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Sterbehilfe und Patien­ten­ver­fü­gung als grund­recht­liche Freiheiten

14. Dezember 2006

Rosemarie Will

Zur aktuellen Diskussion um die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen

Mitteilungen Nr. 195, S. 16-18

Die Notwen­dig­keit einer gesetz­li­chen Regelung

Obwohl Patientenverfügungen immer populärerer werden und auch ihre juristische Verbindlichkeit zunehmend anerkannt wird, fehlt es bis heute an einer gesetzlichen Regelung. Der Gesetzgeber ist blind geblieben vor dem existenziellen Problem des Sterbens. Aufgrund der fehlenden gesetzlichen Regelungen bleibt das Thema Sterbehilfe nach wie vor tabuisiert. Eine gesetzliche Regelung der strafrechtlichen und zivilrechtlichen Aspekte der Sterbehilfe würde erheblich dazu beitragen, dass in unserer Gesellschaft auch jenseits individueller Vorstellungen vom eigenen Tod Klarheit über die Rechte Sterbender entsteht. Auch wenn es bisher keine gesetzliche Regelung gibt, geschieht die Fürsorge und Hilfe gegenüber Sterbenden nicht im rechtsfreien Raum. Wer dem Sterbenden helfen will, muss immer auch seine Rechtspositionen sichern und stärken. Dabei ist der Gesetzgeber nicht frei von den Vorgaben unserer Verfassung: er muss insbesondere die grundrechtlich geschützte Freiheit gewährleisten und jedes Verbot – auch das Verbot einer aktiven Sterbehilfe – als einem weitgehenden Grundrechtseingriff rechtfertigen. Die Enquete-Kommission des letzten Bundestages „Ethik und Recht der modernen Medizin“ vertrat dagegen die Meinung, dass kein gesetzlicher Handlungsbedarf bestehe. Nach ihrer Auffassung solle sich die Politik eingehend mit den ethischen und rechtlichen Fragen der aktiven Sterbehilfe, der ärztlichen oder pflegerisch assistierten Selbsttötung, der direkten und der passiven Sterbehilfe sowie des Behandlungsabbruches befassen, aber den Umgang mit diesen Fragen nicht gesetzlich verankern. Eine solche Haltung ist fatal. Eine politische Diskussion ohne gesetzgeberische Konsequenzen verfehlt nicht nur ihr Ziel. In einem Fall wie diesem, wo die Politik bisher nur mit den Mitteln des Strafrechts reagiert, trägt sie zu weiteren gesellschaftlichen Tabuisierungen bei. Der Bundesvorstand hat sich nach den im vergangenen Jahr wieder aufgenommenen Diskussionen entschieden, für eine gesetzliche Regelung der Sterbehilfe und der Patientenverfügung zu streiten. Um dieses Anliegen zu untermauern, haben wir für den 27. Februar eine Tagung über „Sterbehilfe und Patientenverfügung als grundrechtliche Freiheit zur Selbstbestimmung“ vorbereitet. (siehe Infokasten) Die Fragen einer Legalisierung der Sterbehilfe und der juristischen Verbindlichkeit von Patientenverfügungen sind inhaltlich miteinander verbunden. In der Patientenverfügung wird für den Fall einer späteren Entscheidungsunfähigkeit im Voraus verfügt. Die Verbindlichkeit dieser Vorausverfügung hängt davon ab, welche Formen der Sterbehilfe erlaubt bzw. verboten sind. Neben diesen strafrechtlichen werfen Patientenverfügungen aber auch zivilrechtliche Probleme auf: Angesichts der Tatsache, dass immer weniger Menschen im familiären Umfeld sterben, stehen Ärzte, Pfleger und Betreuer vor der Entscheidung, wie stark sie sich durch den vom Sterbenden geäußerten bzw. in der Patientenverfügung niedergelegten Willen binden lassen. In einer pluralistischen Gesellschaft, deren ethische Grundlagen zunehmend heterogener werden, kann die Diskussion dieser strafrechtlichen und zivilrechtlichen Probleme nur dann gelingen, wenn ein Verfassungskonsens zum Thema gebildet wird. Die geltende Verfassungslage ist eine Grundlage dieser Diskussion. Aus ihr lässt sich jedoch nicht ableiten, was zum Thema Sterbehilfe und Patientenverfügung geboten ist. Gegenstand der Diskussion sollte aber sein, welcher Umgang mit Sterbenden aus deren grundrechtlichen Positionen für die Zulässigkeit von Sterbehilfe und Patientenverfügung folgt. Diese grundrechtlich verankerten Regeln sind damit auch für den Gesetzgeber unhintergehbar.

Der Referen­ten­ent­wurf des Bundes­jus­tiz­mi­nis­te­riums

In der Koalitionsvereinbarung wurde angekündigt, die Gesetzgebungsdebatte zu Sterbehilfe und Patientenverfügung innerhalb dieser Wahlperiode zu beginnen. Die Grundlage dafür dürfte ein Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums sein, der im Anschluss an den Bericht der Kutzer-Kommission (Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am Lebensende) im November 2004 als „Entwurf eines 3. Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts“ vorlag. Dieser Referentenentwurf wurde sofort nach dem Bekanntwerden scharf kritisiert und in der Folge vom damaligen rot-grünen Kabinett nicht beschlossen. Dabei beschränkte sich der Entwurf auf zivilrechtliche Regelungen, die die Berücksichtigung des Behandlungswillens des Betreuten im Verhältnis zu seinem Betreuer betreffen. Ähnlich dem Vorschlag der Kutzer-Kommission (die darüber hinaus auch eine Neuregelung der strafrechtlichen Aspekte vorschlug), sollte ein neuer § 1901a in das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) eingefügt werden, der die Patientenverfügung als Rechtsinstitut im Betreuungsrecht verankert:

„ § 1901a Patientenverfügungen

(1) Eine Patientenverfügung, in der der Betreute seinen Willen zu Untersuchungen seines Gesundheitszustandes, Heilbehandlungen oder ärztlichen Eingriffen für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit geäußert hat, gilt bei Einwilligungsunfähigkeit fort, falls keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Betreute die Patientenverfügung widerrufen hat.

(2) Der Betreuer hat den in einer Patientenverfügung geäußerten Willen des Betreuten zu beachten und die darin vom Betreuten getroffenen Entscheidungen durchzusetzen, soweit ihm dies zumutbar ist. Das gilt auch dann, wenn eine Erkrankung noch keinen tödlichen Verlauf genommen hat. Eine vom Betreuten getroffene Entscheidung liegt vor, wenn die Patientenverfügung eine Einwilligung oder Nichteinwilligung in bestimmte Untersuchungen des Gesundheitszustandes, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe enthält, die auf die konkrete Situation zutrifft. (3 ) Die Absätze 1 und 2 gelten auch für Bevollmächtigte.

Betreuer und Bevollmächtigter hätten demnach den in einer Patientenverfügung geäußerten Willen des Betreuten zu beachten und vom Betreuten getroffene Entscheidungen durchzusetzen, soweit dies zumutbar ist. Unzumutbarkeit liege dann vor, wenn der Durchsetzung örtliche, finanzielle oder versorgungstechnische Hindernisse entgegenstehen, die nur mit unverhältnismäßigem Aufwand zu beseitigen seien oder wenn der Patientenwille auf ein gesetzlich oder arztrechtlich verbotenes Tun gerichtet wäre. Dies wäre immer dann der Fall, wenn aktive Sterbehilfe, die Ermöglichung eines Suizids oder ärztliche Maßnahmen verfügt werden, die mit dem Berufsethos des Arztes (insbesondere wegen Missachtung der ärztlichen Indikation), nicht vereinbar sind. Es wurde keine Form für die Patientenverfügung vorgeschrieben, weil dies der Wahrung des Selbstbestimmungsrechts des Betroffenen nicht gerecht werde. Änderungen und Widerruf einer Patientenverfügung müssten jederzeit möglich sein und dürften nicht durch Formerfordernisse erschwert werden. Der Entwurf differenzierte für die Beachtlichkeit des in einer Patientenverfügung geäußerten Willens nicht nach dem Stadium einer Erkrankung. Ebenso wie der entscheidungsfähige Patient ohne Rücksicht auf die Schwere und das Stadium seiner Krankheit selbst entscheiden könne, welche ärztlichen Behandlungen an ihm vorgenommen werden dürfen, solle auch in einer Patientenverfügung im Voraus eine solche Entscheidung getroffen werden können. Damit wurde der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ widersprochen. In ihren Schlussfolgerungen und Empfehlungen zur Reichweite von Patientenverfügungen hatte die Enquete-Kommission empfohlen, im Rahmen einer gesetzlichen Regelung die Gültigkeit von Patientenverfügungen, die einen Behandlungsabbruch oder Wverzicht vorsehen, der zum Tode führen würde, auf Fallkonstellationen zu beschränken, in denen das Grundleiden irreversibel und trotz medizinischer Behandlung nach ärztlicher Erkenntnis zum Tode führen wird. Eine Pflicht zur Beratung mit Dritten, nach Vorbild der Schwangerenkonfliktberatung, wurde im Entwurf des BMJ nicht vorgesehen. Es wurde aber ein Vorschlag zur Regelung der Genehmigungspflicht des Vormundschaftsgerichts gemacht, der die unübersichtliche Situation nach der Entscheidung der XII. Zivilsenats vom 17. März 2003 regeln sollte.

Dazu sollte folgender neue § 1904 in das BGB eingeführt werden:

„ § 1904 Genehmigung des Vormundschaftsgerichts bei ärztlichen Maßnahmen

(1) Die Einwilligung des Betreuers in eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder einen ärztlichen Eingriff bedarf der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts, wenn die begründete Gefahr besteht, dass der Betreute auf Grund der Maßnahme stirbt oder einen schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet. Ohne die Genehmigung darf die Maßnahme nur durchgeführt werden, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist.

(2) Die Nichteinwilligung oder der Widerruf der Einwilligung des Betreuers in eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder einen ärztlichen Eingriff bedarf der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts, wenn die Maßnahme medizinisch angezeigt ist und die begründete Gefahr besteht, dass der Betreute auf Grund des Unterbleibens oder des Abbruchs der Maßnahme stirbt oder einen schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet.

(3) Eine Genehmigung nach Absatz 1 und 2 ist nicht erforderlich, wenn zwischen Betreuer und Arzt Einvernehmen darüber besteht, dass die Erteilung, die Nichterteilung oder der Widerruf der Einwilligung dem mutmaßlichen Willen des Patienten entspricht.

(4) Ein Bevollmächtigter kann in eine der in Absatz 1 Satz 1 oder Absatz 2 genannten Maßnahmen nur einwilligen, sie verweigern oder die Einwilligung widerrufen, wenn die Vollmacht diese Maßnahmen ausdrücklich umfasst und schriftlich erteilt ist. Die Genehmigung des Vormundschaftsgerichts ist nicht erforderlich.“

Die Stellung eines von dem Betroffenen selbst Bevollmächtigten sollte gestärkt werden, indem dessen Entscheidungen grundsätzlich nicht genehmigungsbedürftig sind. Der Entwurf begründete dies damit, dass die Vertretungsmacht eines Betreuers durch einen staatlichen Akt verliehen werde, die Vertretungsmacht eines Bevollmächtigten aber auf einem privatrechtlichen Vertretungsauftrag beruhe. Entscheidungen eines durch staatlichen Akt bestellten Betreuers in existentiellen Angelegenheiten des Betreuten seien durch die Einführung von Genehmigungserfordernissen umfassender zu kontrollieren als Entscheidungen eines Bevollmächtigten, den der Patient in Ausübung seiner grundrechtlich gewährleisteten Privatautonomie selbst beauftragt habe. Entscheidungen des Betreuers sollten nach dem Entwurf nur dann durch ein Vormundschaftsgericht überprüft werden, wenn zwischen Arzt und Betreuer keine Übereinstimmung über den mutmaßlichen, konkret behandlungsbezogenen Patientenwillen bestehe. Sofern beide – Arzt und Betreuer – jedoch einvernehmlich von dem gleichen Patientenwillen ausgingen, wäre dies nach ärztlichem Berufsrecht zu dokumentieren.

Die öffentliche Diskussion

In den letzten Jahrzehnten zeichnet sich in der deutschen Diskussion um Sterbewillige eine Entwicklung ab, wonach deren Selbstbestimmung zunehmend als grundrechtliche Freiheit begriffen wird. Im Spannungsfeld von individueller autonomer Selbstbestimmung und staatlicher Lebensschutzpflicht wurde das subjektive Recht des Einzelnen zunehmend gestärkt. Zum verfassungsrechtlichen Selbstbestimmungsrecht gehört auch das Recht, autonom über jede ärztliche Behandlung und ihren Abbruch entscheiden zu können. Dieser sich allmählich durchsetzenden Rechtsauffassung steht das geltende, ausnahmslose Verbot aktiver Sterbehilfe gegenüber. Es wird derzeit in Deutschland nur vereinzelt als verfassungswidrig und unverhältnismäßig angesehen. Gleichwohl ist der moralische Konsens bei der Beurteilung des § 216 StGB in den letzten Jahren brüchig geworden. Es gab eine Reihe von Vorschlägen für eine gesetzliche Änderung des § 216 Strafgesetzbuch (StGB), die allesamt das Ziel verfolgten, bestimmte Formen der aktiven Sterbehilfe zu erlauben oder wenigstens Straffreiheit zu gewähren. Hierbei stellt sich immer wieder die Frage, ob eine verfahrensrechtliche abgesicherte Freigabe der aktiven Sterbehilfe tatsächlich ein Verfügen eines Menschen über das Leben eines anderen Menschen sei. Handelt es sich in diesen Fällen wirklich um etwas grundsätzlich anderes als bei der straffreien Beihilfe zum Suizid? Die öffentliche Diskussion um die Abgrenzung von assistiertem Suizid und aktiver Sterbehilfe hat sich nach der Ankündigung des Vereins Dignitas vom Herbst 2005, in Hannover eine Dependance zu eröffnen, zugespitzt. Die niedersächsische Justizministerin forderte die Schaffung eines neuen Straftatbestandes zum Verbot der organisierten Beihilfe zum Suizid. Zur entsprechenden Bundesratsinitiative verweigerte der Koalitionspartner FDP jedoch die Zustimmung. Inzwischen gibt es aber einen gemeinsamen Gesetzesvorschlag der Länder Saarland, Thüringen und Hessen zur Einführung eines neuen § 217 ins StGB, der die geschäftsmäßige Vermittlung von Gelegenheiten zur Selbsttötung verbieten soll. Dieser Vorschlag ist beim gegenwärtigen Stand der Debatte nicht ohne weiteres kompromissfähig. An der Diskussion zu diesem Gesetzgebungsvorschlag wird sich der politische Stand ablesen lassen, inwiefern der freiverantwortliche Wille, aus dem Leben zu scheiden, respektiert wird.

Sterbehilfe ist auch ein Gebot der Praxis

Ein Tätigwerden des Gesetzgebers ist um so dringlicher, als die indirekte Sterbehilfe in der Praxis die häufigste Form von Sterbehilfe ist. Bestimmte als indirekte Sterbehilfe praktizierte Formen werden von den beteiligten Ärzten jedoch immer wieder für rechtlich unzulässig gehalten, da die Rechtslage oftmals nicht bekannt ist. So haben bei einer rheinland-pfälzischen Ärztebefragung nur 20 % die Beendigung einer Flüssigkeitszufuhr bei einer PEG, nur 39 % die Beendigung einer künstlichen Ernährung und nur 41 % die Beendigung einer künstlichen Beatmung für rechtlich zulässig angesehen. Auch in der Gesundheitsberichterstattung der Bundesregierung wurde festgestellt, dass unter Ärzten die Ansicht weit verbreitet sei, eine lebenserhaltende Maßnahme müsse – wenn mit ihr einmal begonnen worden sei – ohne Rücksicht auf den Willen des Patienten fortgesetzt werden, weil deren Abbruch Tötung durch aktives Tun und damit nach § 216 StGB strafbar sei. Solche Missverständnisse und die daraus resultierenden Leiden können nur durch klare gesetzliche Regeln beendet werden. Mit unserer Tagung wollen wir den Entwurf des BMJ in weiten Teilen unterstützen, darüber hinaus aber auch die notwendigen strafrechtlichen Regelungen einfordern. Vorschläge in diese Richtung haben wir bereits vorgelegt (siehe Mitteilungen Nr. 192, S. 16-18 und Nr. 191, Seite 12-14). In ähnlicher Richtung stellte auch der diesjährige Juristentag im September Vorschläge vor. Mit unserer Fachtagung wollen wir in die aktuelle Gesetzgebungsdiskussion eingreifen und dabei Grundrechtspositionen einfordern.

Rosemarie Will

Die aktuelle Ausgabe der vorgänge (Heft 175) ist dem Thema „Sterben und Selbstbestimmung“ gewidmet (s. Seite 23)

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