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Die rechtliche Seite des menschen­wür­digen Sterbens

16. Dezember 1978

Erwin Deutsch

aus: vorgänge 36 (Heft 6/1978), S. 74-79

Ist der Arzt zur Lebens­ver­län­ge­rung um jeden Preis verpflich­tet?

In dem Studentenlied Gaudeamus igitur heißt es in einer der Strophen: venit mors velociter. Ich habe mich oft gewundert, ob der tiefenpsychologische Hintergrund dieser Aussage eine Nah- oder Fernperspektive zulässt und, wenn es sich um eine Nahperspektive handelt, ob es als Beschwörung oder als Wunschdenken zu verstehen ist. Der Wunsch nach einem schnellen und schmerzlosen Tod ist uraltes Gedanken- und Wunschgut der Menschheit. Diese Grundhaltung stößt sich mit den Mitteln der modernen Medizin, die auf maschineller und medikamentöser Basis Wege entwickelt hat, den Tod hinauszuschieben. Es sind hier große Erfolge erzielt worden. Etwa bei Vergiftungen, bei Herzstillstand oder bei anaphylaktischem Schock. Jedoch werden diese Lebensverlängerungsmöglichkeiten nicht selten unterschiedslos auch bei den hoffnungslos terminal Kranken angewandt. Für uns besteht das Problem, ob der Arzt zur Anwendung derartig lebensverlängernder Mittel verpflichtet ist, und ob ihn der Patient, falls der Arzt dazu verpflichtet ist, aus dieser Pflicht, etwa durch eine Willenserklärung, entlassen kann.

1. Der tradierte rechtliche Zustand

Starrer rechtlicher Schutz des Lebens

Das deutsche Recht hat dem Schutz des Lebens stets einen hohen Stellenwert eingeräumt. Dieser Schutz wurde für so wichtig gehalten, dass er ausgesprochen starr ausgestaltet wurde. Im Strafgesetzbuch waren sowohl die Formen der vorsätzlichen Tötung als Mord, Totschlag und Tötung auf Verlangen als auch die fahrlässige Tötung strafbar. Aufgrund der Bestimmungen des zivilen Haftungsrechts wurde für vorsätzliche und fahrlässige Tötung sowie für manche Formen der Tötung aufgrund besonderer Gefährdung Schadensersatz geschuldet. Der Schutz des Lebens war im wesentlichen täter- und handlungsbezogen ausgestaltet. Das heißt: es wurde nicht nur die Tötung durch positives Tun, sondern auch die Nichtverhinderung des Eintritts des Todesfalls durch Unterlassen als Haftungsgrund angesehen, wenn die Möglichkeit zur Rettung bestand und eine Pflicht zur Rettung gegeben war. Diese Pflicht wurde nahestehenden Personen, etwa Ehegatten oder Familienangehörigen, aber auch Lehrern und anderen Aufsichtspersonen auferlegt.

Beihilfe zum Selbstmord straflos

Eine Herabsetzung der Strafdrohung für Totschlag enthielt seit altershehr § 216 StGB für den Fall der Tötung auf Verlangen. War jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so war die Strafe nur Gefängnis ab drei Jahren. Im Anschluss an diese ausdrückliche Bestimmung hat die deutsche Judikatur und Doktrin einen wesentlichen Bereich der Euthanasie straflos gelassen, nämlich die Beihilfe zum Selbstmord. Von dem Grundsatz aus, dass Selbstmord straflos sei, wurde gelehrt, dass auch die Beihilfe und Anstiftung dazu ebenso wenig strafbar sein könnten. Nur in dem Falle des vorsatzlos handelnden Selbstmörders sei es möglich, dass der Dritte, der ihn vorsätzlich zu der letalen Handlung bestimmt habe, als mittelbarer Täter haftet. Aus diesem Grunde hat auch ein nicht Gesetz gewordener Entwurf eines Strafgesetzbuchs aus den zwanziger Jahren den Tatbestand der Verleitung zum Selbstmord eingeführt. Das Ergebnis blieb, dass die deutsche Rechtsprechung und Lehre, wenn auch aus rechtsformalen Gründen, eine liberale Grundhaltung gegenüber der beihelfenden Euthanasie einnahm.

Rudolf Binding 1920: Anstiftung zum Selbstmord strafbar

Erstaunlicherweise hat einer der Vorkämpfer der Freigabe der Euthanasie in Deutschland, Rudolf Binding, in seinem 1920 erschienenen Werk Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens die Position eingenommen, dass auch die Anstiftung zum Selbstmord strafbar sein müsse. Durch diese extreme Auslegung der Totschlagsparagraphen wollte er offensichtlich den Gesetzgeber zur Freigabe der Euthanasie bewegen. Übrigens sticht das deutsche Recht mit diesem liberalen Grundzug vorteilhaft von vielen anderen Rechten der Erde ab, die heute noch die Beihilfe zum Selbstmord für strafbar erklären. Was der Grund dieser Bestrafung sein soll, kann man nur mutmaßen: wahrscheinlich steht dahinter der Verdacht, dass es sich gar nicht um einen Selbstmord gehandelt habe.

2. Die Undefinition des Todes

Neue medizi­ni­sche Möglich­keiten verlangen mehr rechtliche Flexi­bi­lität

Mit dem Siegeszug der maschinellen Medizin und den sich erweiternden Möglichkeiten der Organtransplantation blieb der starre Schutz des Lebens nicht länger haltbar. Soweit durch die neuen Möglichkeiten der Medizin das Leben über die bisherige Grenze hinausgeschoben wurde, so weit war der Schutz flexibler zu gestalten, sollte man nicht zu unangemessenen Ergebnissen gelangen.

Organtransplantation

Im Jahre 1968 veröffentlichte die Harvard Medical School ihre Regeln über die Organtransplantation. Danach war die Möglichkeit der Organentnahme gegeben, sobald das irreversible Koma eingesetzt hatte. Diese Richtlinien sind später auf dem Umweg über die Schweiz auch nach Deutschland gekommen. Hier hat man den Ausdruck irreversibles Koma mit Hirntod übersetzt. Auf diese Weise war es möglich, von dem vom Respirator am Leben erhaltenen Organspender ein Organ zu entnehmen, ohne mit den Bestimmungen über Totschlag und Körperverletzung in Konflikt zu geraten. Ja, man kann sagen, dass die Regelung der Organtransplantation im wesentlichen durch die Undefinition des Todes juristisch gangbar gemacht worden ist. Anstelle des hergebrachten Herz-Kreislauftodes trat nunmehr der Gehirntod.
Allerdings darf ich als Jurist hinzufügen, dass wir uns damit andere Schwierigkeiten eingehandelt haben. Soweit es bislang auf den Zeitpunkt des Todes ankam, etwa im Hinblick auf eine Erbschaft oder im Hinblick auf die Versicherung oder beamtenrechtliche Versorgung stellen wir weiterhin auf den Kreislauftod ab. So wird auch der Totenschein des Organspenders auf den Zeitpunkt des Abstellens der Maschine aus-gestellt; wenn Herz und Kreislauf zusammenbricht, dann ist auch der Organspender gestorben.

3. Neuer Ansatz: Keine lebensverlängernden Maßnahmen

Größerer Entschei­dungs­spiel­raum der Mediziner

Mit dem Hinausschieben des Todes durch die modernen medizinischen Mittel war der starre Ansatzpunkt des Schutzes des Lebens aufgegeben. Viele Mediziner fühlten sich nunmehr berechtigt, flexibler vorzugehen und terminal Kranken, bei denen eine Hoffnung auf Besserung nicht bestand, ja oft die Möglichkeit der Linderung nur beschränkt gegeben war, lebensverlängernde Maßnahmen vorzuenthalten. Es ist davon berichtet worden, dass in manchen Kliniken solche Patienten nur noch mit Wasser und den notwendigen Mineralen versorgt, im übrigen aber nicht weiter behandelt wurden. Umgekehrt hat man an manchen Kliniken alle Mittel der modernen medikamentösen und maschinellen Medizin eingesetzt, um das Leben des Patienten zu verlängern, mochte es auch gar nicht mehr von der Mehrheit der Menschen als lebenswert angesehen werden und mochte der Patient selber auch dieses Leben nicht mehr schätzen.

Wer entscheidet über lebens­ver­län­gernde Maßnahmen?

Auf dem Hintergrund dieser Praxis entstand zunächst die ethische und aus ihr heraus die juristische Fragestellung, wer über die Fortsetzung oder Einstellung von lebensverlängernden Maßnahmen zu entscheiden hat: der Patient, der Arzt oder ein Ausschuss der Klinik. Vorausgesetzt bei dieser Frage ist bereits, dass nicht alle Möglichkeiten der Medizin zur Verlängerung des Lebens ausgeschöpft werden müssen. Es ist also sowohl ethisch als auch juristisch anerkannt, dass nicht jede Lebensverlängerung einen Wert darstellt, sowie dass der Patient ein rechtlich und moralisch anerkanntes Selbstbestimmungsrecht hat, ob seine sinkenden Kräfte noch medizinisch unterstützt werden dürfen oder nicht.

4. Willensabhängige Sterbehilfe

Passive und aktive Euthanasie

Auszugehen ist davon, dass jedermann die Möglichkeit und das Recht hat, sein Leben zu beenden. Auch ist niemand gezwungen, wegen einer Krankheit ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen oder eine Klinik aufzusuchen. Von hier aus lässt sich zwingend ableiten, dass der Arzt dem deutlichen Wunsch des Patienten, lebensverlängernde Maßnahmen nicht mehr einzusetzen, folgen sollte. Es handelt sich hierbei um das Problem der sogenannten passiven Sterbehilfe; das heißt, dass das Sterben dadurch erleichtert wird, dass dem Patienten eine medizinische Unterstützung nicht mehr oder nur noch in beschränktem Maße gewährt wird. Rechtlich ist die aktive Euthanasie, dh die Verkürzung der Lebensdauer des Patienten durch eine aktive Maßnahme, etwa durch die Herbeiführung einer Luftembolie oder einer Morphiumvergiftung nicht zulässig. Freilich ist auch diese Aussage nicht absolut.

Gebotene Sterbehilfe

Es gibt hier die Fallgruppen der sogenannten gebotenen Sterbehilfe. Vor allem in den Fällen unerträglicher Schmerzen oder Luftnot können medikamentöse Maßnahmen angezeigt sein, um diese gravierenden Beschwerden zu lindern. Wenn aber diese Maßnahmen zu gleicher Zeit die Lebenserwartung verringern, ja sogar drastisch herabsetzen, können sie zulässig und gerechtfertigt sein. Das ergibt sich aus dem Prinzip des Notstandes, der im geltenden Recht anerkannt ist.

5. Willenstunabhängige Sterbehilfe

Die Linde­rungs­pflicht der Arztes

Grundsätzlich hat der Arzt die Pflicht zur Heilung, Vorbeugung und die Linderung. Diese Pflichten sind allerdings in der Extremsituation des sterbenden und unheilbaren Kranken modifiziert. Naturgemäß kommt hier eine Vorbeugung nicht in Betracht und der Gedanke der Heilung ist ausgeschlossen. Im Vordergrund der Maßnahmen des Arztes hat daher die Linderung zu stehen. Die Linderungspflicht des Arztes erscheint hier als Erhaltung der Lebensqualität, wenigstens in reduzierter Form. Der Lebensqualität ist der Vorzug auch vor kurzfristiger Lebensverlängerung unter erheblichem Leiden zu geben (somatische Lebensqualität).

Aktive Euthanasie rechtlich noch nicht anerkannt

Die willensundabhängige Sterbehilfe ist freilich nach geltendem Recht auf die passiven Maßnahmen, dh. auf den Entzug medizinisch wirksamer verlängernder Mittel beschränkt. Eine aktive Euthanasie erkennen wir insofern noch nicht an. Um sie anzuerkennen, bedarf es einer deutlichen Umschreibung der zutreffenden Fälle und einer Änderung des Bewusstseins der Öffentlichkeit, ja vielleicht sogar der gesetzlichen Lage. Vergessen wir nicht, dass es noch keine lange Zeit her ist, dass die letzten am Euthanasieprogramm der nationalsozialistischen Zeit Beteiligten in Hessische Haft eingeliefert worden sind. Manche dieser Strafen wird noch heute vollstreckt.
Die willensunabhängige Sterbehilfe könnte erleichtert werden, wenn ein Ausschuss dem behandelnden Arzt zur Seite steht. Auf diese Weise könnte das Absetzen medizinischer Maßnahmen als passive Sterbehilfe und vielleicht sogar die Beschleunigung des Todes durch aktive medizinische Maßnahmen in Grenzfällen der Schmerzlinderung oder des Wunsches nach einem humanen Sterben ermöglicht werden.

6. Das Patienten – Testament

Kalifor­nien: Natural Death Act

In Kalifornien ist im Jahre 1977 der sogenannte Natura! Death Act inkraftgetreten. Danach kann ein terminal Kranker, aber auch ein noch nicht Kranker einen living will errichten, worin er den Arzt anweist, im Falle seiner tödlichen Erkrankung lebensverlängernde Maßnahmen nicht einzusetzen. Sofern der Patient schon schwer erkrankt ist, ist dieser living will bindend. Will der Arzt der Anweisung nicht folgen, so Hat er den Patienten an einen anderen Arzt, der der Weisung Folge leisten wird, zu überweisen. Die Vorenthaltung medizinischer Maßnahmen gilt weder als Tötung, noch wirkt sie sich versicherungsrechtlich als Selbstmord aus. Der von einem Gesunden errichtete living will freilich ist nur für einige Jahre gültig und auch selbst dann nicht einmal für den behandelnden Arzt endgültig bindend. Dieser hat den living will des Gesunden vielmehr nur bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen.

Begrenzte Bedeutung des Patien­ten­-Tes­ta­ments

Dieses Patienten-Testament hat in Kalifornien bislang noch erstaunlich wenig Anklang gefunden; Es gibt relativ wenige Fälle, in denen danach gehandelt worden ist. Insgesamt bedeutet auch dieses Gesetz nichts anderes, als dass die gegenwärtige rechtliche Regelung auf ein formelhaftes Werk zugeschnitten wird, das der Patient genau ausfüllen muss. Insgesamt bringt also das Patienten-Testament keinen erheblichen Fortschritt im Hinblick auf eine humane Sterbehilfe.

7. Die rechtliche Ermöglichung eines humanen Sterbens

Qualität des Lebens hat Vorrang vor Länge des Lebens

Das Verbot der Tötung und Körperverletzung dient der Erhaltung des Lebens und der Lebensqualität. In der Situation des terminal Kranken haben diese Werte nur noch eine relative Bedeutung. Insbesondere gewinnt die Qualität des Lebens den Vorrang gegenüber der Länge des Lebens. Der Schwerkranke, bei dem eine vitale Funktion (Atmung, Herz, Kreislauf, zentrales Nervensystem) gestört ist, muss die Möglichkeit der Sterbehilfe haben.

Der Arzt und der Wille des Patienten

Grundsätzlich ist der Arzt an den Willen des Patienten, sei er schriftlich, Der Arzt und der sei er mündlich geäußert, gebunden, soweit es um die Vorenthaltung Wille des Patienten lebensverlängernder Maßnahmen geht. Zu aktiver Euthanasie ist der Arzt auch auf Wunsch des Patienten nach der gegenwärtigen Rechtssituation nur gehalten, wenn es sich um die gebotene Sterbehilfe handelt, dh wenn die Erleichterung unerträglicher Schmerzen oder anderer unerträglicher Beschwernisse nur erfolgen kann, wenn durch die Behandlung zu gleicher Zeit das Leben verkürzt wird. Die Gesetzgebung bleibt aufgerufen, dem Arzt, vielleicht durch Beistand eines Ausschusses, eine freiere Hand zu gewähren bei der Hilfe zu einem humanen Sterben auch bei dem Patienten, der nicht mehr in der Lage ist, seinen Willen zu äußern. Videant consules!

Literaturhinweise

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