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12 000 Roma von Abschiebung nach Kosovo bedroht

Grundrechte-Report 2011, Seiten 126 – 129

Um vier Uhr am Morgen des 15. Mai 2010 klingelte es im badischen
Oberkirch an der Tür der Familie K. Um das Haus herum standen Polizeihunde, die eintretenden Beamten forderten die Eltern sowie ihren 23 Jahre alten Sohn und die drei Töchter im Alter von 14, 16 und 18 Jahren auf, die notwendigsten Dinge zusammenzupacken – am Flughafen Söllingen wartete das Flugzeug für die Abschiebung nach Kosovo. Gerade noch rechtzeitig konnte die Familie den Freiburger Anwalt Udo Kauß erreichen, der die Rückführung der Eltern und ihrer Töchter vorläufig verhindern konnte; allein der 23-jährige Sohn Irfan
musste ins Flugzeug. Die Eilbeschwerde der übrigen Familienmitglieder
ging daraufhin durch alle Instanzen: Der Verwaltungsgerichtshof
Baden-Württemberg sah die Abschiebung der 18 Jahre alten Tochter als unzulässig an, lehnte aber eine Aussetzung der Abschiebung der Eltern und der minderjährigen Kinder ab. Beschwerden vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wurden nicht angenommen.

Familie K. gehört der Roma-Minderheit an und war 1993 aus Kosovo nach Deutschland gekommen. Die meisten Roma waren zu Beginn der 1990er Jahre während des Bürgerkrieges in Jugoslawien aus Kosovo geflohen. Weitere kamen in Folge des Kosovo-Krieges von 1998/99 nach Deutschland. Viele Kinder der hier lebenden Roma sind indes hier aufgewachsen und kennen die Heimat ihrer Eltern kaum oder nur aus Erzählungen. So wurden auch zwei Töchter der Familie K. in Deutschland geboren, und gingen bis zuletzt auf die Oberkirchener Altstadtschule. Die Gerichte sahen die Verwurzelung der minderjährigen Kinder in Deutschland als irrelevant an; diese müssten das aufenthaltsrechtliche Schicksal der Eltern teilen, denen selbst eine Ausreise zugemutet werden könne. Mittlerweile sind die Eltern und alle drei Töchter »freiwillig« – aus Angst vor einer bevorstehenden Abschiebung – ausgereist.

Abschiebung im Tausch gegen Anerkennung

Die deutsche Regierung hat im April 2010 ein Rückübernahmeabkommen mit Kosovo unterzeichnet. Demnach verpflichtet sich Kosovo, ausreisepflichtige Roma aus Deutschland
aufzunehmen, soweit diese vormals auf dem Gebiet des heutigen Kosovo gelebt hatten. Letzteres muss nicht zwingend für Kinder gelten, die in Deutschland geboren wurden, ihre Eltern aber aus Kosovo stammen – wie im Falle der minderjährigen Töchter der Familie K. Fast 12 000 Roma könnten von dem Abkommen betroffen sein. Jährlich sollen 2500 Roma nach Kosovo »freiwillig« oder zwangsweise zurückkehren. Die deutsche Regierung unterstützt nur diejenigen Rückkehrer finanziell, die im Rahmen des Rückkehrprojektes »URA 2« freiwillig ausreisen. Dies waren im Jahr 2009 gerade einmal 91 Roma. Die zwangsweisen »Rückführungen« sollen schrittweise passieren.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière versuchte, das humanitäre
Problem mit der Aussage kleinzureden, es seien keine
Massenabschiebungen geplant. Bis zum 1. September 2010 waren nach Angaben des Bundesinnenministeriums 32 Roma auf Grundlage des Übereinkommens abgeschoben worden, im Jahr 2009 waren es 76 Roma. Allerdings gehen die Abschiebungen unaufhörlich weiter. Selbst der kalte Wintereinbruch führte nur in einzelnen Bundesländern zu einem vorübergehenden Abschiebungsstopp – während die meisten Landesinnenminister noch im Dezember Roma zur Abschiebung anmeldeten. Die Betroffenen leben unter der ständigen Angst, in ihr tatsächliches oder vermeintliches Herkunftsland zurückgebracht zu
werden.

In einem Interview mit dem ZDF im Januar 2010 sagte der Arbeits- und Sozialminister Kosovos, Nenad Rasiv, dass das Zugeständnis, die Migranten aus Deutschland und anderen europäischen Staaten aufzunehmen, eine wesentliche Voraussetzung für die völkerrechtliche Anerkennung Kosovos sei. Dabei bereite es dem Staat erhebliche Probleme, die Migranten aufzunehmen und eine angemessene Versorgung zu gewährleisten. Die Roma in Kosovo sind die ärmste Volksgruppe im ärmsten Land Südosteuropas. Die Arbeitslosigkeit unter ihnen liegt bei annähernd 100 Prozent. Die meisten leben in Subsistenzwirtschaft oder von im Müll gefundenen essbaren oder recyclingfähigen Produkten.

Diejenigen, die aus Deutschland oder aus anderen europäischen Ländern nach Kosovo zurückkehren, können in den seltensten Fällen in ihre alten Häuser zurückkehren, da diese zerstört sind oder der Staat die Eigentumsverhältnisse nicht zu ihren Gunsten klärt. In der Siedlung Roma-Mahalla im Südteil von Mitrovica, wo vor dem Kosovo-Krieg etwa 8000 Roma lebten, ist die Belastung mit Blei und Cadmium so hoch, dass die rückkehrenden Roma dort kein Gemüse anbauen oder Tiere halten können. Umsiedlungen scheiterten bisweilen am Unwillen der Behörden oder am fehlenden Wohnraum an anderen Orten.

»Zurück« in ein fremdes Land

Kinder und Jugendliche sind in verschärftem Maße von den Folgen des Übereinkommens bedroht. Etwa die Hälfte der von der Ausreisepflicht bedrohten Roma ist jünger als 18 Jahre. Fast zwei Drittel sind in Deutschland geboren oder aufgewachsen. Sie sprechen kaum Albanisch und Serbisch. Laut einer UNICEF-Studie gehen drei von vier Kindern, die bislang aus Deutschland zurückkehrten und hier zur Schule gingen,
in Kosovo nicht mehr zur Schule. Jedes dritte Kind hat nicht ausreichend zu essen. Den Begriff »Kindeswohl« sucht man in dem Rückübernahmeabkommen vergeblich. Schließlich sind antiziganistische Übergriffe durch andere Bevölkerungsgruppen in Kosovo an der Tagesordnung. Die Menschenrechtsorganisation Chachipe hat in der Vergangenheit mehrfach von Misshandlungen vor allem im Osten Kosovos berichtet.

Viele der Betroffenen sind zugleich Leidtragende der 2007 beschlossenen Bleiberechtsregelung. Demnach sollten die damals etwa 200 000 Menschen, die lange Zeit nur mit einer Duldung gelebt hatten, ein sicheres Bleiberecht erhalten. Allerdings unter hohen Voraussetzungen: So mussten die Betroffenen seit mindestens acht, oder als Mitglieder einer Familien mehr als sechs Jahre in Deutschland gelebt haben und ihren Lebensunterhalt eigenständig sichern. Eine kleine Straftat wie der mehrfache Verstoß gegen die Residenzpflicht kann bereits das Bleiberecht verwirken. Nur gut 35 000 der Geduldeten bekamen auf diesem Wege eine Aufenthaltserlaubnis. Allen anderen droht weiterhin die Abschiebung oder die Rückkehr in den perspektivlosen Zustand der Kettenduldung.

Kritik aus Europa

Das Europäische Parlament forderte die EU-Mitgliedsstaaten am 8. Juli 2010 in einer Entschließung auf, die Praxis der Abschiebung von Roma nach Kosovo zu beenden. Es wies insbesondere auf die schwierige Lage und die Diskriminierung hin, denen Minderheiten und insbesondere Roma beim Zugang zu Bildung, Wohnraum, Sozialdiensten und Beschäftigung ausgesetzt sind. Es schloss sich damit den eindringlichen Appellen von Menschenrechtsorganisationen und dem Menschenrechtskommissar des Europarats, Thomas Hammarberg, an.

Literatur

Dünnwald, Stephan, Kosovo. Bericht zur Lebenssituation von aus
Deutschland abgeschobenen Roma, Ashkali und Angehörigen der
Ägypter-Minderheit im Kosovo, Pro Asyl, Frankfurt am Main, 2009

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