.

Unstrittig ist, dass jedem einzelnen lebenden Menschen menschliche Würde zukommt und der Staat entsprechende Achtungs- und Schutzpflichten hat. Kontrovers ist die Frage, wieweit die Anerkennung der Würde in den vorgeburtlichen Prozess reicht und welche rechtliche Einordnung daraus erfolgt.

Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 besagt in ihrem ersten Artikel: „Alle Menschen sind gleich an Würde und Recht geboren“. Ein vor-geburtlicher Würdestatus war mit dieser Formulierung nicht festgeschrieben. Die Notwendigkeit einer ethischen Einordnung, die gesellschaftlich normierende, gesetzgeberische Konsequenz verlangt war vielmehr das Resultat der sich ab den sechziger Jahren zuspitzenden gesellschaftlichen Auseinandersetzung um die Abtreibung und darauf folgend einer Debatte um die neu aufkommenden Biotechnologien.

Zwar ist der Begriff der Menschenwürde schon seit der Antike Gegenstand philosophischer Betrachtung, in Völkerrecht und Verfassungen hat er jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg Eingang gefunden. Seine Verankerung war eine Antwort auf die Gräuel des Nazi-Regimes doch besaß er zugleich eine über diesen Entstehungskontext hinausweisende Dimension. Die Erfahrung verletzter Menschenwürde hat, so Jürgen Habermas, „eine Entdeckungsfunktion“, im Lichte historischer Herausforderungen würden jeweils andere Aspekte von ihr aktualisiert, die „ebenso zu einer weiter gehenden Ausschöpfung des normativen Gehalts verbürgter Grundrechte wie zur Entdeckung und Konstruktion neuer Grundrechte führen“ [4] können. Diese heuristische Funktion der Menschwürde ist jedoch eingebettet in das gleichmäßige Zusammenwirken der liberalen Freiheitsrechte mit den demokratischen, sozialen und kulturellen Teilhaberechten. Damit ist „die verletzte „Menschenwürde“ ein Seismograph, der anzeigt, was für eine demokratische Rechtsordnung konstitutiv ist – nämlich genau die Rechte, die sich die Bürger eines politischen Gemeinwesens geben müssen damit sie sich gegenseitig als Mitglieder einer freiwilligen Assoziation von Freien und Gleichen achten können.“ [5] Mit dieser Dimension ist das Feld abgesteckt, auf dem sich eine gesellschaftliche Intuition von Menschenwürde und ihrer Verletzung ausgebildet hat. Der Würdeschutz des Menschen im vorgeburtlichen Status, wie er prominent vom früheren Richter am Bundesverfassungsgericht Ernst-Wolfgang Böckenförde vertreten wird, geht darüber hinausgeht.

Die Würde, die ein fertiges Wesen auszeichnet, lässt sich nach dessen Worten, „nicht von seinem Lebensprozess abspalten, muss diesen vielmehr mit umfassen.“ Dieser Lebensprozess des sich ausbildenden  Menschen beginnt für ihn mit der Verschmelzung von Samenzelle- und Ei, dem Abschluss der Befruchtung. Durch sie bilde sich ein „neues eigenständiges menschliches Lebewesen. (…) Es sind (…) alle Grundvoraussetzungen und Fähigkeiten dafür vorhanden, dass ein individueller Mensch entsteht bzw. sich als solcher entwickelt.“ Daraus folgert Böckenförde: „Hier und nicht irgendwann später, setzt die Würde des Menschen ein und ebenso die Verpflichtung der Rechts- und Verfassungsordnung, sich schützend vor dieses Leben und seine Entwicklung zu stellen.“ [6]

Diese Verpflichtung bekommt die befruchtete Eizelle allerdings erst zu spüren, seit und sofern sie außerhalb des Mutterleibes Gegenstand ihrer Erforschung und Entwicklung geworden ist. Hingegen war ihre Tötung durch Nidationshemmer noch nie Gegenstand verfassungsrechtlicher Erregung, obgleich diese ungleich zahlreicher geschah und geschieht, als die in den Petrischalen der Labore und Praxen. Man kann in diesem eklatanten Wertungswiderspruch eine nicht explizit gemachte  Rücksichtnahme auf eine von der Gesellschaft geübte und von dieser als moralisch akzeptabel betrachteten Praxis sehen, die nur gegen starke Widerstände zu ändern wäre.

Doch nicht nur bezüglich der Reichweite embryonalen Würdeschutzes muss sich Böckenfördes Festlegung hinterfragen lassen, auch seine Bestimmung des Lebensbeginns erweist sich als ein Axiom, dass sich nicht aus normativen Erwägungen ableitet, sondern definiert wird und mit gleichfalls plausiblen Argumenten auch früher oder später datiert werden kann. Bereits im Vorkernstadium, wenn sich Samen und Einzelle, jedoch noch  nicht die Chromosomen vereinigt haben, sind die Böckenfördeschen Bedingungen menschlichen Lebens gegeben, gleichwohl genießt die befruchtete Eizelle in diesem Stadium laut Embryonenschutzgesetz keinen Rechtsschutz. Aus dieser kurzen Entwicklungsdifferenz „einen metaphysischen Unterschied („Embryo“, also Mensch versus „imprägnierte Eizelle“, also nicht Mensch) abzuleiten, wenn es doch der gleiche Prozess mit biologisch gleichem Endergebnis ist“, mutet dem Molekularbiologen Jens Reich „freilich wie ein legalistischer Trick an, um die Verwendung von mehr als drei Eizellen für die mehrstufige Behandlung (bei der künstlichen Befruchtung, der Autor) auch bei uns möglich zu machen.“ [7]

Menschenrechte sind Individualrechte, das bedingt, dass auch der Würdeschutz nur einem Individuum (etwas „Unteilbarem“) zukommen kann. Diesen Status hat ein Embryo jedoch noch nicht ungedingt ab der Geburt, denn in den ersten vierzehn Tagen, etwa bis zum Zeitpunkt der Nidation, kann er sich noch teilen. Aus dieser Möglichkeit zieht der Rechtsphilosoph Horst Dreier, den Schluss: „Solange Mehrlingsbildung möglich ist, stehen Individualität und Identität des Embryos noch nicht fest.“ [8] Von einer genetisch determinierten und kontinuierlichen Entwicklung könne keine Rede sein.

Diese Schlussfolgerung deckt sich  mit der bisherigen Rechtssprechung des Bundesverfassungsgericht, dass in seinem Urteil zum §218 von 1975 zwar mit Böckenförde festgestellt hat, dass „wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu“, zugleich zum Beginn dieser Existenz aber festgehalten hat: „Leben im Sinne der geschichtlichen Existenz eines menschlichen Individuums besteht nach gesicherter biologisch-physiologischer Erkenntnis jedenfalls vom 14. Tage nach der Empfängnis (Individuation, Nidation) an.“ Auch in seinem zweiten Urteil zum §218 aus dem Jahr 1993 stellte das Bundesverfassungsgericht  auf Einmaligkeit, Unverwechselbarkeit und „nicht mehr teilbares Leben“ ab. Entsprechend sah es bislang keinen Anlass, die Verwendung von Nidationshemmern zu beanstanden.

Doch hat das Bundesverfassungsgericht mit seiner Rechtssprechung zum §218 den Boden für die restriktiven Formulierungen der ihr folgenden Gesetze zum Embryonenschutz, zur künstlichen Befruchtung und zur PID bereitet. Es hat dem werdenden Leben den gleichen Würdestatus zuerkannt wie seiner Mutter und damit der Frau eine existenzielle Auseinandersetzung mit sich selbst aufgenötigt, denn sie muss damit ihr eigenes Leben zur Disposition stellen, wenn sie eine Abtreibung erwägt. Diese Auseinandersetzung wurde und wird nur dadurch lebbar, dass das Gericht der normativen Gleichheit die rechtliche Ungleichheit folgen ließ. Die Frau, die abtreibt, macht sich strafbar, bleibt aber straflos, der Staat übernimmt sogar die Kosten der strafbaren Handlung und der Embryo, zu dessen Schutz sich das Gericht aufgeschwungen hat, zieht immer den Kürzeren. Die Paradoxie dieses Urteils widerspricht der Normenklarheit, ohne die kein Rechtssystem existieren kann. Indem es den ab Geburt geltenden absoluten Anspruch auf Achtung als freier und gleicher Mensch auf den vorgeburtlichen Status ausweitet, wo auch ein einfachgesetzlicher Schutz hingereicht hätte, untergräbt es die Geltungskraft der Norm, die es doch eigentlich verteidigen soll.

Die einmal implementierte Normasymmetrie hat sich in den Gesetzen, die den embryonalen Status regeln, fortgesetzt in Willkürlichkeiten von Festsetzungen, Ungereimtheiten und Wertungswidersprüchen. So werden der Frau bei der Präimplantationsdiagnostik Erkenntnisse vorenthalten, die sie bei der Pränataldiagnostik gewinnen kann und die Grundlage einer Entscheidung zur Abtreibung sein können; in der Embryonenforschung dürfen keine Embryonen zu diesem Zweck, hergestellt, geklont oder zerstört werden, gleichwohl jedoch importierte Zellen benutzt werden, obgleich diese doch den gleichen Würdestatus haben.

Der Gesetzgeber verfährt in der fundamentalen Frage der Reichweite des Würdeschutzes mittlerweile weit restriktiver als es die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts vorgegeben hat, die Befürworter eines umfassenden embryonalen Würdeschutzes berufen sich dabei gar auf einen gemutmaßten Willen des Bundesverfas- sungsgerichts, obgleich schon vor Jahren dessen frühere Präsidentin Jutta Limbach dem entgegengehalten hat, dass „für eine autoritative Entscheidung des Bundesverfassungs- gerichts in Fragen der modernen Biotechnologie (. . .) die Zeit noch nicht reif“ sei. Auch wenn dieser Reifepunkt mittlerweile näher gekommen ist, so ist doch kaum zu erwarten, dass die Entwicklung der Bio- und Reproduktionstechnologien das Bundesverfassungsgericht veranlassen werden, seinen mit dem Urteil zum §218 beschrittenen Pfad zu korrigieren.

Der Soziologe Wolfgang van den Daele, von 2001 bis 2007 Mitglied des Nationalen Ethikrates, hat in der Inkonsistenz der Regelung des Schwangerschaftsabbruchs den Preis für eine gesellschaftlich friedensstiftende Funktion dieses Urteils gesehen. Die rechtssystematisch  schwer verträgliche Konstruktion habe es ermöglicht, einen moralischen Konflikt politisch zu befrieden, der nicht teilbar war, da er einen Wert und kein Interesse zum Gegenstand hatte und somit kaum gesellschaftlich verhandelbar wurde.

Van den Daele erkennt in der „Faulheit“ der Kompromisse, die im Nationalen Ethikrat und den seinen Empfehlungen folgenden Gesetzgebungen gefunden wurden geradezu den Königsweg aus dem Dilemma, bei nicht verhandelbarer normativer Positionen zu einer politischen (Mehrheits-)Entscheidung kommen zu müssen. Der moralische Pluralismus, der sich in den Positionierungen des Ethikrates und entsprechend im Parlament findet, lässt sich nicht durch eine Meta-Moral aufheben. Die Verfahrenstoleranz, die auch in bioethischen Debatten gepflegt wird, schlägt sich nicht inhaltlich nieder, denn, so van den Daele, „das Bekenntnis zur Toleranz ist nämlich nicht eine neutrale Position im bioethischen Streit; es nimmt Partei für eine liberale Moral und erlegt denjenigen, die eine restriktive Regulierung für geboten halten, asymmetrische Konzessionen auf. Zu dieser Asymmetrie kommt es, weil in der Gesellschaft Freiheitsrechte, vor allem Selbstbestimmung, im Zentrum der Werteordnung stehen. (..) Nicht die Freiheit ist begründungsbedürftig, sondern die Beschränkung der Freiheit. Diese Beweislastverteilung wirkt auch bei moralischen Ansprüchen.“ [9] Auf diese Zumutung können nach van den Daeles Ansicht, Konservative nur antworten, indem sie moralisch aufrüsten und in bioethischen Fragen der Selbstbestimmung möglichst eindeutige Grenzen setzen. Schon das Üben von Toleranz widerspreche dem Geltungsanspruch der eigenen Moral, denn es räumt die Möglichkeit alternative Sichtweisen ein. Das gleiche gilt für die Nichtentscheidung der in Rede stehenden Normsetzung, denn damit fällt die Allgemeingültigkeit des Wertes der individuellen Disposition anheim – was alleinig der liberalen Moral, das jeder nach  seiner Überzeugung leben darf, entspricht.

So verständlich das Verlangen ist, zwischen den divergierenden Moralvorstellungen innerhalb eines Ethikrates Waffengleichheit zu ermöglichen, so abstrahiert van den Daeles Betrachtung doch von dem Feld, in dem dessen Deliberation spätestens dann eingebettet ist, wenn sie zum Gegenstand demokratischer Entscheidungsfindung wird. Denn der demokratische Rechtsstaat lebt nicht von vorgängigen normativen Überzeugungen, sondern davon, dass er sich seiner sozial-moralischen Ressourcen immer wieder vergewissert und durch Verfahren sicher stellt, dass sie zum Ausdruck kommen und Mehrheitsverhältnisse sich entsprechend ihrer gesellschaftlichen Gewichtung ändern können. Ihre Unantastbarkeit hat die Würde nicht aus sich heraus, sondern weil sie konstitutiv für die wechselseitige Anerkennung der Mitglieder der Gesellschaft als Freie und Gleiche ist und damit das Fundament eines demokratischen Gemeinwesens gelegt wird. „Der Begriff der Menschenwürde überträgt den Gehalt einer Moral der gleichen Achtung für jeden auf die Statusordnung von Staatsbürgern, die ihre Selbstachtung daraus schöpfen, dass sie von allen anderen Bürgern als Subjekte gleicher einklagbarer Rechte anerkannt werden. Die Gewährleistung von Menschenrechten erzeugt erst den Status von Bürgern, die als Subjekte gleicher Rechte einen Anspruch darauf haben ich ihrer menschlichen Würde respektiert zu werden.“ [10]

Nun ist es ein Kennzeichen der modernen Gesellschaft, dass sie eine Vielzahl von Lebensentwürfen birgt und ihre Mitglieder unterschiedlichen Moralvorstellungen folgen. Man schaue sich im zur Rede stehenden Zusammenhang nur den unterschiedlichen moralischen Status an, welche die verschiedenen Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsgruppierungen dem Embryo beimessen, die ein Verfassungsstaat um den Preis seiner Neutralität zu respektieren hat. Eine Gesetzgebung, die nicht eine dauerhafte Divergenz von Mehrheitswillen und Elitediskurs riskieren will, kann diese Pluralität nur einfangen, indem die möglichen Positionen nicht danach bemessen werden, was der Gesetzgeber auf dem Wege der beschriebenen faulen Kompromissbildung für moralisch richtig erachtet, sondern welche Regelung das höhere Maß an gesellschaftlich divergierenden normativen Praktiken ermöglicht.

Eine solche Selbstbeschränkung des Staates wäre kein Ausdruck legislativer Schwäche, sondern offenbarte eine andere Sicht auf das Verhältnis von Bürger und Abgeordneten und steuerte auf diese Weise womöglich dem eigenen Akzeptanzverlust entgegen. Dies setzt allerdings voraus, dass der Abgeordnete bei seiner Gewissensentscheidungen seine normativen Erwägungen in die allgemeine Gewissensfreiheit aller Bürger demokratisch einbettet.

Dies allerdings verlangt der konservativen Seite die Preisgabe der moralischen Unabdingbarkeit ihrer Position ab. Ihr bleibt der Verweis auf die Legitimität schaffende Funktion eines parlamentarischen Verfahrens, in dem der Bürger sich wieder finden kann. Dieses erleichtert es ihr als Unterlegenen zugleich, die Entscheidung zu akzeptieren, denn sie kann sie als der Demokratie Geschuldetes darstellen und muss sie deshalb keineswegs als moralisch richtig anerkennen. Es liegt in der Natur der Legitimation durch Verfahren, dass es, da es die Entscheidbarkeit des aufgeworfenen Problems garantieren muss, nicht zugleich die Richtigkeit der Entscheidung garantieren kann.

Als der Nationale Ethikrat im Jahr 2003 seine Stellungnahme zur vorgeburtlichen Diagnostik vorlegte, gaben die beiden Ratsmitglieder Eckard Nagel und Jens Reich ein „ergänzendes Votum“ ab, in dem sie zunächst ihre inhaltliche Übereinstimmung mit der Position der Gegner der Präimplantationsdiagnostik zu Protokoll gaben. Zugleich hoben sie aber hervor, dass sie „im deutlichen Dissens“ mit deren Position der Auffassung seien, „dass in einem existentiellen Konflikt die zu treffende Gewissensentscheidung des Individuums frei sein muss und nicht durch ein staatliches Strafgesetz erzwungen werden kann“. Sie formulierten damit die Erwartung an den Gesetzgeber, nicht das eigene Wollen in Gesetzesform zu gießen, sondern zugunsten der Gewissensentscheidung des Einzelnen zurückzustehen – auch auf die Gefahr hin, dass diese zur eigenen im Gegensatz steht.

Die Frage, was der Respekt vor dem Leben bedeutet, wie ein würdevolles Sterben sich gestaltet, wird stärker dem Urteil des Einzelnen anheim gestellt in der Erkenntnis, dass eine gesetzliche Festlegung zwar erzwingen kann, aber deshalb noch lange nicht überzeugen muss. Eine solche Vorgehensweise beruft sich auf die Gewissensfreiheit des Artikels 4 des Grundgesetzes. Sie erkennt den Bürger als zu moralischem Handeln fähiges Subjekt an, dem auch durch eine sich vermeintlich aus der Geschichte ergebende gemeinsame ethische Verpflichtung keine Grenzen auferlegt werden können, die von ihm selbst nicht als solche erachtet werden.

Dieser Bürger ist freilich ein anderer als der, der uns in den bisherigen, von Misstrauen in seine möglichen Beweggründe geprägten biopolitischen Debatten begegnet ist. Ihn als moralisches Subjekt anzuerkennen ist eine ungleich anspruchsvollere Haltung. Sie vertraut darauf, dass die Gesellschaft zugleich auch ein Grundverständnis davon entwickeln kann, welche Moralvorstellungen sich im Rahmen des allgemein Zulässigen bewegen. Darin erweist sich letztendlich die Überlegenheit eines Konzeptes, das von der Befähigung des Einzelnen zur Selbstbestimmung ausgeht und deren Stärkung in den Vordergrund stellt.
 

1  Fink, Simon (2007): Ein deutscher Sonderweg? Die deutsche Embryonenforschungspolitik im Licht international vergleichender Daten. Leviathan 1/2007, S. 107-128.

2  Wolfgang Kersting (2002): Kritik des genethischen Fundamentalismus, Velbrück Wissenschaft.

3  Friedrich Wilhelm Graf 2011: Biopolitische Kontroversen sind hierzulande immer weltanschaulich geprägt, FAZ vom 22.06.2011.

4  Jürgen Habermas (2010): Das utopische Gefälle. Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte, Blätter für deutsche und internationale Politik 8/10, S. 46.

5  Habermas a.a.O. S. 46.

6  Ernst-Wolfgang Böckenförde (2011): Einspruch im Namen der Menschenwürde, FAZ vom 15.03. 2011.

7  Jens Reich (2011): Im Zweifel für die Frau. Ein Plädoyer für die Präimplantationsdiagnostik, Blätter für deutsche und internationale Politik 6/11, S. 106.

8  Horst Dreier (2011): PID: Nicht unbedingt ein Verstoß gegen die Verfassung, FAZ vom 22.06.2011.

9  Wolfgang van den Daele (2007): Streitkultur Über den Umgang mit unlösbaren moralischen Konflikten im Nationalen Ethikrat, in: Dieter Gosewinkel, Gunnar Folke Schuppert (Hg.), Politische Kultur im Wandel von Staatlichkeit, WZB Jahrbuch 2007, S. 357-384, hier S. 376.

10  Habermas a.a.O., S. 49.

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