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Die Wartenden von Idomeni – ein Reise­be­richt

02. Mai 2016

Die Mitarbeiterin der Lübecker Frauen- und Familienberatungsstelle der Humanistischen Union besuchte kürzlich das Zeltlager der Flüchtlinge in Idomeni. Hier schildert sie ihre Eindrücke von der Reise.

Auf der Autobahn, kurz vor der mazedonischen Grenze, haben sich drei Raststätten in Zeltlager verwandelt. Die Läden der Raststätte bilden den Mittelpunkt dieser Zeltlager, in denen sich die Menschen treffen, miteinander reden und diejenigen einkaufen, die noch etwas Geld für Essen übrig haben.

Einige Kilometer weiter führt eine kleine Straße zum Grenzbahnhof Idomeni. Entlang der Gleise, auf den Feldern am Grenzzaun, stehen kleine und größere Zelte der Hilfsorganisationen. Große wie kleine Hilfsorganisationen (darunter UNHCR, Ärzte ohne Grenzen, Rotes Kreuz) und viele unabhängige Freiwillige versuchen, das unwürdige, an einen Slum erinnernde Leben am Zaun erträglicher zu machen. Neben der medizinischen und Essensversorgung, dem Zugang zu Wasser und Sanitäranlagen bieten sie auch einzelne Zelte mit Internetzugang und ein Schulzelt für Kinder an. In den kommenden Monaten werden mit zunehmender Hitze die Hygieneprobleme dringender werden, weil es zu wenige Wasserstellen und Toiletten gibt. Davon sind insbesondere Frauen, Schwangere und Familien mit Kleinkindern betroffen – die in Idomeni die Mehrheit bilden, weil ihre Ehemänner und Verwandten schon in Deutschland oder anderen europäischen Ländern sind.

„Mein älterer Bruder ist in Berlin. Ich will zu ihm und warte hier bis sich die Grenze wieder öffnet“, sagt ein 15jähriger Syrer, der sich Verwandten angeschlossen hat. „Mein Kind ist zwei Monate alt und ich habe seit über zwei Monaten keinen Kontakt mehr zu meinem in Deutschland lebenden Mann“. Mit ihren beiden Kindern lebt sie in einem kleinen Zelt. Sie kann sich nicht in die lange Warteschlange für die Essensausgabe einreihen, weil sie den Säugling und das Kleinkind nicht zusammen tragen kann. Der im neunten Monat Schwangeren aus Aleppo, die im Nachbarzelt schläft, geht es ebenso. Sie wird zumindest von Verwandten unterstützt und hat Kontakt zu ihrem Mann in Deutschland. In einem weiteren Zelt liegt ein junger Mann, der nur selten das Zelt verlässt. Aufgrund einer Schussverletzung kann er sein Knie nicht mehr bewegen. Rollstühle und Kinderwägen sind Mangelware.

Der Alltag in Idomeni besteht im Wesentlichen aus langen Warteschlangen: bei der Essensausgabe, der medizinischen Notversorgung, an den Waschstellen, bei der Kleiderausgabe … Das „Zentrum“ Idomenis bilden die durch den Grenzzaun unterbrochenen Gleise, die auf der einen Seite von der mazedonischen Polizei mit einem Panzer und auf der anderen Seite von ca. zehn griechischen Polizisten mit Mundschutz bewacht werden. Gegenüber der Polizei wird unter einem offenen Zeltdach debattiert und demonstriert, am Rande werden Zigaretten verkauft und die Haare geschnitten. An der kleinen Straße stehen die Autos der TV-Sender und Journalisten aufgereiht und ein Reisebus der griechischen Regierung mit dem passenden Namen „Crasy Holliday“. Mit dem Bus können sich die Flüchtlinge in eins der 17 Militärcamps fahren lassen, die seit dem 20. März an verschiedenen Orten errichtet wurden.

 
Gerüchte statt Informationen

Die Ungewissheit des Lebens im Zeltlager wird verstärkt durch die immer wieder auftretenden Gerüchte und Fehlinformationen über mögliche Auswege, nach denen die Geflüchteten wie nach einem Strohhalm greifen. Am letzten Wochenende im März hieß es beispielsweise, die Grenze werde geöffnet; daraufhin strömten viele Geflüchtete aus den Militärcamps an die Grenze. Eine Woche später machte das Gerücht die Runde, das Lager werde demnächst geräumt. Eine Jesidin berichtet mir, dass ihre sechsköpfige Familie vor drei Wochen von Idomeni nach Athen reiste. Ihnen hatte man gesagt, sie könnten in Athen die Weiterverteilung in ein europäisches Land beantragen. Der „Ausflug“ nach Athen kostete die Familie 600 Euro, ihre Ersparnisse waren danach aufgebraucht. Von offizieller Seite werden die Geflüchteten kaum über das Prozedere der Asylantragstellung informiert. Das von einigen Freiwilligen gemeinsam mit griechischen Rechtsanwälten betriebene Infozelt in Idomeni, in dem Beratung und Internetzugang angeboten werden, reicht nicht aus, um alle Flüchtlinge angemessen zu informieren. Die Formblätter für den Asylantrag sind nur in englischer Sprache vorhanden, Dolmetscher gibt es nicht.

Mangelhaftes Asylverfahren

Das mit der EU abgestimmte Schnellverfahren sieht vor, dass die Geflüchteten nach einem Interview (das per Skype geführt wird) einen Termin für die Befragung zum Asylantrag erhalten. Bisher funktioniert die Skype-Präsenz der Behörden nur dreimal wöchentlich für wenige Stunden. Von den drei besuchten Militärcamps verfügte nur eins über einen Internetzugang, der von einer Flüchtlingsinitiative der Stadt eingerichtet wurde. Bei der Bearbeitung nach dem fragwürdigen Schnellverfahren werden täglich 50 Bescheide erstellt.  Selbst wenn alle von der EU zugesagten Mitarbeiter/innen voll einsatzfähig sind, wird es noch mindestens ein Jahr dauern, bis die letzten der ca. 52.000 Asylanträge abgearbeitet sind. Bis dahin müssten die Geflüchteten in den Zelten von Idomeni oder den Militärcamps leben.

Auch die Ausstattung der von der griechischen Regierung (übrigens ohne EU Unterstützung) installierten Militärcamps ist immer noch sehr unzureichend. Viele von ihnen verfügen nicht über warmes Wasser, ausreichende medizinische Versorgung oder Internetanschluss. Gegenüber den Zeltlagern von Idomeni und andernorts bieten sie nur selten eine Verbesserung der Lebensumstände. Nur dort, wo es vor Ort zivilgesellschaftliche Unterstützergruppen gibt, und diesen der Zugang ins Camp gewährt wird, ist die Situation besser. So berichtet eine Gruppe, wie sie in einem Militärcamp Solarkollektoren und Internet einrichten konnten, und ehrenamtliche Ärzte einmal täglich das Camp besuchen dürfen. In den anderen Militärcamps ist die Gesundheitsversorgung dagegen katastrophal: In … beförderte der einzige Krankenwagen der Stadt statt einem gleich zehn Patienten vom Camp zum Krankenhaus.

Bisher wird die von den anderen EU-Staaten zugesagte personelle Unterstützung aber nur für die Grenzschutzagentur Frontex umgesetzt. Laut UNHCR konnte die griechische Polizei nach dem Inkrafttreten des EU-Türkei-Abkommens am 20. März tagelang lang keine Asylanträge entgegen nehmen, weil sie dazu noch nicht in der Lage war. Dennoch wurden aus dem Internierungslager 13 Flüchtlinge in ein Abschiebelager in die Türkei überführt, ohne dass sie vorher einen Asylantrag stellen konnten. Auf die entsprechenden Vorwürfe des UNHCR, dass diese Praxis gegen die Flüchtlingskonvention verstoße, geht die EU gar nicht ein. Auf Lesbos tätige Menschenrechtsgruppen berichten, dass Flüchtlingen bis wenige Stunden vor ihrer Abschiebung nicht klar ist, dass sie abgeschoben werden.

Tränengaspatronen, Gummigeschosse und Kampfflugzeuge

Bis zum 10. April, als es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen am Grenzzaun kam, kontrollierte die Polizei nur sporadisch, bei gerade stattfindenden Demos die Freiwilligen, die mit ihren Autos Essen, Kleidung oder Zelte in das Camp transportierten. Dabei gab es immer wieder Demonstrationen: mal von den Bauern, die für ihre bewohnten Felder eine Entschädigung forderten; von den Kindern, die „open the border“ skandierten; von den Bewohnern des Dorfes, die ihre Ruhe haben wollen; von Flüchtlingen, die gegen die Bedingungen im Lager protestierten. Die Polizei verhielt sich bis dahin sehr zurückhalten; selbst als am 4. April ca. 100 Menschen die nahegelegene Autobahn blockierten, griff sie nicht ein, sondern schickte die wartenden Fahrzeuge nach achtstündigem Warten wieder nach zurück nach Griechenland.

Dies änderte sich rasant am 10. April nach einem über Flugblätter verbreiteten Aufruf, den Grenzzaun zu stürmen. Schnell eskalierten die Auseinandersetzungen und die mazedonischen Grenzschützer setzten Tränengas und Gummigeschosse ein, um einen Grenzübertritt der Flüchtlinge zu verhindern. Bei den Auseinandersetzungen wurden auch viele Familien in den Zelten verletzt. Allein an diesem Tag versorgte „Ärzte ohne Grenzen“ nach eigenen Angaben 280 Verletzte. Am nächsten Tag ging auch die bis dahin zurückhaltend agierende griechische Polizei gegen die Demonstrierenden und ihre Helfer vor, 17 Personen wurden kurzzeitig festgenommen.

Nach der Eskalation versuchte die griechische Polizei, zumindest die Zelte auf den Gleisen zu räumen, um die Bahnverbindung wieder in Betrieb nehmen zu können. Außerdem müssen sich künftig alle Freiwilligen beim griechischen Innenministerium registrieren lassen, bevor sie im Zeltlager von Idomeni helfen können. (Mit der Registrierung allein ist aber noch nicht sicher gestellt, dass den Helfer/innen auch ein Zugang zu den Camps gestattet wird.) Mit solchen Maßnahmen sollen nicht nur die Geflüchteten, sondern auch die Freiwilligen der über 20 Hilfsorganisationen zum Verlassen des Camps „motiviert“ werden. Diese Aufforderung wurde durch das Militär unterstrichen, das wenige Tage später ein Grenzmanöver startete: Militärhubschrauber und Kampfflugzeuge flogen dicht über die Köpfe der Menschen hinweg, die gerade aus Kriegsgebieten  geflüchtet waren.

Warum noch Idomeni?

Es gibt viele Gründe, warum die Geflüchteten trotz der schlechten Bedingungen und dem zunehmendem staatlichen Druck im Zeltlager von Idomeni ausharren: etwa die Angst, in den Militärlagern ganz aus dem öffentlichen Bewusstsein zu verschwinden und vergessen zu werden; oder die Hoffnung auf das Wunder einer Grenzöffnung. Unter den Geflüchteten herrscht große Angst, dass die Militärcamps eines Tages wie die Internierungslager auf den griechischen Inseln abgeschlossen und die Insassen damit zu Gefangenen werden. Darüber hinaus ist Idomeni ein Zufluchtsort für all jene, die nicht zurück in die Türkei wollen. Viele von ihnen befürchten, dort in einem Gefängnis zu landen oder in ihr Heimatland abgeschoben zu werden.

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