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Die Praxis der Sterbe­hil­fe-­Or­ga­ni­sa­ti­onen in Deutschland nach der Entschei­dung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts

14. Juli 2020

Sven Lüders

in: vorgänge Nr. 229 (1/2020), S. 107-110

Der Streit um die Zulässigkeit organisierter Suizidbeihilfe in Deutschland wurde und wird vor allem als normative Auseinandersetzung geführt. Gestritten wird vorrangig um die ethische Anerkennung und die rechtliche Zulässigkeit des Suizids und der organisierten Beihilfe dazu. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 26. Februar 2020 ist – zumindest verfassungsrechtlich – der Weg für die Suizidbeihilfe in Deutschland frei, denn das Gericht stellte die Inanspruchnahme organisierter Hilfe ausdrücklich unter grundrechtlichen Schutz: „Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.“ (Leitsatz 1c)

Doch was bedeutet diese Entscheidung in der Praxis für diejenigen, die tatsächlich Hilfe für ihr selbstbestimmtes Lebensende suchen? Mit der Verabschiedung von § 217 StGB im Dezember 2015 hatten alle bisher in Deutschland agierenden Vereine und Einzelfall-Helfer ihre Sterbehilfe-Aktivitäten eingestellt bzw. in die Schweiz verlagert.[1] Anders als es die Schärfe der Debatte und die wiederkehrenden Warnungen vor einer „Normalisierung“ der Sterbehilfe nahelegen, ging es damals um ganze zwei (!) Vereine, die entsprechende Beihilfen in Deutschland anboten (bzw. in der Schweiz vermittelten). Wir wollten wissen, ob und wie diese beiden Vereine nach der Entscheidung des BVerfG ihre Aktivitäten wieder aufgenommen haben und es demnächst vielleicht neue Organisationen gibt, die Suizidbeihilfe in Deutschland anbieten.

Die vorgänge hatten bereits 2015 versucht, die konkrete Praxis der Sterbebegleitung durch Dignitas und Sterbehilfe Deutschland zu dokumentieren.[2] Das sollte zur Rationalisierung der aufgeladenen Debatte beitragen. Dieser Versuch soll nun wiederholt werden. Neben der Frage, ob die Vereine ihre Aktivitäten nach der Aufhebung des § 217 StGB wieder aufnehmen bzw. schon aufgenommen haben, fragten wir sie auch danach, ob und in welchen Punkten sie ihre bisherigen Abläufe der Suizidbeihilfe geändert haben. Das Gericht hatte in seiner Entscheidung eine ganze Reihe von Kriterien aufgestellt, wie die Freiwilligkeit, Eigenständigkeit und Fehlerfreiheit der Suizidentscheidung gewährleisten werden soll (s. Übersicht). Nach der mündlichen Verhandlung (in der Vertreter der Sterbehilfe-Organisationen angehört wurden) sah das Gericht Hinweise dafür, „dass die bis zum Inkrafttreten von § 217 StGB bestehende Praxis geschäftsmäßiger Suizidhilfe in Deutschland nicht geeignet war, die Willens- und damit die Selbstbestimmungsfreiheit in jedem Fall zu wahren.“ (Rn. 249) Insbesondere bemängelten die Richter*innen die manchmal unzureichende Prüfung auf eine möglicherweise eingeschränkte Einsichts- und Urteilsfähigkeit der Suizidwilligen sowie die fehlende fachärztliche Untersuchung, Beratung und Aufklärung über Behandlungsmöglichkeiten und -alternativen bei schwer Erkrankten (ebd.). Vor diesem Hintergrund haben wir die Organisationen um Auskunft gebeten über eventuelle Anpassungen ihrer Beratungs- und Begleitungspraxis.

Anforderungen des BVerfG zur Gewährleistung der Autonomie und Freiwilligkeit von Suizidentscheidungen

a) Information über Behandlungs- bzw. Handlungsalternativen und deren jeweilige Folgen für die Betroffenen (Rn. 242 und 246)

b) Überprüfung, ob die Suizidwilligen das Für und Wider einer Suizidentscheidung an der eigenen Lebensrealität orientiert abwägen (Rn. 240)

c) Durchführung einer fachärztlichen Untersuchung beim Vorliegen schwerer körperliche oder psychischer Erkrankungen (Leiden), bei überprüft wird, ob alle Behandlungsalternativen ausgeschöpft wurden (Rn. 249)

d) keinerlei Entscheidungsdruck von seiten der Helfer auf die Suizidwilligen, z.B. durch unaufgeforderte Suizidhilfe-Angebote oder Rechtfertigung für die Ablehnung eines Angebots (Rn. 243, 235)

e) Vermeidung von Interessenkonflikten zwischen Helfer*innen und Suizidwilligen sowie anderen Einflussnahmen (unterhalb von Zwang, Drohung, Täuschung) auf die Suizidentscheidung (Rn. 247)

f) Prüfung der Dauerhaftigkeit und Festigkeit des Suizidwunsches (Rn. 244)

g) Ausschluss psychischer Erkrankungen, die die freie Willensbildung bzw. Einwilligungsfähigkeit der Suizidwilligen einschränken könnten (Rn. 245)

(nach: BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15, Rn. 1-343)

Sterbehilfe Deutschland / Verein Sterbehilfe

Die zum Teil medienwirksame Inszenierung von Suizidbeihilfen durch Sterbehilfe Deutschland (StHD) und dessen Vorsitzenden Roger Kusch war der Auslöser für jene Debatten, die schließlich in der Verabschiedung des § 217 StGB mündete. Der Verein wurde 2009 gegründet und leistete nach eigenen Angaben bis Ende 2014 in 162 Fällen Suizidbeihilfe. Dafür war eine Mitgliedschaft im Verein notwendig. Die Aufnahmebedingungen, das Antrags- und Entscheidungsverfahren sowie statistische Angaben über ausgeführte Beihilfen dokumentierte der Verein in seinen Jahresberichten.[3]

Der Verein stellte mit dem Inkrafttreten von § 217 StGB sämtliche Aktivitäten in Deutschland ein und setzte diese in dem in der Schweiz neubegründeten Verein Sterbehilfe fort. Nach der Aufhebung des Verbots bietet Verein Sterbehilfe die Suizidbegleitung auch wieder in Deutschland an.[4] Die Regularien sind den Regeln von Sterbehilfe Deutschland nachgebildet:[5] sie sehen u.a. eine schriftliche Antragstellung mit Begründung, das Abfassen einer Patientenverfügung, ein aufgezeichnetes Beratungsgespräch mit Mitarbeiter*innen des Vereins sowie eine ärztliche Begutachtung vor; die ärztliche Begutachtung sowie die Beihilfe sollen nach Möglichkeit von verschiedenen Ärzten durchgeführt werden. Eine formale Karenzzeit zwischen Beratung und Durchführung ist nicht vorgegeben, üblicherweise liegen dazwischen jedoch zwei bis vier Monate. Zudem bemüht sich der Verein, die Strafverfolgungsbehörden frühzeitig über geplante Suizidbeihilfen zu informieren. Der Ablauf der Suizidbeihilfe ist in ethischen Grundsätzen[6] geregelt und dokumentiert, auf deren Einhaltung sich der Verein verpflichtet hat. Darin wird mehrfach auf die vom BVerfG formulierten Anforderungen zur Freiverantwortlichkeit der Suizidentscheidung Bezug genommen; sie verbieten u.a. nach einer Entscheidung über die Beihilfefähigkeit des konkreten Falls die Kontaktaufnahme mit dem Mitglied (um dieses nicht unter Entscheidungsdruck zu setzen), ebenso ist die Annahme von Geschenken durch Mitarbeiter*innen des Vereins verboten. Auf Anfrage teilte Verein Sterbehilfe mit, dass er vorerst keine Notwendigkeit für weitere Änderungen seiner Beratungs- und Begleitungsabläufe sieht.

Dignitas Deutschland

Der Verein wurde 2005 als eigenständiger Ableger der schon länger in der Schweiz existierenden Dignitas Schweiz gegründet. Dignitas Deutschland hat bis zum Inkrafttreten von § 217 StGB für seine Mitglieder eine Suizidberatung angeboten. Dabei wurden bis Ende 2015 insgesamt 724 Mitglieder zur Suizidbeihilfe vermittelt, die dann in der Schweiz (von der dortigen Dignitas betreut) stattfand.[7]
Nach der Aufhebung des Verbots von § 217 StGB hat der Verein seine Aktivitäten neu ausgerichtet und konzentriert sich auf folgende drei Angebote:[8]

  • eine neue, gemeinsam mit der DGHS eingerichtete Beratungsstelle zur Suizidversuchsprävention („Schluss.PUNKT“), in der Interessierte sich ergebnisoffen und unvoreingenommen über Suizidmöglichkeiten sowie Alternativen zum Suizid informieren können.[9] Mit dieser Beratungsstelle sollen vor allem „kurzschlüssige und riskante Suizidversuche“ vermieden werden.
  • die rechtliche Durchsetzung der Selbstbestimmung am Lebensende, u.a. durch die Beteiligung an weiteren Klageverfahren (z.B. in Österreich);
  • die Suizidberatung und -beihilfe für Mitglieder des Vereins, die künftig auch in Deutschland selbst angeboten werden soll. Dafür will der Verein die Kompetenzen und Erfahrungen seiner schweizerischen Schwestergesellschaft nutzen und mit Ärzten in Deutschland kooperieren. 
         

Die eigenständige Durchführung von Suizidbeihilfe durch Dignitas Deutschland ist nach Auskunft des Vereins derzeit noch in der Erprobung. Für die Frage, wer, wann und unter welchen Bedingungen Suizidbeihilfe erhalten könne, gibt es bisher nur interne Kriterien. Formale Regelungen zum Ablauf der Beihilfe (etwa feste Wartezeiten, Ablauf der ärztlichen Begutachtung, Verhaltenskodex für Sterbebegleiter …) existierten (noch) nicht, da es sich vorerst nur um wenige Einzelfälle handle, die individuell entschieden würden. Die Verfahren würden jedoch angesichts der zahlreichen Beteiligten (Vereinspersonal, Rechtsanwalt, begutachtende Ärzte …) hinreichend lang dauern, um übereilte Suizidentscheidungen auszuschließen. Die Erarbeitung entsprechender Standard-Verfahren wird in Aussicht gestellt, wenn in den nächsten Jahren entsprechende Erfahrungen gesammelt werden können.

Einen weiteren Regulierungsbedarf für die geschäftsmäßige Suizidbeihilfe sieht Dignitas derzeit nicht – die bestehenden strafrechtlichen Regelungen (etwa § 216 StGB) seien dafür ausreichend.

Deutsche Gesell­schaft für Humanes Sterben (DGHS)

Die DGHS versteht sich als Bürgerrechts- und Patientenschutzorganisation, nicht als Sterbehilfegesellschaft. Sie hat bisher keine Suizidbeihilfe angeboten. Nach der Entscheidung des BVerfG haben sich neben Suizidwilligen aber auch Mediziner an den Verein gewandt, die ihre Bereitschaft zur ärztlichen Suizidbegleitung signalisieren. Der Verein hat deshalb eine interne Arbeitsgruppe eingesetzt, die Vorschläge erarbeiten soll, ob und ggf. wie die DGHS künftig mit Beratungs- und Beihilfeanfragen umgehen kann. Ein entsprechendes Angebot wird in Aussicht gestellt, denn die für eine Suizidbeihilfe nötigen Unterlagen (z.B. schriftliche Begründung des Suizidwunsches und ärztliche Befunde) „können bereits jetzt bei der DGHS eingereicht werden“[10]. Wie das Verfahren ausgestaltet werden soll, ist bisher nicht bekannt.

Anmerkungen:

1 S. Interview mit Peter Puppe in vorgänge Nr. 210/211, S. 201f.

2 S. die beiden Dokumentationen in vorgänge Nr. 210/211, S. 195ff./203ff.

3 S. Dokumentation in vorgänge Nr. 210/211, S. 195 ff. m.w.N.

4 S. Verein Sterbehilfe: „Erstmals in Deutschland: Suizidhilfe im Altenheim“, Pressemitteilung vom 12.6.2020, https://www.sterbehilfe.de/erstmals-in-deutschland-suizidhilfe-im-altenheim/.

5 Vgl. Verein Sterbehilfe (2020): Selbstbestimmung am Lebensende (Informationsbroschüre), unter https://www.sterbehilfe.de/wp-content/uploads/infomaterial.pdf.

6 Ebd.

7 So die Auskünfte des Vereins gegenüber dem BVerfG, nachzulesen im Urteil v. 26.2.2020 Rn. 57 ff. für Dignitas Schweiz und Rn. 62 ff. für Dignitas Deutschland.

8 Informationen lt. telefonischer Auskunft von Florian Willet (Dignitas Deutschland) vom 1.7.2020.

9 S. https://www.schluss-punkt.de/ sowie gemeinsame Pressemitteilung von DGHS & Dignitas Deutschland vom 2.3.2020.

10 Auskunft Wega Wetzel (DGHS) vom 16.6.2020.

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